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# taz.de -- Neues Album von Autechre: Glückliche Menschen
> Das britische Elektronikduo Autechre veröffentlicht sein vierstündiges
> Werk „elseq 1–5“ im Netz. Manche Stücke sind zu lang für eine Platte.
Bild: Die Menschen hinter Autechre: Rob Brown (links) und Sean Booth
Über die Geschichte des britischen Elektronikduos Autechre werden zwei
Versionen erzählt. In der einen sprengen Autechre permanent Grenzen. Sie
sind sozialisiert auf dem Dancefloor, haben aber die Sounds des
Post-Industrial in ihre Sampler geladen. Damit haben sie die Fans von
funktionalem Techno mit denen der nur am Klang interessierten Ästhetik der
elektro-akustischen Nachkriegsavantgarde zusammengebracht. Das sind die
Autechre, die im Hintergrund stilbildend für den Pop der späten Neunziger
waren: Künstler, die dafür verantwortlich sind, dass Radiohead ihre
melancholischen Indiegitarren um Synthesizer und Sampler ergänzt haben.
In der anderen Version sind Autechre zwei B-Boys: Jugendfreunde aus
Nordengland, die sich über ihre Begeisterung für HipHop und Graffiti
kennengelernt haben und deren Leben dadurch auf den Kopf gestellt wurde.
Das ist die Version, die Autechre selbst erzählen. „Als wir anfingen, haben
wir in unserem kleinen Studio gesessen, und gedacht, wie absurd es wäre,
dass sich jemand diese Musik anhört“, erzählt Rob Booth. Gemeinsam mit Sean
Brown hat er Autechre 1987 in der Nähe von Manchester gegründet.
Elf Alben haben sie seitdem aufgenommen, dazu unzählige EPs und Remixe für
andere Künstler. Gerade ist wieder eines dieser Alben erschienen: „elseq
1–5“ heißt es. Vier Stunden und zehn Minuten Musik, die ohne Vorankündigu…
[1][im Netz veröffentlicht] wurde. Sie wird niemals auf Vinyl erscheinen –
manche Stücke sind zu lang, um auf eine Plattenseite gepresst zu werden.
„Jede Generation muss sich eine eigene Vorstellung davon machen, was ein
Album ist“, meint Rob Booth. „Uns ist die Erzählung am Wichtigsten, das
Tonträgerformat ist da eher eine Limitierung.“
„elseq 1–5“ ist in fünf Kapitel unterteilt, die mit jeweils 40 bis 50
Minuten die klassische Länge eines Albums besitzen. Es ist eine
Erinnerungsspirale, der die Signifikanten des Erinnerns fehlen: die
Echoeffekte und im Äther verschwindenden Stimmsamples. Stattdessen graben
sich Autechre wie Maulwürfe durch die eigene Soundgeschichte, die immer
wieder neu kontextualisiert wird. An einer Stelle taucht ein klassischer
Boom-Bap-Beat auf, der sich selbst zermalmt. Kurz danach verlieren sich die
beiden in einem 30-minütigen Ambientstück, dessen dräuende Filtersounds
immer wieder verschoben werden, bis schließlich ein hübsch verhakelter Beat
die Hände in die Luft werfen lässt. Schließlich laden sie zum musikalischen
Culture-Clash, wenn albern-euphorische Acid-House-Synths so in einen
Strudel an Schlieren geraten, als hätten die Begründer der Musique Concrète
selbst Hand an die Bandmaschine gelegt.
## Intelligent Dance Music
„Als Musiker sind wir eher selbstreferenziell. Auch bei anderen Künstlern
mögen wir, wenn sie sich ein eigenes Universum erschaffen“, erklärt Sean
Booth und nennt als Beispiel einen HipHop-Produzenten aus den mittleren
Achtzigern. „Der New Yorker Kurtis Khaleel hat sich als Mantronix Schritt
für Schritt in seiner Musik entfaltet.“ Immer wieder sprechen Brown und
Booth über Künstlerkollegen, die ein Genre mitformuliert haben und
schließlich das Genre hinter sich gelassen haben, Musiker wie den
Acid-House-DJ Baby Ford aus Manchester oder den Kölner Technoproduzenten
Mike Ink. „Sie strahlen auf eine interessante Art aus, dass sie Kontrolle
über ihre Musik besitzen“, sagt Rob Brown. Auch Autechre haben mit ihren
frühen Alben ein Genre mitformuliert – Intelligent Dance Music.
