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# taz.de -- Neues Album von Palmbomen: Ästhetiken der Kindheit
> Der holländische Deephouse-Produzent Palmbomen errichtet auf seinem Album
> „Memories of Cindy“ einen Tanzboden im Schlafzimmer.
Bild: Meister der betont langsam schlingernden Musik: Kai Hugo alias Palmbomen
Wer auch immer die Musik des niederländischen Produzenten Palmbomen mit dem
denkfaulen Etikett „Outsider-House“ beschreibt, versucht damit zu
vertuschen, dass House ursprünglich einmal die Musik der schwulen schwarzen
Community in den US-Großstädten Chicago und Detroit war; Wurzeln, die man
niemals kleinreden oder gar verleugnen sollte. Das weiß auch Kai Hugo, ein
hübscher weißer Mann um die 30, der zwischen Rotterdam und Los Angeles
pendelt – also eher der Typ Hipster als ein Außenseiter.
Auch wenn sein betont langsamer, [1][maschinenstotternder House-Sound] mit
Vorliebe HörerInnen anspricht, die ihre Beats eher im eigenen Schlafzimmer
konsumieren als in der zentralen Tanzschaffe des urbanen Nachtlebens.
Intimität, die seine Arbeit bestimmt, seit er sich unter dem Namen
Palmbomen – Palmenbaum – zu einem utopischem, leicht angekitschten Sound
bekennt.
Erste Aufmerksamkeit über die niederländische Szene hinaus erhielt sein
Projekt Palmbomen 2010 durch den Auftritt auf einer Compilation des
französischen Mode- und Musiklabels Kitsuné – im kurzen Sommer des
Chillwave also mit Künstlerkollegen wie Neon Indian oder Washed Out, in
deren Umfeld die balearischen Disco-Vibes und Italo-Anklänge des viel
fliegenden Holländers prima harmonierten.
## Hauntologische Angelegenheit
Hugos meisterhaftes neues Album, „Palmbomen II“ – als „Palmbomen I“
bezeichnet der 28-Jährige inzwischen sein Liveprojekt –, ist allerdings
eine wirklich tolle hauntologische Angelegenheit geworden. [2][„Memories of
Cindy]“, ursprünglich in Form von vier EPs veröffentlicht, die nun als
Doppelalbum gebündelt zugänglich gemacht werden, funktioniert als
Konzeptalbum – was eher selten ist im House-Genre. Der fiktive titelgebende
Charakter Cindy entstand im Kontext seiner künstlerischen Idee, obskure
Nebencharaktere der US-Kultfernsehserie „Akte X“ als Protagonisten
auszugestalten.
„Ich komponierte beim [3][Binge-Watching] und machte Songs, die auf den
Biografien dieser Protagonisten fußen“, erklärt Kai Hugo. „Aber
irgendwie bleiben diese Biografien zunächst vage. Also erfand ich Alibis
für sie und drehte Videos, in denen die Charaktere zum Leben erweckt
wurden. Einer dieser Charaktere war Cindy Savalas.“ Die Lebenswelt jener
„Memories of Cindy“ ist nun detailliert erzählt – zwar sind die meisten
Tracks des Albums instrumental, aber in Musik und begleitenden Videos wird
diesmal eine ganze Stadt gezeichnet, die sich mit Cindy auseinandersetzt –
und ihrem tödlichen Unfall.
## Wortwiederholungen
Und: „Es gibt Vocals, aber sie sind reduziert auf die Essenz eines Songs.
Es geht nur um die Wiederholung einfacher Worte, die viel emotionaler
wirken, als komplexe Songtexte das leisten könnten“ – ein Stilmittel, das
er von seinen Vorbildern übernahm: Slowdive, jener Shoegaze-Band, die in
den frühen Neunzigern das poetische Rauschen von Verstärkern der
Geschichtslosigkeit nach dem Ende des Sozialismus zum Stilprinzip erhob.
Über dem Sound des Albums [4][„Memories of Cindy“] liegt die Ästhetik
dieses Jahrzehnts wie ein dichter Schleier. „Es gibt da eine praktische
Seite: Equipment von damals ist billig. Synthies aus den 70er und 80er
Jahren sind inzwischen umkultet und unbezahlbar, aber niemand hält die
Produkte der 90er für wertvoll. Sie sind aus der Mode, gelten als
altmodisch, es gibt noch keine Nostalgie, die sie teuer macht.“
Aber es geht Hugo auch um die Wiederentdeckung von verdrängten Aspekten
dieser Vergangenheit. „Ich mag es, mit den Ängsten und Wünschen zu spielen,
die damals real waren und heute völlig absurd erscheinen. Darum auch diese
Fake-Commercials, die ich drehe, in denen ich mich darüber lustig mache –
und über diesen schamlosen oberflächlichen Kapitalismus, der heute so
unglaublich dated wirkt.“
Insofern ist „Cindy“ eine sonnig wirkende, zugängliche, aber im Kern nicht
weniger düstere Schwester des Albums „Replica“ von Oneothrix Point Never
(2011), das seine eigenwillige, eisige Soundwelt nur von Samples aus
Werbeclips jenes Jahrzehnts zusammensetzt.
Pop, so konstatierte der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher, sei im
21. Jahrhundert auf der Suche nach der verlorenen, vom Kapitalismus bewusst
zerfressenen Utopie. Auch Palmbomen sucht in den Gespenstern des Materials
die Spuren, die der Glaube an eine lebenswerte Zukunft kurz vor deren
Aufkündigung in nie endende kapitalistische Feedbackschleifen noch
hineingebrannt hat.
Kai Hugo macht das in wunderbaren und traumschönen Housetracks, die nie mit
einem pseudodiffusen Außenseitertum kokettieren, sondern auf „Memories of
Cindy“ die verschiedenen Ästhetiken des Jahrzehnts seiner Kindheit
produktiv machen – einzuordnen am besten unter: „Balearic Shoegaze“.
5 Mar 2018
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=wDvEc5troQo
[2] https://www.youtube.com/watch?v=S-h2HgMi1-4
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Binge_Watching
[4] https://www.youtube.com/watch?v=ebxfrJJ_S1k
## AUTOREN
Steffen Greiner
## TAGS
Chicago
Jazz
Detroit
House
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