# taz.de -- Nach dem Studenten-Massaker in Mexiko: „Ich sehe, wie er zu Boden… | |
> Am heutigen 26. September jährt sich das Massaker an den 43 Studenten von | |
> Iguala. Unser Autor hat es überlebt und glaubt den Ermittlern kein Wort. | |
Bild: Gegen das Vergessen: Teilnehmer eines Trauermarsches anlässlich des Jahr… | |
Vergangene Woche haben sie „El Gil“ – den Mafiaboss Gildardo López | |
Astudillo – verhaftet. Ein Jahr nach dem Massaker von Iguala. Natürlich ist | |
es gut, wenn Leute wie er im Knast sitzen. Vorausgesetzt, sie sind wirklich | |
schuld. Vor ihm, dem Anführer der Verbrecherbande Guerreros Unidos, wurden | |
schon 120 Leute festgenommen. Aber ob sie wirklich mit dem Massaker zu tun | |
haben, weiß niemand. Die lokalen Polizisten, die Bundesbeamten und Soldaten | |
haben große Erfahrung mit brutalen Verhörmethoden. Sie foltern die | |
Gefangenen, bis diese sagen, was man von ihnen hören will. Viele hatten | |
nach den Vernehmungen Folterspuren. Warum sollten wir auf solche | |
Ermittlungen vertrauen? | |
Es ist kein Wunder, dass die Staatsanwaltschaft gerade jetzt einen | |
angeblichen Drahtzieher verhaftet. Am heutigen 26. September ist es ein | |
Jahr her, dass wir in der Kreisstadt Iguala im Bundesstaat Guerrero von | |
Polizisten und Mafiakillern überfallen wurden, doch bis heute konnten die | |
Ermittler keine Ergebnisse liefern. Niemand von ihnen konnte uns erklären, | |
warum in dieser Nacht sechs Menschen erschossen wurden, und erst recht | |
nicht, was mit unseren 43 Kommilitonen passiert ist, die seither | |
verschwunden sind. | |
Schon Anfang des Jahres wollte der damalige Generalstaatsanwalt Jesús | |
Murillo Karam den Fall für abgeschlossen erklären. Unsere Compañeros seien | |
noch in der Nacht auf einem Müllplatz verbrannt worden, sagte er und nannte | |
das die „historische Wahrheit“. Wir glauben ihm kein Wort. Niemand hat ein | |
Feuer gesehen. Ein Freund erzählte mir, er sei an dem Abend auf eine | |
Hochzeit eingeladen gewesen, aber die Feier hätte abgesagt werden müssen, | |
weil es so stark regnete. Wie soll man da ein so großes Feuer zum Brennen | |
bringen? 43 Menschen! | |
Wir vertrauen auf [1][die von der Interamerikanischen | |
Menschenrechtskommission eingesetzte Expertengruppe], die untersuchte, was | |
in der Nacht passiert ist. Und auf die unabhängigen Forensiker aus | |
Argentinien. Beide Gruppen sagen, dass die von den staatlichen Ermittlern | |
präsentierte Version nicht stimmen kann. 60 Stunden hätte ein solches Feuer | |
brennen müssen, und dafür wären tonnenweise Reifen und Holz nötig gewesen. | |
Die Experten und die Argentinier kritisieren die Arbeit der Strafverfolger. | |
[2][Deshalb präsentiert die Generalstaatsanwaltschaft nun „El Gil“]. Und | |
deshalb meldet sie plötzlich, man habe anhand von DNA-Untersuchungen der | |
Asche, die gefunden wurde, einen weiteren unserer angeblich ermordeten | |
Compañeros identifiziert. Niemand weiß, ob das stimmt. | |
## Wem kann man noch vertrauen? | |
Man kann ihnen nicht trauen, weil hier in Mexiko praktisch jede Institution | |
von Kriminellen korrumpiert ist. Wir Studenten vom ländlichen Lehrerseminar | |
Ayotzinapa und auch die Angehörigen der Verschwundenen befürchten, dass | |
unsere 43 Kommilitonen von Militärs verschleppt wurden. Die Armee ist zu | |
vielem fähig: Die Soldaten foltern, vergewaltigen, entführen. Dafür gibt es | |
Beweise. Vielleicht haben sie unsere Freunde in die Kaserne gebracht. | |
Vielleicht sind sie noch dort. Es gibt die Hypothese, dass sie in geheimen | |
Häusern in den Kasernen versteckt sind. Das ist gut möglich. Jedenfalls | |
muss es einen Grund dafür geben, dass die Expertengruppe das Militärgelände | |
nicht betreten darf. | |
Nichts ist, wie es vorher war. Wir hatten schon oft Ärger mit der Polizei, | |
weil wir uns für unsere Rechte einsetzen. Weil wir kämpfen. Aber seit | |
