# taz.de -- Minderjährige Flüchtlinge in Berlin: Viele Wochen ohne Beistand | |
> Flüchtlingsrat und Grüne kritisieren den Umgang mit minderjährigen | |
> unbegleiteten Flüchtlingen. Die bräuchten von Tag eins an einen | |
> unabhängigen Rechtsvormund. | |
Bild: Kundgebung in Berlin für einen fairen Umgang mit minderjährigen Geflüc… | |
Berlin taz | Der Flüchtlingsrat Berlin und die Grünen kritisieren den | |
Umgang des Landes mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen als | |
rechtswidrig. Berlin lasse die jungen Menschen zu lange ohne einen Vormund | |
– das verstoße gegen europäisches und deutsches Recht. | |
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind Kinder oder Jugendliche, die | |
ohne ihre Eltern nach Berlin fliehen. Letztes Jahr kamen rund 1.700 nach | |
Berlin, 2023 waren es 3.100. Fast 90 Prozent von ihnen sind männlich, die | |
wichtigsten Herkunftsländer sind die Ukraine, Syrien, Afghanistan, die | |
Türkei und Benin. Weil die Jugendhilfe zu wenige Kapazitäten hat, werden | |
die Jugendlichen erst einmal mehrere Wochen „geparkt“ – oder wie es im | |
Amtsdeutsch heißt: „vorläufig in Obhut genommen“. | |
Diese Zeit beträgt laut der Senatsverwaltung für Bildung 74 bis 80 Tage. | |
Währenddessen leben die Jugendlichen in Heimen, die oft nicht ausreichenden | |
pädagogischen Standards entsprechen, ein Schulbesuch erfolgt nicht. Und: | |
Sie erhalten keinen Vormund, das heißt, es wird keine erwachsene Person an | |
ihre Seite gestellt, die ihre Interessen gegenüber Behörden und Ärzten | |
vertritt. | |
Stattdessen gibt es 15 Mitarbeiter der Senatsverwaltung für Jugend und | |
Bildung, die in einer Art Schichtsystem „Rechtshandlungen“ vornehmen, „die | |
zeitlich keinen Aufschub dulden und tatsächlich erforderlich sind“. | |
## Notfall-Nummer der Senatsverwaltung | |
So steht es in einer Antwort von Jugendstaatssekretär Falko Liecke (CDU) | |
auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen. Beispiel: Sollte bei einem | |
Jugendlichen eine Blinddarmoperation notwendig sein, kann das Krankenhaus | |
bei der Notfall-Nummer der Senatsverwaltung anrufen, und ein dem | |
Jugendlichen nicht bekannter Beamter erteilt seine Einwilligung. | |
Während dieser Wochen ohne Vormund werden allerdings Entscheidungen | |
getroffen, die für den weiteren Lebensweg der Jugendlichen große | |
Auswirkungen haben – ohne eine erwachsene Person an ihrer Seite, die sie | |
über die weitreichenden Behördenentscheidungen informieren und | |
gegebenenfalls für sie Rechtsmittel einlegen können. Das betrifft zunächst | |
die amtliche Altersschätzung durch die Senatsverwaltung für Jugend: Von | |
ukrainischen und kurdischen Jugendlichen abgesehen, reisen die allermeisten | |
ohne Identitätspapiere ein. | |
Die Tatsache der Minderjährigkeit beruht meist nur auf eigenen Aussagen. | |
Ein Beamter der Senatsjugendverwaltung schätzt nach einem Gespräch mit dem | |
Jugendlichen, ob dieser tatsächlich minderjährig ist. Mehr als 50 Prozent | |
werden nach diesem Gespräch als volljährig eingestuft. Davon hängt ab, ob | |
der Jugendliche in Deutschland noch zur Schule gehen und ob er in einem | |
pädagogisch betreuten Jugendwohnheim wohnen darf oder einer | |
Massen-Asylunterkunft zugewiesen wird, wo die Interessen Minderjähriger oft | |
untergehen. | |
Da der Jugendliche zu diesem Zeitpunkt noch keinen Vormund hat, gibt es | |
niemanden, der ihm in dem Gespräch zur Seite steht, Argumente vorbringen | |
oder gegebenenfalls Rechtsmittel einlegen kann, wenn er die Schätzung für | |
falsch hält. Schlimmer noch: Es sind dieselben 15 Mitarbeiter der | |
Senatsverwaltung, die die Interessen der Jugendlichen vornehmen sollen, die | |
auch das Alter schätzen. Hier gibt es keine Gewaltenteilung. | |
## Keine verlässlichen Zahlen | |
Das wiederholt sich bei der Frage, in welchem Bundesland die Jugendlichen | |
leben und ihren Asylantrag stellen können. Diese Frage wird auch bei | |
unbegleiteten Minderjährigen per Zufallsprinzip nach dem „Königsteiner | |
