# taz.de -- Künstler in der Türkei: Im Zustand tiefer Depression | |
> Die Türkei steht kurz vor den Parlamentswahlen. Momentaufnahmen aus der | |
> ziemlich verunsicherten Istanbuler Kunstszene. | |
Bild: „Finde mich“ von Hüsamettin Kocan | |
Ein Bauarbeiter im weißen Kittel hält einen toten Kollegen im Blaumann auf | |
den Armen. „Dignity – Würde“, das Werk des türkischen Künstlers Yeni A… | |
überträgt eine mythische Ikonologie in die Gegenwart. Die Figur des | |
gefallenen Soldaten, mit der der türkische Bildhauer Tankut Oktem einst die | |
gefallenen osmanischen Soldaten des Ersten Weltkriegs verherrlicht hatte, | |
wird zum Memorial für die Opfer des Wirtschaftsbooms in der Türkei heute. | |
Seit ein paar Tagen hängt das riesige Foto, das Anit für die 3. | |
Canakkale-Biennale 2012 geschaffen hatte, nun an einer Häuserwand in | |
Istanbul – Schauplatz eines rasanten Baubooms, der jedes Jahr Hunderte Tote | |
fordert. | |
Das Beispiel ließe sich als Beleg dafür nehmen, dass die Zivilgesellschaft | |
lebt in der Türkei. Als die winzige Canakkale-Biennale im Südwesten der | |
Türkei dieser Tage eine Auswahl ihrer Arbeiten der letzten Jahre in der | |
türkischen Metropole präsentierte, war das alte Tabaklager im Stadtteil | |
Tophane, das heute einen unabhängigen Art-Space beherbergt, überfüllt. | |
Keine Polizei beschlagnahmte kritische Kunstwerke. | |
Tags zuvor hatte das unabhängige Istanbuler Filmfestival zusammen mit der | |
Open-Society-Stiftung des Milliardärs George Soros einen Filmfonds für | |
kritische junge Filmemacher aufgelegt, darunter einen speziell für | |
türkisch-armenische Koproduktionen. Ohne öffentlichen Aufschrei hatte die | |
Istanbuler Stiftung für Kunst und Kultur (IKSV) den armenischstämmigen | |
Künstler Sarkis als Vertreter der Türkei auf der Venedig-Biennale im Sommer | |
vorgestellt. | |
## Parallele Welten | |
Und 2016 tritt die Türkei wieder beim Grand Prix d’Eurovision an, dem sie | |
ob des Sieges der Transsexuellen Conchita Wurst vergangenes Jahr empört den | |
Rücken gekehrt hatte. Steht es womöglich doch nicht so schlimm mit der | |
Kunst- und Meinungsfreiheit im Staate Erdogan? | |
Wer dieser Tage Künstler und Intellektuelle befragt, dem schlägt freilich | |
tiefe Depression entgegen. „Wir leben in parallelen Welten“, versucht | |
Kubilay Ozmen die komplizierte Psychologie der türkischen | |
Kulturintelligenzia zu erklären. Im letzten Jahr konnte der Istanbuler | |
Künstler noch mit der Ausstellung „Never again“ durch sein Land touren, die | |
Beispiele staatlicher Entschuldigungsgesten demonstrierte: von derjenigen | |
Konrad Adenauers 1951 gegenüber den Juden bis zur Abbitte des serbischen | |
Präsidenten Tomislav Nikolic 2013 für das Massaker von Srebrenica. Trotzdem | |
ist Ozmen „sehr pessimistisch“. | |
Er hat allen Grund dazu. Bei den Parlamentswahlen Anfang Juni deutet nichts | |
auf ein Ende der AKP-Regierung hin. In Hunderten türkischen Kinos ist | |
gerade der sinistre Propagandafilm „K.O.Z.“ angelaufen, der die | |
AKP-Botschaft von dem ominösen „Parallelstaat“ unters Volk bringen soll, | |
dessen sich die Regierung erwehren müsse. | |
Der zwischen Berlin und Istanbul pendelnde Künstler Yusuf Etiman spricht | |
angesichts dieses Klimas schon von den „letzten Wahlen“. Während der | |
