# taz.de -- Marwas Definition von Erfolg: Ein besonderer Tag | |
> Marwa ist 24 und ihre Eltern kommen aus Afghanistan. Ihr erster Tag mit | |
> Kopftuch war ein besonderer Tag. Sie hat mir davon erzählt. | |
Bild: Das ist nicht Marwa, könnte sie aber sein | |
Ein klares Gesicht. Dunkle Augen, lange Wimpern, symmetrische Gesichtszüge. | |
Um das Haar liegt fest ein Kopftuch, das dieses Gesicht umrahmt. Ein | |
Gesicht, in das man gerne schaut. Es ist, als würde dann etwas in einem | |
ruhiger werden. | |
Ein Stiftungstreffen: Stipendiaten treffen sich ein Wochenende lang in | |
einem Haus am See, Jüngere und Ehemalige. Marwa ist 24, sie studiert, sie | |
will Lehrerin werden. | |
Wir sitzen zusammen in einem Workshop über „Die Gesetze der Gewinner“. Wir | |
lesen, was Gewinner ausmacht: „Entscheidungen treffen, sich große Ziele | |
setzen, 110 Prozent geben.“ Die Stimmung in der Gruppe wird schnell | |
intensiv. Vielleicht weil wir auf einem Steg sitzen. Hinter uns liegt glatt | |
der See, in dem sich Zusammenhänge andeuten, die sich in anderer Tiefe | |
vollziehen. | |
Dann meldet sich Marwa: „Es ist richtig, was gesagt wird. Aber es klingt so | |
materialistisch. Mir fehlt etwas. Die Spiritualität. Das Vertrauen, dass | |
man nicht alles lenken kann. An was man auch immer glaubt, das ist doch | |
auch wichtig im Leben.“ | |
Es ist kurz ruhig. Die anderen schauen sie an. Was Marwa sagt, wirkt | |
persönlich, mutig. Klar zeigt sie ihren Glauben, ohne die Überzeugung der | |
anderen zu kennen. Wir sprechen nun über Vertrauen: „Ich bin keine | |
Araberin“, sagt Marwa. „Aber im Arabischen gibt es ein Sprichwort: 'Binde | |
dein Kamel an. Und dann vertraue auf Gott.’ Sorge für Sicherheit – und dann | |
lass los.“ Ich schaue sie an. Die Klarheit in ihrem Sprechen beeindruckt | |
mich. | |
Später im Bus zurück sitzen wir hintereinander. Ich spreche sie auf den | |
Workshop an. „Ja, es war mir wichtig das zu sagen“, sagt sie. „Erfolg | |
umfasst nicht nur den Beruf. Erfolg bedeutet für mich, ein gutes | |
persönliches Leben zu haben. Dass ich nach meiner Überzeugung lebe, meinem | |
Glauben. Dass ich für andere da bin, die Familie.“ | |
Ihre Eltern kommen aus Afghanistan. Sie erzählt, dass sie mit 24 noch | |
zuhause wohnt. Dies sei kulturell bedingt. „Wir wohnen zusammen bis man mit | |
dem Partner zusammenzieht oder durch den Beruf wegziehen muss. Es ist | |
selbstverständlich, eng zusammen zu sein.“ Sie lächelt. „Ich hänge sehr … | |
meiner Mutter. Sie hängt an mir. Es hört sich vielleicht komisch an. Ich | |
möchte nicht von ihr weg. Sie braucht mich, ich unterstütze sie im | |
Haushalt. Ich fühle mich wohl zuhause.“ Wir sprechen über die deutsche | |
Kultur. Dass die meisten wie selbstverständlich nach dem Schulabschluss | |
ausziehen. Mit dem Blick in ihr Gesicht erscheint das auf einmal | |
widersprüchlich. | |
Sie erzählt, dass sie bis zum Abitur ohne Kopftuch gelebt habe. Danach habe | |
sie ein Jahr Auszeit genommen. In dieser Zeit sei in ihr die Entscheidung | |
gereift, ein Kopftuch zu tragen, auch gegen die Angst, was ihre Familie | |
sagt, was die Nachbarn reden. „An einem Tag bin ich mit dem Kopftuch | |
rausgegangen. Ich habe mich damit wohl gefühlt. Ich habe gespürt, dass es | |
stimmt. Das war ein schöner Tag“, sagt sie. „Ich erinnere mich noch heute | |
an diesen Tag.“ Sie lächelt. Und ich denke, wie selten das ist. Dass | |
Menschen von Tagen erzählen, die durch einen inneren Prozess besonders | |
wurden – nicht durch äußere Sichtbarkeit – eine Feier, einen Abschluss. | |
Innere Tage, in denen etwas in eine neue Richtung geht, an denen etwas | |
lange Durchdachtes klar wird. Unsichtbarer Erfolg. | |
Wir reden darüber, dass Marwa Lehrerin werden wird. „Es gibt zu wenige | |
Lehrerinnen mit Migrationshintergrund“, sagt sie. „Dabei ist das für viele | |
Schüler wichtig, auch für die Eltern.“ „Ja“, sage ich, „weil die Sch�… | |
durch dich die muslimische Kultur neu kennenlernen. Und auch ihre Eltern, | |
die vielleicht keine gute Einstellung dazu haben“. Kurz meine ich ein | |
Zucken auf ihrem Gesicht zu spüren. Sie sagt nichts. Doch ich denke, dass | |
sie es vielleicht anders gemeint hat. Positiv. Dass sie nicht die bekehrt, | |
die Schlechtes denken. Sie hat an die Schüler gedacht, denen sie helfen | |
kann, die Eltern, die sich ihr anvertrauen, weil sie nah an Marwas Kultur, | |
ihren Erfahrungen liegen. Eltern, die sonst vielleicht an den Institutionen | |
gar nicht dieses Gesicht haben, in das sie sprechen können. Dieses klare | |
Gesicht, das einem selbst ganz neue Gedanken bringt. | |
15 Sep 2019 | |
## AUTOREN | |
Christa Pfafferott | |
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