# taz.de -- Neuer Film von Roy Andersson: Über den apokalyptischen Stillstand | |
> Kritiker sind begeistert von „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt | |
> über das Leben nach“. Der komplexe Film beweist Roy Anderssons Genie. | |
Bild: Leichenblass, mit Vampirzähnen im Mund und erfolglos: Sam und Jonathan v… | |
Zur Unterhaltungsbranche zu gehören, ist der ewige Fluch des | |
Autorenfilmers. Heute mehr denn je ist das Kino zu einem | |
Entertainment-Synonym geworden. In Zeiten, in denen es per se wenig zu | |
lachen gibt, steigen die Erwartungen, vom und im Kino unterhalten zu werden | |
(zumindest deutsche Verleihprogramme spiegeln das so vor), was – warum auch | |
immer – oft gleichbedeutend zu sein scheint mit: endlich lachen zu können. | |
Der Running Gag in Roy Anderssons von der internationalen Filmkritik viel | |
bejubeltem neuem Kunstfilm „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über | |
das Leben nach“, der nach „Songs from the Second Floor“ (2000) und „Das | |
jüngste Gewitter“ (2007) den Abschluss seiner Trilogie über das menschliche | |
Wesen bildet und bei dem Filmfestival in Venedig den Goldenen Löwen gewann, | |
nimmt darauf indirekt Bezug. | |
Sam und Jonathan, die beiden Vertreter, die das lose Gefüge einzelner | |
Episoden zusammen halten, indem sie quer durch die Figurenlandschaft des | |
Films stets dieselben drei Scherzartikel (Vampirzähne, Lachsack, Gummimaske | |
von „Gevatter Einzahn“) aus stets demselben Uraltkoffer holen und diese mit | |
stets denselben Vorführeffekten und Anpreisungsformeln feilbieten, sind bei | |
ihrer Verkaufs-Mission maximal erfolglos. | |
Ihr Dasein fristen sie in einem gefängnisähnlichen Heim (jeder in seiner | |
Zelle), ihr Besitz ist spärlich, ein altes Grammophon, die alten Lieder. | |
Ihr Motto „Wir möchten Ihnen helfen, Spaß zu haben“ können sie vor lauter | |
Jenseitigkeit am Ende nur noch verzweifelt weinend vorbringen. Künstlerpech | |
und doch menschlich, allzu menschlich. | |
## Achselzuckende Schweden ohne Miene | |
Wie unlustig der Running Gag eigentlich ist, zeigt sich daran, dass nicht | |
nur die potenziellen Käufer (innerlich achselzuckende Schweden, die | |
naturgemäß keine Miene verziehen), sondern auch wir, das Meta-Zielpublikum, | |
keinen Gedanken daran verschwenden, dass es hier irgendwas zu lachen gäbe. | |
Und dann stellt sich das ein, was diesen Film besonders macht, nämlich die | |
(beinahe in jeder der insgesamt 39 Szenen gebotene) Möglichkeit, die | |
präzise arrangierten Tableau-Leben dieser skurrilen, zu Zombiepuppen | |
weißgeschminkten und im abgekratzten Schimmer manierierter Künstlichkeit | |
erstarrten Leinwandhelden zu verlassen und über das Kino und unsere | |
entsprechende Erwartungshaltung nachzudenken. Wie die Taube auf dem Zweig. | |
So sieht sie aus, hören wir Roy Andersson dann gelassen-sarkastisch | |
flüstern, unsere Medienwelt zwischen Avatar-Stars und Sitcom, unsere | |
Wahlmöglichkeit zwischen Maschinen-Action-Wahn und Lachkonserven-Irrsinn. | |
Keine Action, kein Lachen weit und breit. | |
Anderssons Kino bestätigt sich nicht nur stilistisch selbst – und dieser | |
Wiedererkennungs- und Wiedergängereffekt hat, das sei kritisch angemerkt, | |
etwas durchaus Lähmendes an sich (ein leichter | |
