# taz.de -- Interview mit feministischer Muslima: „Das geht alle Frauen etwas… | |
> Sie ist Mitgründerin des muslimisch-feministischen Blogs „Reçel“ und | |
> Musikerin. Rümeysa Çamdereli im Gespräch über muslimischen Feminismus in | |
> der Türkei. | |
Bild: „Meinen Auftritt als Musikerin empfinden konservative Männer als Bedro… | |
Die muslimisch-feministische Aktivistin und Musikerin Rümeysa Çamdereli | |
gehört zu den Gründerinnen des Blogs Reçel (dt.: Marmelade), auf dem | |
regierungskritische muslimische Frauen schreiben, und des | |
muslimisch-feministischen Frauenverbands Havle (dt.: Kraft). Die 30-Jährige | |
studierte IT-Ingenieurswesen an der Boğaziçi Universität und macht derzeit | |
ihren Master an der Universität Istanbul im Fachbereich Frauenforschung. | |
Wir sprachen mit ihr über die muslimisch-feministische Bewegung in der | |
Türkei. | |
Taz.gazete: Frau Çamdereli, wie wurden Sie zur Feministin? | |
Rümeysa Çamdereli: Zuerst definierte ich mich als Muslima. Der Auslöser war | |
für mich, die Kopftuchfrage als Frauenfrage zu behandeln. Als ich an die | |
Universität ging, musste ich mein Kopftuch ablegen. Die Boğaziçi | |
Universität gehörte eigentlich nicht zu den Einrichtungen, die das | |
Kopftuchverbot unmittelbar umsetzten, doch in der ersten Seminarwoche 2008 | |
durften wir mit dem Kopftuch nicht auf den Campus. Das hat mich sehr | |
beschäftigt. Damals begann ich mich mit meinen feministischen | |
Kommilitoninnen auszutauschen. Vorher war ich mir der Diskriminierungen, | |
die ich aufgrund meiner Identität als Frau erlebte, gar nicht richtig | |
bewusst. Dann fing ich an, mich feministisch zu organisieren und an den | |
Frauenprotesten am 25. November und am 8. März teilzunehmen. | |
Diskutieren muslimisch-feministische Frauen nach wie vor über die | |
Kopftuchfrage? Es gibt Leute, die finden Kopftuchdebatten antifeministisch | |
und patriarchalisch … | |
Auch ich denke, diese Diskussionen gehören mittlerweile der Vergangenheit | |
an. Dieses Argument gründet sich auf zwei Vorstellungen, erstens: „Frauen | |
verhüllen sich, um sich vor Männern zu schützen.“ Und zweitens: „Frauen | |
tragen das Kopftuch nicht aus eigenem Wunsch, sie werden dazu gezwungen.“ | |
Beides trifft auf meinen Fall nicht zu und dank Plattformen wie dem | |
Reçel-Blog können wir jetzt auch die Geschichten vieler anderer verhüllter | |
Frauen hören. Außerdem ist eine muslimische Frau auch nicht gezwungen, ein | |
Kopftuch zu tragen. Es gibt auch Frauen unter uns, die sich als Muslima | |
definieren und kein Kopftuch tragen. Wir versuchen, den muslimischen | |
Feminismus nicht nur auf das Kopftuch zu begrenzen. | |
Aus welchem Bedürfnis heraus entstand das Blog Reçel, auf dem | |
oppositionelle muslimische Frauen schreiben? | |
Wir hatten das Gefühl, dass wir es nicht richtig schafften, unsere | |
alltäglichen Debatten zu teilen und sichtbar zu machen, was bei uns auf der | |
Tagesordnung stand. Wir dachten, wenn wir unsere eigene Geschichte | |
erzählen, finden sich muslimische Frauen darin wieder. Mit der Zeit hat die | |
Plattform sich dann von selbst vergrößert. Reçel erreicht ein bedeutendes | |
Publikum. Ab einem gewissen Punkt entwickelte das Blog seinen eigenen Stil. | |
Es gab gemeinsame Veranstaltungen, wo wir Frauen trafen, die uns schrieben. | |
Bei solchen Treffen sagten manche: „Wir sind ja doch nicht allein.“ Wir | |
haben versucht, genau diese Einsamkeit zu überwinden. Die Texte auf dem | |
Blog haben Frauen auch Mut gemacht. | |
Entstand auch Havle auf ähnliche Weise, der erste islamisch-feministische | |