dieser Nacht ist die Angst unser ständiger Begleiter. Sehen wir Polizisten, | |
werden wir nervös. Denn heute wissen wir, sie wären fähig, uns zu ermorden. | |
Jeden Moment leben wir mit dem Gefühl, dass es wieder passieren könnte, | |
dass wir verdächtigt, verfolgt, niedergestreckt werden können. | |
Und dann die Erinnerung: Dieser Moment, als ich auf der Kreuzung in Iguala | |
stehe und sehe, wie ein Compañero von einer Kugel getroffen wird und zu | |
Boden fällt. Wie neben seinem Kopf eine Blutlache entsteht. Wie ich auf ihn | |
schaue und nichts tun kann, weil die Killer auf alles schießen, was sich | |
bewegt. Es ist nicht einfach, in der forensischen Klinik die leblosen | |
Körper deiner Freunde zu sehen. Bis heute muss ich ständig an sie denken. | |
Wir haben zusammen Partys gefeiert, musiziert, gestritten, diskutiert. | |
## Mädchen für alles | |
Seit dem 26. September 2014 haben wir keinen Unterricht mehr, es gab | |
anderes zu tun: Aktionen, um den Verbleib unserer Kommilitonen aufzuklären. | |
Demonstrationen. Fahrten nach Mexiko-Stadt. Doch im Oktober beginnt das | |
neue Semester. Gerade sind 140 Erstsemester angekommen. Wir haben lange | |
diskutiert, ob das überhaupt zu verantworten ist. Dann fragten wir sie | |
einfach, warum sie hier in dieses Lehrerseminar kommen. | |
Ayotzinapa sei die einzige Möglichkeit für sie zu studieren, antworteten | |
sie. Klar, woanders werden junge Männer vom Land, die kaum Geld haben, | |
überhaupt nicht angenommen. Wir können die Schulgebühren nicht zahlen, | |
unsere Eltern sind arm. Hier kann man umsonst studieren. Deshalb verteidige | |
ich dieses Lehrerseminar gegen die Versuche der Regierung, es zu schließen, | |
weil es nicht in ihr auf Verwertung orientiertes Bildungssystem passt. | |
Außerdem werden wir anders ausgebildet als an anderen pädagogischen | |
Schulen. Als Lehrer in den abgelegenen Dörfern ohne Trinkwasser und Strom | |
bist du Mädchen für alles: Wenn ein Kind krank wird, musst du dich kümmern, | |
wenn Leute Probleme mit der Justiz haben, ist der Lehrer auch gefragt. | |
Deshalb lernen wir alles: Schweine züchten, Sport und natürlich das | |
Politische. Hier werden dir die Augen geöffnet, damit du nicht mit | |
Telenovelas verblödest. | |
## „Sie wollte, dass ich Ayotzinapa verlasse“ | |
Ich hatte andere Pläne, habe Kraftfahrzeugtechniker gelernt, dann in einer | |
Kindertagesstätte gearbeitet und mich an der autonomen Gemeindepolizei | |
beteiligt, um mein Dorf vor Kriminellen zu schützen. Dann lief mir Maria | |
über den Weg. Wir planten eine gemeinsame Zukunft, zu der auch die | |
Lehrerausbildung gehörte. Es war ein Lebensprojekt, wir wollten heiraten. | |
Vor ein paar Wochen scheiterte die Beziehung. Nun macht sie ihr Ding und | |
ich meins. Aber ich bin froh, hier zu sein. | |
Die Angst bleibt natürlich trotzdem. Doch sie treibt uns auch an. Außerdem | |
werden wir von den Angehörigen sowie vielen nationalen und internationalen | |
Organisationen unterstützt. Das hilft und schützt uns. Meine Familie lebt | |
nicht weit von hier, aber da bin ich eher selten. Nach dem Massaker habe | |
ich mich mit meiner Mutter zerstritten. Sie wollte, dass ich Ayotzinapa | |
verlasse. Sie hat Angst um mich. Mein Vater respektiert meine Entscheidung. | |
Ich solle Gott um Schutz bitten, sagt er. Das mache ich auch. | |
Nächste Woche fahren wir nach Mexiko-Stadt, um an das Massaker vom 2. | |
Oktober 1968 zu erinnern. Damals wurden mehrere hundert Studenten von | |
Soldaten erschossen. Auch deshalb kämpfen wir weiter. Zu Recht wurde an | |
eine Mautstelle hier in der Nähe gesprüht: „Solange es Armut in Mexiko | |
gibt, brauchen wir die ländlichen Lehrerseminare.“ | |
Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung: Wolf-Dieter Vogel | |
26 Sep 2015 | |
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## AUTOREN | |
Ernesto Guerrero Cano | |
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