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# taz.de -- Linke US-Demokraten: Die den Alten das Fürchten lehrt
> Alexandria Ocasio-Cortez ist Latina. Sie war Bardame, Kellnerin und
> Sozialarbeiterin. Jetzt tritt die Linke bei den Parlamentswahlen an.
Bild: Links und erfolgreich: Alexandria Ocasio-Cortez bei einem Spaziergang dur…
New York taz | Ein Gespenst geht um in New York. Es hat das Aussehen einer
Madonna. Ein mitreißendes Redetalent. Und die Absicht, die Verhältnisse zu
verändern. Alexandria Ocasio-Cortez, so der Name, will Dinge durchsetzen,
von denen sie sagt, dass „alle anderen entwickelten Nationen“ sie längst
haben: Krankenversicherungen für jeden; Mindestlöhne, von denen mensch
leben kann; kostenfreie Universitäten und Klimapolitik. Junge Leute –
insbesondere Frauen – fühlen sich magisch angezogen. Aber die
VerteidigerInnen des Status quo – von der Republikanischen Partei bis hin
zu Apparatschiks der DemokratInnen – mahnen vor einer kommunistischen
Unterwanderung.
Die 28-Jährige lacht über solche Mahnungen. „Panikmache“ wischt sie es we…
„das hat nichts mit den Bedürfnissen der Wähler zu tun“. Wenn nicht etwas
ganz Unerwartetes geschieht, wird sie im nächsten Januar als jüngste Frau
der Geschichte für die DemokratInnen in das Repräsentantenhaus einziehen.
Schon jetzt ist sie der Star unter den progressiven KandidatInnen im
Wahlkampf.
Als sie in New York City zur Welt kam – mit einer Mutter aus Puerto Rico
und einem Vater aus der Bronx – hatte die Mauer von Berlin noch exakt drei
Wochen und sechs Tage vor sich. Der real existierende Sozialismus, die
Sowjetunion, die Übungen in der Schule, bei denen die Kinder zum Schutz vor
Atombombenangriffen unter ihre Pulte kriechen mussten – all das ist
Prähistorie für sie. Berührungsängste mit Worten, die einst in den USA
Schimpfworte waren, hat sie nicht. Sie beschreibt sich als Frau „aus der
Arbeiterklasse“ und ist Mitglied der Democratic Socialists of America
(DSA), einer Gruppe, die eines Tages den Kapitalismus überwinden will.
## Eine neue Generation
Ihre Generation ist von Erfahrungen nach dem Ende des Kalten Kriegs
geprägt. Alexandria Ocasio-Cortez war 11 Jahre alt, als die Flugzeuge in
die Türme des World Trade Center am Südzipfel ihrer Stadt flogen und die
USA den „Krieg gegen den Terror“ eröffneten. Sie war 17, als die
Finanzkrise Millionen Mittelschichtfamilien um Arbeit, Haus und ihre
kompletten Ersparnisse brachte. Und sie war gerade volljährig, als der
erste afroamerikanische Präsident des Landes mit dem Versprechen von
Hoffnung und Veränderung antrat. Dann kam Donald Trump.
Am 26. Juni gewann die bis dahin unbekannte Alexandria Ocasio-Cortez mit 15
Prozent Vorsprung die Primaries der Demokratischen Partei in dem
vielfältigsten Wahlkreis, den die USA zu bieten hat. Der Distrikt 14
erstreckt sich im Nordosten von New York von der südlichen Bronx über das
nördliche Queens. Spanisch ist die erste Muttersprache. Weiße sind in der
Minderheit. 20 Prozent der Kinder und 16 Prozent der RentnerInnen leben
unter der Armutsgrenze. Republikaner haben in Distrikt 14 keine Chance. Die
Demokratische Partei hat den Wahlkreis fest im Griff.
Die große Öffentlichkeit nahm das Gesicht von Alexandria Ocasio-Cortez zum
ersten Mal an dem Abend wahr, als sie mit vor Staunen weit aufgerissenen
Mund und Augen ihren Wahlsieg auf einem Bildschirm sah. Niemand hatte ein
solches Ergebnis bei den Vorwahlen unter den Demokraten erwartet. Die
MeinungsforscherInnen hatten sie als haushohe Verliererin eingeschätzt. Die
Demokratische Partei wägte sich mit dem 56-jährigen Amtsinhaber Joe Crowley
in Sicherheit. Er saß seit 20 Jahren im Repräsentantenhaus; seine engen
Kontakte zur Wall Street machten ihn zu einem der besten Fundraiser der
DemokratInnen, und er war parteiintern bereits für höhere Positionen im
Gespräch. Crowley lebt zwar längst nicht mehr in Distrikt 14, sondern in
einer Vorstadt von Washington, aber seine Position schien so unanfechtbar,
dass sich jahrelang keinE DemokratIn traute, gegen ihn anzutreten.
