| # taz.de -- Kommentar Leben mit und ohne Kopftuch: Allah hat nichts gegen Damen… | |
| > Unsere muslimische Autorin verzichtet seit 13 Jahren auf das Kopftuch. | |
| > Dass Gott deshalb nicht mit ihr zufrieden ist, ist ihr nicht bekannt. | |
| Bild: Geht auch ohne | |
| Bis vor 13 Jahren, als ich selbst noch das Kopftuch trug und meinen festen | |
| Platz in der islamischen Gemeinde hatte, gab es für mich keine Zweifel, | |
| dass dies das Richtige sei. Ich war eine gläubige Muslimin. Meine Gedanken, | |
| meine Gefühle, mein Glaube waren tief verwurzelt im Gruppendenken, im | |
| Gruppengefühl, im Gruppenglauben. Der Maßstab für Richtig und Falsch, für | |
| Erlaubt und Verboten wurden von der Gemeinde vorgegeben und kontrolliert. | |
| 30 Jahre lang bin ich dem gefolgt. | |
| Nach einem längeren Prozess der inneren Auseinandersetzung legte ich jedoch | |
| das Kopftuch im Jahr 2005 ab. Es war eine für mich radikale Entscheidung. | |
| Ich wollte selbst denken, wollte meine Gefühle kennenlernen und einem neuen | |
| Glaubensverständnis folgen, das Eigenständigkeit zuließ. Seither suche ich | |
| nach Erklärungen für die Irrtümer, denen ich folgte, und die sich mir | |
| damals als absolute Wahrheiten darstellten. | |
| Heute bin ich in einem viel freieren und schöneren Leben angekommen. Ohne | |
| Kopftuch. Dass Gott mit mir nicht zufrieden sei, weil ich nun kein Kopftuch | |
| mehr trage, ist mir nicht bekannt. | |
| Was mich jedoch umtreibt und mich zu diesem Text veranlasst: Ich sehe, wie | |
| sehr sich die deutsche Zivilgesellschaft in der Kopftuchfrage verunsichern | |
| lässt. Und wie religiöse Hardliner diese Unsicherheit und auch Unwissenheit | |
| zu nutzen wissen, um Eingang in all jene gesellschaftlichen Institutionen | |
| zu bekommen, die eigentlich der Trennung von Staat und Religion | |
| unterliegen: Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, Gerichte und | |
| öffentliche Kammern. | |
| In Berlin gibt es seit 2005 das Neutralitätsgesetz, das diese Trennung | |
| vorgibt. Seit einiger Zeit wird es immer mehr in Frage gestellt, vom | |
| Integrationsbeauftragten des Berliner Senats, aber auch von einigen | |
| Politikern. | |
| ## Angriffe auf Berliner Neutralitätsgesetz: fatal | |
| Als ich Ende 2017 in Interviews in der Süddeutschen Zeitung und der Welt | |
| erfuhr, dass das Berliner Canisius-Kolleg eine Lehrerin eingestellt hat, | |
| die ein Kopftuch trägt, dachte ich noch, es sei ein Einzelfall an einer | |
| Privatschule. Die aktuellen Angriffe auf das Berliner Neutralitätsgesetz | |
| indes halte ich für fatal. Politiker der Grünen und der Linken wollen es | |
| ändern oder gar aufheben, damit Lehrerinnen mit Kopftuch auch an | |
| staatlichen Schulen in Berlin ohne Einschränkungen angestellt werden | |
| können. | |
| Der Schulleiter des Canisius-Kollegs bescheinigte seiner neuen Lehrerin in | |
| den Interviews eine „gelungene Integration“, von der seine Schüler mit | |
| muslimischen Wurzeln nur profitieren könnten. Schließlich habe seine Schule | |
| seit zwei Jahren Flüchtlinge aufgenommen und staatlich subventionierte | |
| Willkommensklassen eingerichtet. Eines seiner weiteren Argumente ist, dass | |
| er mit der Zeit gehe, wenn er sein Personal mit Blick auf die Realität | |
| heterogen mische. | |
| Aber ehrlich: Wie zeitgemäß soll es sein, wenn man etwas Unzeitgemäßem wie | |
| dem Kopftuch – ich unterstelle dem Schulleiter dabei unschuldige | |
| Unwissenheit – mit Toleranz begegnet? Wenn man mit seiner wohlgemeinten | |
| Entscheidung noch dazu beiträgt, die dringend nötige Auseinandersetzung mit | |
| diesem Konfliktstoff für die öffentliche Debatte zu ignorieren? | |
| ## Gebete zur Schau stellen | |
| Gläubige sollen ihre Gebete nicht zur Schau stellen, heißt es in Sure 107 | |
| im Koran. Mit dem Kopftuch tut man genau das. In weiteren Suren wiederum | |
| steht, dass gläubige Frauen vor Belästigungen geschützt werden sollen, | |
| indem sie ihren Körper mehr bedecken als etwa Sklavinnen. Es geht demnach | |
| um Schutz, nicht darum, den Körper der Frau unter Stoffhüllen verschwinden | |
| zu lassen. Im Umkehrschluss bedeutet es zudem: Frauen, entsolidarisiert | |
| euch. Wenn Sklavinnen ungeschützt sind, ist es egal. | |
| Passt das heute noch? Wer sind die Sklavinnen von heute? Das Kopftuchtragen | |
