# taz.de -- Nachruf auf Richard von Weizsäcker: So viel mehr als eine Rede | |
> Im Gedächtnis bleibt der „Tag der Befreiung“. Der Altbundespräsident war | |
> vielschichtig und streitbar – und wird über seinen Tod hinaus wirken. | |
Bild: Richard von Weizsäcker im November 2014 in Hamburg. | |
Kaum jemanden haben die Deutschen so respektiert, ja sogar verehrt wie | |
Richard von Weizsäcker. Ihm ist gelungen, was viele Politiker sich | |
wünschen, aber nur sehr wenige erreichen: Über Jahrzehnte hinweg galt er | |
als unangefochtene moralische Instanz im Land. Das verrät allerdings | |
mindestens ebenso viel über das Selbstbild der Deutschen wie über den | |
ehemaligen Bundespräsidenten, der am Samstag im Alter von 94 Jahren in | |
Berlin gestorben ist. | |
Richard von Weizsäcker hatte in seinem Leben viele politische Ämter inne. | |
Er war Abgeordneter des Bundestages und dessen Vizepräsident, er war Leiter | |
der Grundsatzkommission der CDU, Regierender Bürgermeister von Berlin und | |
Staatsoberhaupt. Über seinen Tod hinaus im Gedächtnis bleiben wird er | |
jedoch nicht mit einer Entscheidung oder entschlossenem Handeln im | |
Angesicht einer Kontroverse. Sondern mit einer Rede. | |
Am 40. Jahrestag des Kriegsendes, am 8. Mai 1985, fand der damalige | |
Bundespräsident vor dem westdeutschen Parlament jene Worte, die bis heute | |
über Grenzen der politischen Lager hinweg als erlösend empfunden werden: | |
Der Tag sei für die Deutschen kein Grund zum Feiern, so von Weizsäcker, | |
wohl aber ein „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der | |
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ ([1][Rede im Wortlaut]) | |
Das war mehr als eine unmissverständliche Distanzierung vom Faschismus. Das | |
definierte den Nationalsozialismus als unvergänglichen Teil der deutschen | |
Vergangenheit. Zugleich aber legte der Ausdruck „Befreiung" den Gedanken | |
nahe, auch die Mehrheit der Deutschen sei vom nationalsozialistischen | |
Regime unterdrückt worden - und nicht etwa Teil dessen gewesen. Eine | |
Formulierung, die auf den ersten Blick provokant und mutig wirkte, enthielt | |
zugleich eine Botschaft, die Mitläufer entlastete. | |
## Strebsam, aus gutem Haus | |
Gustav Heinemann, einer der inzwischen fast vergessenen Vorgänger von | |
Richard von Weizsäcker im Amt des Bundespräsidenten, hatte während des so | |
genannten Dritten Reichs illegal Flugblätter für die Bekennende Kirche | |
hergestellt und verbreitet. Der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt, bis | |
heute eine Ikone der Sozialdemokratie, war Widerstandskämpfer gewesen. Für | |
ihre Vergangenheit bewundert wurden beide Männer allenfalls von einer | |
Minderheit. Richard von Weizsäcker, ein strebsamer Sohn aus gutem Hause, | |
war als Vorbild offenbar besser geeignet. | |
Es würde der damaligen Situation nicht gerecht, wollte man unterstellen, es | |
sei Richard von Weizsäcker vor allem um eine Selbstentschuldung der | |
Deutschen gegangen, als er zum 40. Jahrestag des Kriegsendes vor dem | |
Bundestag sprach. So einfach ist es nicht. Dazu hat er sich bis zu seinem | |
Tod allzu intensiv und schmerzhaft mit der Frage politischer Schuld | |
auseinandergesetzt. Auch und vor allem aus persönlichen Gründen. | |
Richard von Weizsäcker wurde 1920 in Stuttgart geboren. In Verhältnisse, | |
die für die Ewigkeit gemacht zu sein schienen: Gesichert, | |
bildungsbürgerlich - ungeachtet des nicht allzu bedeutenden Adelstitels -, | |
respektiert. Der Vater war Diplomat. Und blieb es, auch nach der | |
Machtergreifung der Nationalsozialisten. | |
In den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen wurde Ernst Freiherr von | |
Weizsäcker wegen „Verbrechens gegen die Menschlichkeit" vor Gericht | |