Als Alexandria Ocasio-Cortez ihn herausforderte, nahm Crowley das zunächst
nicht ernst. Bei der ersten Debatte mit ihr ließ er sich von einer
befreundeten demokratischen Politikerin vertreten. Erst zur zweiten Debatte
erschien er persönlich. Aber es gelang ihm nicht, neben Alexandria
Ocasio-Cortez zu bestehen. Er war der Mann des Status quo. Sie fand Worte
für die Veränderungen, nach denen die WählerInnen verlangen. Und sie
wusste, wie die WählerInnen in Distrikt 14 leben. Schließlich ist sie
selbst Latina und teilt das Misstrauen gegen den Apparat der Partei. Zu
ihrem Repertoire gehört auch die Sprache radikaler Linker, die ein
demokratischer Apparatschik wie Crowley unmöglich benutzen kann. Und wenn
weder ein Mikrofon noch ein Megafon vorhanden ist, greift Alexandria
Ocasio-Cortez zu dem subversiven „Mic Check“, das die
Occupy-Wall-Street-Bewegung von 2011 benutzt hat. Dabei sagt einE RednerIn
ein paar Worte, und die Menschen um sie herum wiederholen sie so lange, bis
alle sie gehört haben.
## Ohne Geld der Konzerne auskommen
Zweieinhalb Monate nach ihren Primaries steht Alexandria Ocasio-Cortez
wieder vor WählerInnen in der Bronx. Der Raum ist brütend heiß, die
Ventilatoren machen einen Höllenlärm und die Tonanlage ist ausgefallen. Auf
dem grünen Kleid der jungen Frau sind Schweißflecken zu erkennen. „Wir
haben eine politische Maschine entmachtet“, ruft sie unter dem Jubel der
Anwesenden, „es war People Power gegen das Geld der großen Konzerne.“
Als Crowleys’ Wahlkampfkasse bereits mit 3 Millionen gefüllt war, hatte
Alexandria Ocasio-Cortez nur 300.000 Dollar in kleinen Spenden von
Privatpersonen gesammelt. Es war ein ungleicher Kampf. Aber Alexandria
Ocasio-Cortez will ihn genau so fortsetzen. Sie verspricht, dass sie auch
in Zukunft kein Geld von Konzernen annehmen wird. Im Raum sitzen braune,
schwarze und weiße Leute, fast alle sind jung, viele sind seit Trumps’ Wahl
immer wieder auf die Straße gegangen. Andere sind an diesem Abend zum
ersten Mal überhaupt bei einer politischen Veranstaltung. Aber Alexandria
Ocasio-Cortez’ Verzicht auf Geld von Unternehmen betrachten alle als
überzeugend. Sie wissen, dass Geld korrumpiert, und dass PolitikerInnen,
die Millionen von ImmobilienspekulantInnen kassieren, allenfalls während
des Wahlkampfs über Mietpreiskontrollen sprechen.
„Die Bronx ist ein hartes Pflaster“, sagt Diana Finch von der Gruppe „Bro…
Progressives“, die den Abend ausgerichtet hat, um neue AktivistInnen zu
finden, „alles hier ist komplizierter. Es gibt Sprachbarrieren, viele Leute
haben nie Staatsbürgerkundeunterricht gehabt, und selbst die Eintragung in
das Wählerregister ist aufwendiger als anderswo.“ Das Team „Ocasio 2018“
hat um jedeN WählerIn einzeln geworben. Anstatt teure TV-Spots zu schalten,
haben die AktivistInnen an Wohnungstüren geklopft, haben immer wieder die
Notwendigkeit von Wahlen erklärt, und gegen das resignierte „es ändert sich
ja doch nichts“ angeredet. Alexandria Ocasio-Cortez versteht Hartnäckigkeit
und Geduld als Tugenden von AktivistInnen. Sie ist überzeugt, dass sich das
Werben um jede Person lohnt – ganz egal wie gleichgültig, zynisch oder
enttäuscht sie sein mag. „In meiner eigenen Familie gibt es Leute“, ruft
sie in den brütend heißen Raum hinein, „die schon über 50 sind und noch nie
gewählt haben.“ Dafür müsse sich niemand schämen.