„Marktlücken“-Ästhetik-Verdacht stellt sich ein) –, es nimmt – und da… | |
groß und von Weltformat – die Spuren Kafkas und Becketts auf, um durch | |
maximale Stilisierung zu einem maximalen Realismus zu gelangen. | |
## Warten auf den Konsum | |
Würde unser Vertreter-Duo, das – dem Selbstvermarktungszwang ausgeliefert – | |
nicht auf Godot, sondern auf den Konsum und das Lachen der anderen wartet, | |
eines Morgens als Käfer erwachen wie Gregor Samsa – niemanden würde das | |
sonderlich wundern („Du läufst so komisch, wie ein Zombie“, sagt Sam | |
(Samuel B./Samsa) über Jonathan, und der antwortet beleidigt: „Ist gar | |
nicht wahr.“). Und so wundern wir uns auch nicht über das spielerisch | |
funktionierende Oszillieren zwischen Realem und Phantastischem, das den | |
gesamten Film durchzieht. | |
Schon das Eröffnungstableau ist grauenerregend – zwei Menschen stehen da | |
wie eingefroren, die Frau im Hintergrund mit ihren Tüten zum täglichen | |
Einkaufen bereit, der Mann auf ein groteskes Vitrinen-Horrorwesen starrend. | |
Die Welt als Naturkammer, der Mensch als Zombie. | |
Die drei darauf folgenden Eingangsszenen, in denen „der Tod die Menschen | |
besucht“, skizzieren gleichermaßen das stilistische und thematische | |
Panorama eines sehr zum Universalen taugenden typisch schwedischen | |
Durchschnittsbürgeralltags: Wie die drei alt gewordenen Geschwister ihrer | |
sterbenden Mutter nach mühsamen Überredungsversuchen letztlich die | |
Handtasche entreißen wollen, ist graueste sozialdemokratische Tristesse | |
gepaart mit der Unvermeidbarkeit menschlicher Animositäten und der kalten | |
Brutalität des Homo oeconomicus. | |
So visuell einschneidend Anderssons artifiziell inszenierte Natürlichkeit | |
auch ist, die massiv trostlosen Wiederholungsschleifen, in die hier alles | |
eingespannt scheint (am stärksten spürbar in der schon seine früheren Filme | |
prägenden charakteristischen Leitmotivmusik), führen zu einem gewissen | |
Ermüdungseffekt. Der Satz „Es freut mich zu hören, dass es dir gut geht“ | |
zieht sich bauchrednerisch durch das häufig nur noch miteinander | |
telefonierende, das heißt auf Distanz kommunizierende, Figurenspektrum. | |
Eine Putzfrau rezitiert ihn, während sie einsam einen Fußboden schrubbt. | |
Eine Laborantin spricht ihn ganz nüchtern, während am anderen Rand des | |
Bildes ein Affe in einen irren Elektroschockfolterapparat eingespannt ist | |
(Motto: „Homo sapiens“). Das ist dann recht dick aufgetragen, wird aber | |
gerade bei denen, die den Film als Filmkomödie sehen wollen, vielleicht gut | |
ankommen. | |
## Ein braun-grau-ausgebleichter Anachronismus | |
Konzeptionell überzeugend wird der Film, dessen Titel angeblich an ein | |
Detail in Pieter Brueghels „Jäger im Schnee“ angelehnt ist (wie oft war | |
dieses Bild eigentlich schon Anlass für filmreflexive Melancholie?), an | |
einem anderen Punkt. Nicht da, wo ein braun-grau-ausgebleichter | |
Anachronismus den Menschen als vermeintliches Ausschusswesen fast vorführt, | |
sondern beim Versuch, den apokalyptischen Stillstand dieses unseres | |
heutigen Alltags mit konkreten historischen Szenen verschmelzen zu lassen. | |
Die Geschichte bricht da mit einer Plötzlichkeit ins Dasein, dass man gar | |
nicht anders kann als zu staunen. Ein Mann, der sein Leben lang offenbar | |