gestellt und zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Ein Urteil, das | |
der Sohn Richard auch Jahrzehnte später noch als „ungerecht" bezeichnen | |
sollte. Der spätere Jurist, damals noch Student, hatte an der Verteidigung | |
seines Vaters mitgearbeitet. Der erst Deportationsbefehle für Juden nach | |
Auschwitz unterzeichnet und dann behauptet hatte, vom Holocaust erst nach | |
dem Krieg erfahren zu haben. | |
## Brücken schlagen | |
Was kann, was darf ein Nachgeborener denen vorwerfen, die - um mit Bertolt | |
Brecht zu sprechen - in „finsteren Zeiten" gelebt haben? „Eine | |
Distanzierung vom Vater wäre ihm ehrenrührig vorgekommen," sagt der | |
Publizist Gunter Hofmann, der ein hoch gelobtes Porträt über Richard von | |
Weizsäcker veröffentlicht hat. „Objektiv ist er mit seiner Rede zum 8. Mai | |
1945 aus dem Schatten des Vaters getreten, aber eben nicht subjektiv." | |
Vielleicht, nein: wahrscheinlich liegt darin der Schlüssel zum Wirken von | |
Richard von Weizsäcker. Lebenslang hat er versucht, Brücken zu schlagen | |
zwischen Positionen, die unvereinbar zu sein schienen. Zu einem Zeitpunkt, | |
zu dem die Ostverträge für heute unvorstellbare innenpolitische | |
Zerwürfnisse sorgten, suchte er nach einem Ausgleich. Anerkennung der | |
Oder-Neiße-Grenze als Ausdruck konkreter Friedenspolitik, ja, unbedingt. | |
Einerseits. | |
Andererseits aber wollte er auch nicht zu weit gehen und sich der Mehrheit | |
seiner Parteifreunde nicht entfremden. Zu einer Zustimmung zum Moskauer | |
Vertrag von 1970, in dem die Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland | |
und der DDR als unverletzlich erklärt wurde, konnte er sich nicht | |
durchringen. Zugleich kämpfte er erfolgreich gegen ein „Nein". | |
Stimmenthaltung war der Ausweg. Hat er damit die Ratifizierung des | |
Vertrages überhaupt erst ermöglicht - oder war er zu feige, seine wahre | |
Überzeugung offen darzulegen? | |
Darüber werden Historiker vermutlich noch lange streiten. Und wenn man das | |
nicht als Floskel schreibt, sondern ernst meint, dann ist das ja auch ein | |
Hinweis auf die geschichtliche Bedeutung eines Menschen. Dass er noch über | |
seinen Tod hinaus für Kontroversen sorgt - weil es eben nicht gleichgültig | |
ist, was er wollte. | |
## Vereinen heißt teilen | |
Hinweise auf die Gesellschaft, in der er zu leben wünschte, gibt es. | |
Immerhin. Auf dem Höhepunkt rechtsextremer Ausschreitungen gegen Ausländer | |
zu Beginn der 90-er Jahre wandte sich Richard von Weizsäcker - vergeblich - | |
gegen die Beschneidung des Rechts auf Asyl und eine entsprechende Änderung | |
des Grundgesetzes. | |
Fast zeitgleich warf er der „Politikerschicht" vor, sie erliege einer | |
„Machtversessenheit in Bezug auf Wahlkampferfolge". Im Hinblick auf den | |
deutschen Vereinigungsprozeß mahnte er, sich zu vereinen lernen hieße: | |
teilen lernen. Und im März 1993 appellierte Richard von Weizsäcker an die | |
Politikerinnen und Politiker in Deutschland, ihre Führungsverantwortung | |
wahrzunehmen und die Achtung der Bevölkerung zurückzugewinnen. | |
Manchmal greift das kollektive Gedächtnis und der Respekt vor dem | |
vermeintlichen Kern einer Lebensleistung vielleicht doch allzu kurz. Ob man | |
Richard von Weizsäcker wirklich gerecht wird, wenn man ihn auf seine Rede | |
von 1985 zum Thema 1945 reduziert? Wahrscheinlich sagen seine weniger | |
beachteten, aber deutlich unbequemeren Äußerungen zur jeweiligen Gegenwart | |
mehr - und Besseres - über ihn aus als seine Einschätzung der | |
Vergangenheit. Sie lassen sich allerdings auch weniger leicht beerdigen. | |
31 Jan 2015 | |
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[1] /Weizsaecker-am-8-Mai-1985/!153882/ | |
## AUTOREN | |
Bettina Gaus | |
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