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# taz.de -- Lockdown in Österreich: Unserer Zeit voraus
> In Österreich gilt seit Montag ein landesweiter Lockdown. Unsere Autorin
> ist in Wien zu Besuch und fühlt sich, als reise sie in Deutschlands
> Zukunft.
Bild: Ich bin dann mal weg: Wien am Dienstag im Lockdown
Wien taz | Leer sind die Straßen in Wien, auch an einem sonst so
geschäftigen Dienstagmorgen. Still ist die Stadt, auf die ich durch das
Fenster blicke. Das Leben spielt sich wieder hinter Fenstern ab. Davor das
lahmgelegte Draußen. Man kennt diesen Zustand hier bereits. [1][Lockdown
Nummer vier]. Oder? Manche haben wohl schon aufgehört zu zählen.
Am Freitagmorgen, den 19. November, steige ich am Berliner Südkreuz in den
ICE nach Wien. Ich will meine Freundin Hannah besuchen, die Reise ist schon
lang geplant, und trotz hoher Infektionszahlen in Österreich will ich sie
nicht absagen. Acht Stunden Fahrt liegen vor mir. Ich mache es mir bequem,
hole ein Buch aus der Tasche. Mein Handy blinkt auf, Nachricht von Hannah:
„Es wurde gerade ein landesweiter Lockdown ab Montag angekündigt.“ Ich
seufze und fühle: nicht viel. Lockdown. Das Wort löst keine Panik mehr in
mir aus, keine Unsicherheit dem gegenüber, was da wohl kommen mag.
Lockdown, das wirkt auf eine bittersüße Weise vertraut. „Stockholmsyndrom�…
denke ich. Ich entwickle Sympathien gegenüber dem, was mich quält.
Ich blicke auf das Buch in meinem Schoß: Albert Camus, „Die Pest“. Lange
hatte ich mich dagegen gewehrt, den Klassiker zu lesen, als es zu Beginn
der Pandemie auf einmal alle taten. Damals dachte ich, ich lebe schließlich
in einer Pandemie, da muss ich nicht auch noch darüber lesen. Doch in den
letzten Monaten wirkte Corona dank des Impfstoffs so fern, dass ich mich
doch daranwagte. Da sitze ich nun und die Pandemie ist da wie nie zuvor.
Das muss dieses „Ich fühle mich wie in einem schlechten Film“-Gefühl sein.
Ich antworte Hannah, ich käme trotzdem, sei ja eh schon auf dem Weg,
schicke ihr ein Foto von meiner Zuglektüre und schreibe: „Und das hier ist
dann ja wohl auch wieder aktuell.“
Am frühen Abend steige ich aus dem Zug. Hannah hat einen Termin für mich in
einer PCR-Testbox reserviert. In Österreich gibt es kostenlose PCR-Tests
für alle. In Wien werden vermehrt sogenannte Gurgeltests eingesetzt,
erhältlich im Supermarkt. Man gurgelt vor laufender Kamera und gibt den
Test auch im Supermarkt wieder ab. Das Ergebnis kommt binnen 24 Stunden.
Wieso haben wir so etwas nicht auch in Deutschland?, frage ich mich. Bei
der Testbox versprechen sie ein Ergebnis innerhalb weniger Stunden. Das
brauchen wir, denn Hannah und ich wollen am nächsten Abend noch in die
Oper. Am Wochenende vor dem Lockdown ist in Österreich noch alles geöffnet,
bei Kulturveranstaltungen gilt 2G+. Die Schlange vor der Teststation ist
lang, viele wollen das „normale“ Leben ein letztes Mal ausschöpfen.
„Normal“ hat seine Bedeutung schon seit März 2020 verloren. Ein Mann
überhört unser Gespräch, lässt uns den Vortritt: „Nicht, dass ihr noch eu…
Oper verpasst.“
## „Normales“ Leben genießen
In Österreich liegt die landesweite 7-Tage-Inzidenz aktuell bei über 1.000.
Seit Montag gilt: das Verlassen der Wohnung ist nur zum Einkaufen von
Lebensmitteln, zum Arbeiten oder zum Spazierengehen erlaubt. Gastronomie,
Hotels, Kultureinrichtungen und Handel sind geschlossen. Nachdem die
Einschränkungen eine Woche lang [2][nur für Ungeimpfte] galten, müssen nun
alle zu Hause bleiben. Für Geimpfte gilt der Lockdown für zwanzig Tage, für
Ungeimpfte auf unbestimmte Zeit. [3][Rund 40.000 Menschen demonstrierten]
am vergangenen Samstag gegen die beschlossenen Maßnahmen, darunter
Neonazis, Rechtsextremist:innen und gewaltbereite Hooligans. Der
Protest ist zu einem wiederkehrenden Element geworden. Wir meiden die
Innenstadt, so gut es geht.
Am Wochenende genießen Hannah und ich getestet und geimpft die letzten
Stunden des Lebens ohne Lockdown. Wer weiß, was nach dem Lockdown neue
Normalität wird. Die Kellnerin verabschiedet uns am Abend mit den Worten:
„Macht’s gut, wir sehen uns dann in 20 Tagen. Oder im Januar. Oder doch im
April, wer weiß das schon?“ Sie grinst und eine Spur Verzweiflung funkelt
in ihren Augen. Wir grinsen zurück. Aus Mangel an Alternativen. Wir nehmen
ein Taxi, wollen die überfüllte U-Bahn meiden. Ganz Wien scheint
glühweintrinkend auf den Beinen zu sein, der österreichische Handelsverband
berichtet ein Umsatzplus von durchschnittlich 15 Prozent im Vergleich zu
2019.
Den Taxifahrer frage ich, wie es ihm ginge mit dem bevorstehenden Lockdown.
Schlecht gehe es ihm, sagt er, die Zahl der Kundschaft sei auch im Sommer
nicht zurück auf das Niveau vor der Pandemie gestiegen. Und nun gäbe es
wohl bald wieder kaum einen, der ein Taxi brauche. Aber so sei das halt.
Schulterzucken. Albert Camus schreibt 1947: „Es gab damals keine
individuellen Schicksale mehr, sondern eine kollektive Geschichte, nämlich
die Pest und von allen geteilte Gefühle.“ Geben wir uns zu leicht, zu
resigniert dem altbekannten Ausnahmezustand hin?
## Wiederholendes Muster
Es ist 2021 und ich werde das Gefühl nicht los, ich hätte diesen Text
bereits vor einem Jahr schreiben können. Auch in Deutschland überschreitet
die 7-Tage-Inzidenz an einigen Orten die 1.000. In Bayern gilt bereits
Lockdown für Ungeimpfte, in Thüringen eine nächtliche Ausgangssperre für
Ungeimpfte. Weihnachtsmarkt für Weihnachtsmarkt wird in ganz Deutschland
abgesagt.
Ein Muster wiederholt sich: Österreich legt vor, Bayern zieht nach und
irgendwann ganz Deutschland. So war es im Frühjahr 2020, so war es im
November 2020, so wird es vielleicht auch diesmal sein. Meine Reise nach
Wien gleicht einer Reise in die Zukunft, die mich vermutlich bald in Berlin
erwarten wird. „Lockdown-Touristin“ nenne ich mich im Scherz.
Hannah und ich haben es uns in ihrer Wiener WG gemütlich gemacht. Wir
löffeln Linsensuppe und schauen wieder einmal aus dem Fenster. Es ist
längst dunkel. Doch auch am Tag ist draußen wenig zu sehen. Ich fühle mich
beunruhigend sicher, hier im altbekannten Ausnahmezustand.
24 Nov 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Nele Sophie Karsten
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