Bevor sie Politikerin wurde, war sie Bardame, Kellnerin, Erzieherin,
Sozialarbeiterin und Aktivistin. Sie hat in Boston einen Bachelor in
Wirtschaftswissenschaften und internationalen Beziehungen gemacht und hat
dort auch eine Weile im Büro des demokratischen Senators Ted Kennedy
gearbeitet. Doch 2008 starb ihr Vater an Krebs und der Familie fehlte Geld.
Sie kam nach New York zurück, um der Mutter zu helfen.
## Mr. Trump spielt in ihrem Wahlkampf keine Rolle
Im Wahlkampf sind die Reden von Alexandria Ocasio-Cortez immer feuriger
geworden. Sie verlangt eine bessere Ausstattung der Schulen, eine
Strafjustizreform und die Auflösung der Ausländerpolizei ICE. Sie bedient
ein breites Spektrum an Themen. Aber den Namen des US-Präsidenten erwähnt
sie fast nie. Während andere DemokratInnen ihn in ihren Kampagnen als
Feindbild benutzen, um sich selbst als besonders links darzustellen,
konzentriert Alexandria Ocasio-Cortez sich auf konkreten Anliegen. Selbst
in ihrem Video kommt Trump nicht vor. Der Film erzählt aus ihrem Leben –
von einer Frau aus der Bronx, die „nicht dafür bestimmt war, in die Politik
zu gehen“. Es ist eine Lowbudgetproduktion, die ein Team mit dem Namen
„Produktionsmittel“ gedreht hat. Die Schauplätze sind Alexandria
Ocasio-Cortez’ Wohnung, die Subway und Menschen und Straßen in der Bronx.
Und der Film wurde zu einem unmittelbaren Klickerfolg.
Wie so oft ist Alexandria Ocasio-Cortez auch an diesem Abend in der Bronx
eine der jüngeren und eine der zierlichsten Personen. Aber sie beherrscht
den Raum, als hätte sie schon Jahre als Politikerin hinter sich. In einer
Pause bildet sich eine Schlange von Leuten, die Selfies mit ihr machen und
ihr Fragen stellen wollen. Die 15-jährige Anais möchte wissen, wie sie „in
die Politik gehen“ kann. Sie bekommt den Rat: „Finde heraus, was die
Community will.“ Die 75-jährige Vanessa Pastrano möchte eine Botschaft für
Frauen in Puerto Rico filmen. Die Kandidatin schaltet auf Spanisch und
spricht aus dem Stegreif eine aufmunternde Rede in das Handy. Auf Spanisch
gestikuliert sie noch heftiger mit ihren Händen.
Aus der Spitze der Demokratischen Partei kommen gemischte Botschaften. „Die
Partei muss sich ändern“, hat Alexandria Ocasio-Cortez angekündigt und
hinzugefügt, dass sie nicht für die SpitzenfunktionärInnen stimmen wird,
die seit Jahren die Fäden in der Hand halten. Viele Medien vergleichen den
Wahlerfolg der linken Rebellin mit den Anfängen der radikalrechten
Tea-Partyer, die in den Jahren vor Trump führende Abgeordnete der
Republikanischen Partei verdrängten.
Für Tom Perez, den Chef der Demokratischen Partei, ist Alexandria
Ocasio-Cortez „die Zukunft der Demokraten“. Aber die Chefin der Fraktion im
Repräsentantenhaus, Nancy Pelosi, will ihr nur einen lokalen Erfolg in New
York zugestehen, den sie für „nicht übertragbar“ hält. Der ehemalige
Präsidentschaftskandidat, Senator Bernie Sanders, hingegen macht sofort
gemeinsame Sache mit Alexandria Ocasio-Cortez. Unter anderem reisen die
beiden zusammen nach Kansas, um dort gemeinsam einen demokratischen
Sozialisten im Wahlkampf zu unterstützen.
Für Sanders sind die demokratischen SozialistInnen, die seine EnkelInnen
sein könnten, eine späte Genugtuung. In seinen eigenen Primaries vor
zweieinhalb Jahren hatte die letztlich erfolgreiche Hillary Clinton seine
Basis die „Bernie Bros“ genannt und ihnen „Sexismus“ vorgeworfen. Doch …
Jahre später tragen vor allem junge Frauen Sanders’ Botschaft.