| ist Teil der traditionellen Religionspraxis von Muslimen. Es sorgt immer | |
| wieder für Probleme in der zwischenmenschlichen Kommunikation, weil | |
| Vorurteile bestätigt werden und eine künstliche Distanz geschaffen wird. | |
| Viele Kopftuchträgerinnen sind gebildet, verfügen über ein gesundes | |
| Selbstbewusstsein, können ihre Interessen vertreten und bezeichnen sich als | |
| emanzipiert. Warum sie dennoch ein Tuch um ihren Kopf binden, das ist | |
| vielen und auch mir ein Rätsel. | |
| Unter (einer gelungenen) Emanzipation verstehe ich etwas anderes. Sie ist | |
| das Ergebnis eines aktiven Befreiungsprozesses von allem, was einen dabei | |
| einschränkt, ein selbstbestimmtes Mitglied einer aufgeklärten | |
| Menschengemeinschaft zu werden. | |
| Gehorsam im Namen von Religion ist out, Selberdenken und | |
| Selbstverantwortung sind in. Mache ich „Schutz“ zum zentralen Begriff der | |
| Kleidervorschriften im Koran, ist es umso erstaunlicher, dass dem Kopftuch | |
| der muslimischen Frau heute vielerorts so viel Toleranz entgegengebracht | |
| wird. Ja, dass die Verschleierung sogar als (inszenierter) Gradmesser von | |
| Gläubigkeit gesehen wird. Je verschleierter, desto gläubiger? Nicht | |
| wahrgenommen wird dabei, dass das Kopftuch auch als Widerspruch gesehen | |
| werden kann zu dem, was im Koran steht. | |
| Auch wenn es viele verschiedenen Beweggründe gibt, ein Kopftuch zu tragen, | |
| so ist das religiöse Kopftuch eine unmissverständliche Demonstration von | |
| Unterordnung und Gehorsam gegenüber einer von Männern aufgestellten, über | |
| tausend Jahre alten Regel, die sich mit der Erklärung von „Gottes Willen“ | |
| rechtfertigt und sie dadurch legitimiert. | |
| ## Das Kopftuch führt zur Selbstentfremdung der Frau | |
| Was ist das für ein Verständnis von einem allmächtigen Gott und | |
| gottgeschenkter Weiblichkeit, wenn eine Frau sich im Namen Gottes versteckt | |
| und sich dabei emanzipiert meint? Wenn sie sich einer Regel unterwirft, | |
| hinter der die Macht von Männern durch Kontrolle ihres gesamten Lebens | |
| steckt, und dabei von Gottes Willen spricht? Bizarr! Je erwachsener ich | |
| werde, desto mehr lehne ich die Vorstellung ab von einem Gott, der sich in | |
| das Leben von Männern und Frauen einmischt. | |
| Welchen Sinn, wenn nicht den von Herrschaftsansprüchen, verfolgen die | |
| Verfechter einer alten Bekleidungsregel in Zeiten von Wahlfreiheit? | |
| Speziell in Zeiten, in denen Muslime in nichtmuslimischen | |
| Mehrheitsgesellschaften tagtäglich vorgelebt bekommen, dass es auch anders | |
| geht. Man muss hier als muslimische Frau kein Kopftuch tragen. | |
| Schlimm finde ich auch, dass schon junge muslimische Mädchen ein Kopftuch | |
| tragen. Ihre eigene Entscheidung? Keineswegs. Diese Bekleidungsregel | |
| kontrolliert die natürliche Neugierde aufs Leben, die Experimentierfreude | |
| und die Möglichkeit, man selbst werden zu können. Dabei ist die Gefahr der | |
| Selbstentfremdung durch die Unterdrückung von natürlichen Bedürfnissen sehr | |
| groß. | |
| Der Schulleiter eines privaten katholischen Gymnasiums sollte das bedenken, | |
| genau wie auch unsere Politiker, wenn sie meinen, dass eine Lehrerin mit | |
| Kopftuch auch als Vorbild dienen kann. Zudem wird im Interesse der Frauen | |
| und jungen Mädchen kein Wort darüber verloren, wie sehr dieses Kopftuch die | |
| guten Haare zerstört; als hätte Allah was gegen Damenfrisuren. | |
| Das Kopftuch setzt einen Prozess der Selbstentfremdung frei, der eine | |
| monotone Weiblichkeit definiert, die wiederum langfristig eine künstliche | |
| Distanz zum anderen Geschlecht schafft. Das Kopftuch unterstützt | |
| anti-empanzipatorisches und entsolidarisierendes Denken und fördert den | |
| Rückschritt in Bezug auf emanzipatorische Errungenschaften, was die | |
| Frauenbewegungen in den westlichen Nationen seit Jahren beklagen. Die Frau | |
| verschwindet optisch im Kollektiv und entmachtet sich selbst. | |
| Emel Zeynelabidin, Jahrgang 1960, ist gläubige Muslimin, Autorin und | |
| Aktivistin des interreligiösen Dialogs. 2005 legte sie das Kopftuch ab. Sie | |
| ist Trägerin des Luther-Preises und des Frauenbrücke-Preises. | |
| 17 Feb 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Emel Zeynelabidin | |
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