immer denselben Platz in seiner Lieblingskneipe einnimmt, wird | |
zurückversetzt in jene Zeit, in der die Schankwirtin den hungernden | |
Matrosen des Zweiten Weltkriegs Schnaps spendiert. Spontaner Chorgesang vom | |
Feinsten. | |
Auch in einer zweiten Szene ist es ein Trinkgelage – der Skandinavier und | |
der Alkohol? –, in das die geballte Faust der Historie einbricht. Karl | |
XII., jener Monarch, der seinen absoluten Machtanspruch durch | |
Selbstkrönung, flegelhafte Brutalität und überfallartige Akte tyrannischer | |
Grausamkeit unterstrich, reitet da plötzlich auf seinem Pferd durch die | |
Eingangstür, nachdem seine Gardisten die Bar bereits von Frauen und Alkohol | |
gereinigt haben (seine diesbezügliche Abstinenz war ebenfalls legendär). | |
Karl XII., so das Sujet, trinkt noch einen Schluck Mineralwasser (gereicht | |
von einem schönen, filigranen Jüngling des frühen 21. Jahrhunderts) und | |
bricht auf in die Schlacht um Poltawa, die, wie die Geschichtsbücher | |
wissen, das Ende der Vormachtstellung Schwedens im Norden Europas | |
einläutete. | |
## Unterdrückte und keine lächerlichen Menschen | |
Schließlich ist es das grandiose Schlussbild, das den Film – wieder in der | |
geniestreichartigen Herstellung einer fiktiven historischen Szene – in eine | |
andere Dimension versetzt auch in Bezug auf den Kinokontext unserer Zeit). | |
Britische Kolonialisten treiben hier Sklaven in einen kupfernen Zylinder, | |
der, sich langsam drehend, seine Opfer zermalmt. | |
In den Flammen, die von den Soldaten als Spektakel wahrgenommen werden, dem | |
Publikum jedoch den Schauer von KZ-Hochofen-Reminiszenzen nicht ersparen, | |
geht die Menschheit unter. Anderssons Film handelt vom unterdrückten | |
Menschen, nicht vom lächerlichen. | |
1 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Barbara Wurm | |
## TAGS | |
Kunstfilm | |
Skandinavien | |
Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig | |
Kino | |
Erotikfilm | |
Öffentlich-Rechtliche | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Roy Anderssons „Über die Unendlichkeit“: Triste Blicke, schlaffe Körper | |
Ein Pastor, der an Gott zweifelt: Regisseur Roy Andersson bleibt auch im | |
neuen Spielfilm „Über die Unendlichkeit“ seinem Langsamkeitsstil treu. | |
Erotikfilm „Love“ von Gaspar Noé: Liebe machen in 3-D | |
Gaspar Noé nutzt in seinem Film „Love“ so ziemlich alle Möglichkeiten der | |
Darstellung sentimentaler Sexualität. Nur ist alles furchtbar austauschbar. | |
Samstagsfilm in der ARD: Die Friedensbertha und das Dynamit | |
„Eine Liebe für den Frieden“ erzählt von der Brieffreundschaft des | |
Nobelpreis-Stifters Alfred Nobel mit der Friedensaktivistin Bertha von | |
Suttner. | |
Kino-Komödie "Mammuth": Schmerzhaft lange Leitung | |
Massiger Mann mit schwerer Maschine - in dem Roadmovie "Mammuth" fährt | |
Gérard Deardieu in der Figur des einfachen Serge noch einmal die Stationen | |
seines Lebens ab. | |
The Stooges in der Hall of Fame: Der letzte Rocker | |
ABBA, Genesis und The Stooges sind in die Rock and Roll Hall of Fame | |
aufgenommen worden. Sänger Iggy Pop bedankte sich mit Stinkefinger. | |
Neuer Roy Anderson-Film: Mosaik des Morbiden | |
Samuel Beckett meets Monty Python: In Roy Andersons Film "Das jüngste | |
Gewitter" führen allerhand Außenseiter zu Dixielandjazz ihre Eigenarten | |
vor. |