Schlüssel“ entschieden. Da Minderjährige erst seit letztem Sommer aus | |
Berlin umverteilt werden, liegen noch keine verlässlichen Zahlen vor, wie | |
viele das betrifft. Allerdings ist gesetzlich vorgeschrieben, dass die | |
Behörde sogenannte „Verteilungshindernisse“ prüfen muss: Leben | |
beispielsweise Verwandte eines Jugendlichen in Berlin, wäre das ein | |
Hindernis, ihn in ein anderes Bundesland zu verteilen. | |
Dasselbe gilt, wenn eine ganze Gruppe von Jugendlichen über Monate | |
gemeinsam auf der Flucht war. Diese Gruppe sollte dann nicht | |
auseinandergerissen werden, weil während der oft gefährlichen Flucht | |
menschliche Bindungen entstanden sind. Doch auch hier obliegt ein und | |
demselben Mitarbeiter der Senatsjugendverwaltung die Vertretung der | |
persönlichen Interessen des Jugendlichen und die Entscheidung über seine | |
Verteilung. | |
Daniel Jasch vom Flüchtlingsrat sagt der taz, er kenne Fälle, wo | |
Jugendliche in ein entferntes Bundesland geschickt wurden, obwohl Verwandte | |
in Berlin lebten. „Die Regel, nach der Mitarbeitende der Senatsverwaltung | |
die rechtliche Vertretung dieser besonders schutzbedürftigen Kinder und | |
Jugendlichen übernehmen, verstößt gegen das Kindeswohl und nationale sowie | |
internationale rechtliche Vorgaben“, so Jasch. „Sie führt zu unauflösbaren | |
Interessenkonflikten und stellt keine unabhängige Vertretung sicher.“ | |
Bleibt der Jugendliche in Berlin, wird er danach ohne rechtlichen Beistand | |
zum Landesamt für Einwanderung geschickt – das bestätigt die | |
Senatsverwaltung auf Grünen-Anfrage. Dort erfolgt eine Befragung durch die | |
Abteilung „Kriminalitätsbekämpfung und Rückführung“ zu | |
Familienverhältnissen, Einreisewegen und Fluchtgründen. Daniel Jasch: | |
„Diese ausdrücklich bestätigte Praxis widerspricht eklatant dem Kindeswohl | |
und schockiert und verängstigt die Kinder und Jugendlichen enorm.“ | |
## Ein Interessenkonflikt | |
Ein Interessenkonflikt besteht zudem bei der Entscheidung über ärztliche | |
Behandlungen: Die Senatsverwaltung für Jugend ist einerseits der | |
Kostenträger, andererseits soll sie die Interessen der Jugendlichen | |
vertreten. Daniel Jasch kennt Fälle, in denen Behandlungen abgelehnt | |
wurden, die er selbst für die Jugendlichen für absolut notwendig hielt. „Es | |
gab aber nicht einmal eine Person, die für den Jugendlichen dagegen | |
Rechtsmittel einlegen konnte.“ | |
Flüchtlingsrat und Grüne fordern, dass die Jugendlichen von Tag eins an | |
einen unabhängigen Vormund erhalten, der nicht selbst in | |
Behördenentscheidungen eingebunden ist und den die Jugendlichen kennen. | |
Die bisherige Praxis verstößt nach ihrer Auffassung gegen ein Urteil des | |
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie ein Urteil des | |
Verwaltungsgerichtshofs von Baden-Württemberg, wonach den Minderjährigen | |
„sofort“ ein gesetzlicher Vertreter zur Seite gestellt werden muss und | |
„Organisationen oder Einzelpersonen, deren Interessen denen des | |
unbegleiteten Minderjährigen zuwiderlaufen oder zuwiderlaufen könnten, als | |
Vertreter nicht in Betracht kommen“. | |
Eine Sprecherin von Jugendsenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) sagte | |
der taz, zur Vermeidung von Interessenkonflikten würden | |
Vertreterhandlungen, die im Interesse der Minderjährigen liegen, aber dem | |
behördlichen Interesse zuwiderlaufen könnten, von Mitarbeitenden des | |
juristischen Grundsatzbereichs vorgenommen. Diese Praxis sei von Berliner | |
Gerichten bislang nicht beanstandet worden. | |
In Berlin stehen laut amtlichen Angaben 1.150 Jugendliche unter | |
Vormundschaft durch ein bezirkliches Jugendamt – wo allerdings ein | |
Mitarbeiter für rund 75 Jugendliche zuständig ist. Knapp 500 Jugendliche | |
werden durch einen Vormund von einem freien Träger wie der Caritas oder | |
Xenion vertreten, rund 220 durch ehrenamtliche Einzelvormünder. | |
11 Mar 2025 | |
## AUTOREN | |
Marina Mai | |
## TAGS | |
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) | |
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