Frauenverband der Türkei? | |
Nicht nur. Er kam zustande, als sich Frauen unterschiedlicher | |
aktivistischer Felder zusammentaten. Wir brauchten eine organisierte | |
Struktur, der es um eine gewisse Institutionalisierung und Nachhaltigkeit | |
ging. Aus diesem Gedanken heraus entstand Havle. Bei Havle versammeln sich | |
muslimische Frauen, die sich als Feministinnen empfinden. Vor Havle gab es | |
die Başkent Kadın Platformu (dt.: Hauptstadt-Frauen-Plattform), dort wurde | |
die Beziehung zum Feminismus aber nicht offengelegt. Wir fühlen uns der | |
feministischen Bewegung stärker zugehörig und stehen in direkter Verbindung | |
zu ihr. | |
Wie sehen denn konservative Kreise den Feminismus? | |
Der konservative Flügel in der Türkei kennt den Feminismus noch nicht. | |
Deshalb dauert es noch, bis die Existenz muslimischer Feministinnen in der | |
konservativen Community ins Gespräch kommt und Akzeptanz erfährt. Die | |
Community akzeptiert Unterschiede nicht so leicht. Doch in der jungen | |
Generation gibt es Frauen, die völlig anders denken. Die junge Generation | |
der konservativen Kreise wächst inzwischen gleich mit feministischen | |
Debatten auf. Bis zur Aufhebung des Kopftuchverbots 2011 bestand unser | |
ganzes Leben darin, über das Verbot zu debattieren. Danach wurde es | |
möglich, sich viel gelassener mit Feminismus auseinanderzusetzen. | |
Wie wirkt sich das alles auf Ihre Identität als Musikerin aus? Wie | |
reagieren die Leute, wenn Sie als Musikerin mit Kopftuch auftreten und | |
E-Gitarre spielen? | |
Die Bühne sorgt für eine Sichtbarkeit, die nicht zu den Stereotypen für | |
Frauen im privaten und öffentlichen Raum passt. Von Frauen wird erwartet, | |
dass sie sich innerhalb bestimmter Grenzen bewegen, den Machtbereich von | |
Männern nicht bedrohen und möglichst wenig sichtbar sind. Dass ich als | |
Musikerin auftrete, wird insofern von Männern konservativer Kreise als | |
Bedrohung empfunden. Die Reaktionen konservativer Frauen lese ich dagegen | |
zum großen Teil als Mangel an Selbstverwirklichung. Frauen reagieren harsch | |
und massiv. „Das kannst du nicht machen“, sagen sie und: „Leg das Kopftuch | |
ab, wenn du so etwas machst.“ Aber die Proteste konservativer Frauen stören | |
mich nicht so sehr. Denn sie reagieren so, weil sie unterdrückt und | |
eingeengt sind. Säkulare Kreise dagegen reagierten gleich sehr positiv mit | |
Äußerungen wie: „Das ist unglaublich, was du da machst.“ Darüber habe ich | |
mich anfangs riesig gefreut. Ich dachte, ich bin marginal. Später wurde mir | |
aber klar, dass völlig normal ist, was ich tue. | |
Wie bringen Sie konservativen Menschen den Feminismus nahe? Worüber | |
diskutieren Sie mit ihnen? | |
Derzeit loten wir aus, wie wir mit einer Gruppe unabhängiger Feministinnen | |
und einigen organisierten Frauen in Kontakt kommen und uns gemeinsam | |
organisieren können. Man könnte sagen, die Konservativen sind die | |
Zielgruppe unserer gesamten Arbeit. Wir bekämpfen alle Ansichten, die | |
Frauen etwas vorschreiben wollen. Dieses Engagement als muslimische Frauen | |
bildet das Fundament der Beziehung, die wir zur konservativen Welt geknüpft | |
haben. | |
An welchem Punkt steht die muslimisch-feministische Frauenbewegung in der | |
Türkei im Augenblick? | |
In letzter Zeit setzt sich die muslimische Frauenbewegung mit dem | |
Feminismus auseinander. Das ist ein Wandel ohnegleichen. In der | |
muslimischen Frauenbewegung der Neunziger stand generell die Kopftuchfrage | |
im Mittelpunkt. Damals führten Frauen wie Konca Kuriş, Hidayet Tuksal oder | |