Auch Alexandria Ocasio-Cortez half im Wahlkampf von Sanders. Nach dem
Wahlsieg von Trump im November 2016 fuhr sie zu dem Protestlager im
Sioux-Reservat „Standing Rock“, wo UreinwohnerInnen und städtische Linke in
einer Zeltstadt gegen eine Ölpipeline demonstrierten. In der tief
verschneiten Prärie im Mittleren Westen reifte, so sagt sie heute, ihre
Entscheidung, den Kongress zu erneuern.
## Amerikas Demokratische Sozialisten im Aufwind
Carlos Suarez hat die junge Frau erstmals bei einem Treffen von
Bernie-Sanders-WahlhelferInnen getroffen, die über ihre Zukunft debattieren
wollten. Seither kam sie zu den Sitzungen der Gruppe „Bronx Progressives“,
die im Keller von Suarez’ Haus in der Bronx stattfinden. Nach Einschätzung
des 68-Jährigen war die linke Rebellion fällig. „Die jungen Leute sind
nicht mit der Abhängigkeit der Partei von Geld aus Konzernen einverstanden
und wollen eine Demokratisierung“, sagt er. Der Linksruck wäre auf jeden
Fall gekommen, glaubt Suarez. Aber Trumps’ Wahl beschleunigte ihn.
Hunderte KandidatInnen aus der Gruppe Democratic Socialistis of America
(DSA) haben in diesem Sommer so wie Alexandria Ocasio-Cortez versucht, die
demokratische Nominierung für Sitze im Repräsentantenhaus und in den
Legislativen der Bundesstaaten zu bekommen. Mit dieser Strategie sind neben
Ocasio-Cortez in New York auch Newcomer in Seattle, Boston und Michigan
erfolgreich gewesen. An vielen anderen Orten haben die demokratischen
Sozialisten die Primaries nicht gewonnen. Aber überall haben sie frischen
Wind in den Wahlkampf der DemokratInnen gebracht. Und sie haben Themen –
wie die Krankenversicherung für alle – zum Programm der Partei gemacht, die
noch im letzten Präsidentschaftswahlkampf als „utopisch“ galten.
Die Democratic Socialistis of America führte jahrzehntelang ein
Schattendasein. Michael Harrington, der die Gruppe im Jahr 1982 gründete,
wollte „die Macht der Konzerne schwächen und die Erwerbstätigen stärken“.
Er bewunderte die Ostpolitik Willy Brandts. Und er machte die Democratic
Socialistis zu einem Mitglied der Sozialistischen Internationale. Aber
erst mit Trumps’ Wahl schossen die Mitgliederzahlen in die Höhe. Sie
stiegen von nur 7.000 Mitgliedern im Sommer 2017 auf immerhin 70.000
Mitglieder in diesem September. Das mag zwar immer noch eine kleine Zahl in
einem Land mit 320 Millionen EinwohnerInnen sein. Aber es macht die Gruppe
zur größten sozialistischen Organisation in den USA seit einem Jahrhundert.
Mit der Mitgliederexplosion ging auch eine dramatische Verjüngung einher.
Das Durchschnittsalter der DSA-Mitglieder, das noch im Jahr 2013 bei 68
lag, ist inzwischen auf 33 Jahre gesunken.
Manche DSA-Mitglieder in New York haben sich in diesem Sommer in
Studiengruppen getroffen, um gemeinsam Karl Marx und Rosa Luxemburg zu
lesen. Ein paar diskutieren auch über die Kontrolle der Produktionsmittel.
Alexandria Ocasio-Cortez tritt sanfter auf. Sie bezeichnet Jacinda Ardern,
die sozialdemokratische Premierministerin von Neuseeland, als Vorbild und
Inspiration. Ihren eigenen Sozialismus definiert sie als „eine moderne
moralische Gesellschaft, die es nicht zulassen kann, dass Menschen zu arm
werden, um zu leben“. Und an das Ende ihrer E-Mails schreibt sie „Pa’lant…
– eine „Neyorican“-Version des alten sozialdemokratischen Rufs: Vorwärts!
In dem konservativen Mainstream der USA ist das revolutionär genug.
23 Sep 2018
## AUTOREN
Dorothea Hahn
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