Das ist 20 Jahre und acht Werke her, aber noch heute verfolgt sie die
Erwartung mancher Fans, ihr Frühwerk zu reiterieren. Dabei tun Autechre
genau dies. Ihre frühen Tracks waren ein Versuch, die Verfremdungserfahrung
von frühem Elektro und HipHop mit den eigenen Mitteln zu wiederholen. Das
tun sie heute noch, nur dass sich die Mittel geändert haben. Aus Sampler
und Mehrspurtonmaschine ist eine Softwareumgebung geworden, in der Autechre
an ihren eigenen Klangerzeugern bauen. „Wir haben darin ein komplettes
Studio digital nachgebaut: Synthesizer, Sampler, Klangerzeuger“, erzählt
Sean Brown. „Letztlich ist es ein großer Ordner mit Dateien, die ich Rob
per Mail schicke. Er schickt mir dann seine Fassung zurück.“
Zu Beginn der Nullerjahre hatten sich Autechre schon einmal der Software
verschrieben und ihre Musik durch halbautomatische Programme generieren
lassen. Schnell wurde klar, dass sie sich dabei verrannt hatten, ihre
außerweltlichen Soundcollagen hatten den Groove verloren. „Damals dachten
wir, es gebe keinen Unterschied zwischen Programmieren und Musikmachen“,
sagt Sean Booth. „Aber ich bin nur ein B-Boy Kid aus Middleton, ich habe
gar nicht genug Disziplin, um ein guter Programmierer zu sein.“ Heute
herrscht Arbeitsteilung bei Autechre: Tagsüber wird an der Software
gearbeitet, nachts damit Musik gemacht. „Mit einem Patch kann man viel mehr
Audiomaterial generieren als in Echtzeit“, erzählt Rob Brown. „Deshalb
haben wir so viel Material.“
Autechre machen vor, wie Musik klingen kann, die im Überfluss des
Maschinenmöglichen entsteht. In der Musik selbst spielt die Maschine
allerdings kaum noch eine Rolle. Die Historisierung von Dancefloormusik
hat dazu geführt, dass das analoge Originalequipment aus den Achtzigern
inzwischen fetischisiert wird. Bei Autechre ist nicht der Maschinenpark und
sein Besitzer entscheidend, sondern der Maschinist. „Wir schreiben uns
selbst in die Software ein – unseren Geschmack und unsere Vorlieben“,
erklärt Sean Booth.
Um dieser Materialfülle Herr zu werden, haben Autechre gemeinsam mit ihrem
Label Warp im letzten Herbst einen eigenen Online-Store ins Leben gerufen.
„Dort können wir unsere Musik eine Woche, nachdem wir sie komponiert haben,
veröffentlichen“, erzählt ein enthusiastischer Sean Booth. „Labels reden …
Moment von einem Jahr Vorlauf bis zur Veröffentlichung. So muss sich Prince
gefühlt haben, als seine Plattenfirma wollte, dass er Alben promotet, die
er Jahre zuvor aufgenommen hatte.“ Auch Prince hortete unveröffentlichte
Musik in einem ausufernden Archiv und hat zuletzt nur veröffentlicht, was
er für hörenswert befand – genau wie Autechre.
Vielleicht sind Rob Brown und Sean Booth wirklich so etwas wie jene
Electronica-Genies, die Journalisten gerne aus ihnen machen. Vielleicht
sind sie aber auch nur zwei B-Boys auf der Suche nach dem nächsten Kick.
Auf jeden Fall muss man sie sich als glückliche Menschen vorstellen.
10 Jun 2016
## LINKS
[1] https://autechre.bleepstores.com/release/73330-autechre-elseq-15
## AUTOREN
Christian Werthschulte
## TAGS
elektronische Musik
Henrietta Smith-Rolla
Terrorismus
Zukunft
Musik
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