Sibel Eraslan wichtige Debatten. Die Diskussionen schafften es aber leider | |
nicht sehr in die Breite, das war auch den Verboten geschuldet. Nun | |
entwickelt sich eine Bewegung, die offen für neue ideologische Diskussionen | |
ist, auf Praktiken des Alltagslebens fokussiert und aktivistische Formen | |
ins Auge fasst. | |
Hat die Regierung der vergangenen 15 bis 20 Jahre etwas mit diesem Wandel | |
zu tun? | |
Aber sicher. Denn die Bewegung ist kritischer, seit die AKP an der | |
Regierung ist. Auch der Kampf gegen das Kopftuchverbot war | |
regierungskritisch. Die aktuelle muslimisch-feministische Bewegung | |
engagiert sich aber auch gegen diverse Maßnahmen der Regierung als System. | |
Wie es Aufgabe jeder zivilgesellschaftlichen Institution ist, die | |
derzeitige Regierungspolitik zu kritisieren, so ist auch uns unsere | |
Verantwortung für Kritik bewusst. Ich will nicht sagen, dass wir direkt | |
Anti-AKP wären. Aber wir sind auch keine AKP-Anhängerinnen. Der Wandel, den | |
die Regierung anstrebt, um die Gesellschaft konservativer zu machen, | |
bedroht auch uns. Auch wir tun, was wir können, um uns gegen diese | |
Transformation der Gesellschaft zu wehren. | |
Welche Maßnahmen der AKP bedrohen muslimische Frauen? | |
Wir versuchen, nicht zu denen zu gehören, die die AKP „unsere verhüllten | |
Schwestern“ nennt. Denn alles fängt damit an, nicht die Schwester eines | |
Mannes zu sein. Feminismus erfordert ja auch, nicht irgendjemandes | |
„Schwester“ zu sein. Gesetzentwürfe zur Erleichterung von Eheschließung m… | |
Minderjährigen, Gesetzentwürfe zur Amnestierung solcher Handlungen – diese | |
Vorlagen kamen nicht von der Regierung, sondern von der Opposition. Ich | |
glaube, wenn es um Frauen geht, unterscheiden sie sich nicht wirklich. Das | |
geht alle Frauen etwas an. Auch dass Kommissionen eingerichtet wurden, um | |
die Scheidungsraten zu senken, Maßnahmen zum Schutz der Familie auch gegen | |
das Wohl der Frauen, das ist unsere Sache – wie die aller Frauen in der | |
Türkei. Wir haben das Gefühl, als feministische Frauen mit unserem Glauben | |
eine Verantwortung für solche Themen zu haben. | |
Die Regierung machte den feministischen Nachtmarsch am 8. März in Istanbul | |
unter dem Vorwand des Gebetsrufs zur Zielscheibe. Es wurde behauptet, die | |
Frauen hätten gegen den Gebetsruf protestiert. Was denken Sie darüber? | |
Ich war auf der Nachbereitungssitzung der Demo. Es gab keine Pfiffe gegen | |
den Gebetsruf beim Nachtmarsch. Die Frauen, die den Nachtmarsch organisiert | |
hatten und dann auf der Straße waren, demonstrierten nicht gegen die | |
Religion. Auch wir waren dabei. Die Regierung hat die Sache als Provokation | |
benutzt. Darüber hinaus muss aber auch gesagt werden, dass es eine | |
Frauengruppe gibt, die mit dem Gebetsruf nicht glücklich ist. | |
Welche Gruppe? | |
Für alevitische Frauen stellt der Gebetsruf beispielsweise etwas ganz | |
anderes dar. Ihr Unbehagen ist die eine Sache. Eine völlig andere Sache ist | |
es, eine riesengroße Gruppe Frauen gegen die Religion zu positionieren und | |
als Provokation zu instrumentalisieren. Wenn religiöse Symbole andere | |
Menschen tatsächlich stören, dann sollten wir uns an unsere Verantwortung | |
dafür erinnern. Wenn Menschen wütend auf die Religion sind, dann geht es | |
nicht darum, diese Menschen abzuschaffen, sondern die Gründe für ihren Hass | |
zu verstehen. | |
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe | |
6 May 2019 | |
## AUTOREN | |
Rabia Çetin | |
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