Soziologe Ali Akay von der Mimar-Sinan-Universität einen „Semi-Faschismus“ | |
in der Türkei dämmern sieht, erwartet sein Politologiekollege Cengiz Aktar | |
vom Istanbul Policy Center und Kolumnist der kritischen Website T24 noch | |
keine offene Diktatur. Er rechnet aber mit einem „Putin-ähnlichen Regime“ | |
in der Türkei. | |
## Terror der Unsicherheit | |
In der Tat: Bringt die Regierung ihre neuen „Sicherheitsgesetze“ durch das | |
Parlament, kann die Polizei missliebige Personen wegen eines „vernünftigen | |
Verdachts“ verhaften, ohne dass ein Richter Haftbefehle unterschreiben | |
muss. „Die Sicherheitsgesetze werden der Zivilgesellschaft das Genick | |
brechen“, sagt auch Ilksen Mavituna, ein junger Istanbuler Philosoph, der | |
beim ACIK Radyo 94,4 arbeitet, einem der wenigen unabhängigen Medienorgane. | |
„Es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken. Sonst würden wir unseren | |
Verstand verlieren“, erklärt Amira Akbiyikoglu von der Istanbuler | |
Pilot-Galerie, warum der Alltag trotzdem einfach weitergeht. | |
„Was uns zermürbt, ist der Terror der Unsicherheit“, fasst die junge | |
Kuratorin Deniz Erbas die Stimmung zusammen. So brutal, wie die Regierung | |
jüngst gegen den Schulboykott vorging, mit dem Eltern und Gewerkschaften | |
Front gegen der obligatorischen Religionsunterreicht machen wollten, klingt | |
Ali Akays These, dass Präsident Erdogan „im Kern Angst“ habe, wie frivoler | |
intellektueller Luxus. | |
Beim Kaffee im Hotel Marmara am Taksim-Platz, dem Stammsitz der Istanbuler | |
Intellektuellen, argumentiert er mit dem massiven Cordon von | |
Sicherheitsbeamten und gepanzerten Fahrzeugen, der Erdogan überall umgibt. | |
Und Zeynep Akan vom nichtkommerziellen Kunstzentrum Salt im Stadtteil | |
Beyoglu entfährt auf die Frage nach der Gezi-Bewegung nur der | |
melancholische Stoßseufzer: „Es stimmt, wir haben diese Gezi-Erfahrung. | |
Aber wir wissen nicht, wie wir weitermachen sollen.“ | |
## „Gott will es so“ | |
Mit Ausnahme von Kutlug Ataman oder Tugce Kazaz findet sich kaum ein | |
Künstler, der für Erdogan eintritt. Der Filmemacher hatte sich während der | |
Gezi-Kämpfe unerwartet auf die Seite des Autokraten geschlagen. Seitdem | |
wird er von der Kulturszene geschnitten. Das ehemalige Model Kazaz fungiert | |
als muslimisches Role-Model. Nach der Heirat mit einem Griechen | |
konvertierte die „Miss Turkey“ des Jahres 2001 zur orthodoxen Kirche, wurde | |
schließlich Buddhistin. Vor kurzem kehrte sie zum Islam zurück und | |
verzichtet seitdem demonstrativ auf Rauchen, Nachtleben und Alkohol. | |
Als der Eröffnungsabend der kleinen Canakkale-Schau zu Ende geht, steht | |
plötzlich eine Gruppe Männer in religiösen Gewändern vor der Tür. Sie | |
wollen wissen, was die Künstler mit „unseren Helden“ gemacht haben, und | |
raten den auf der Straße stehenden Frauen, ihre Gesichter zu verhüllen: | |
„Gott will es so.“ | |
Die immer heftigeren Versuche von Politik und Religion, die unbotmäßige | |
Kunst einzuschüchtern, gleichen der Bewegung auf Nikita Alexeevs Werk | |
„Seven Strokes to Water“ von 2012. Bei seinem Reenactment sieht man den | |
russischen Künstler am Strand der Dardanellen bei Canakkale mit einem Stock | |
auf das fließende Wasser einschlagen. So ließ der Perserkönig Xerxes bei | |
seinem Feldzug gegen die Griechen 400 Jahre vor unserer Zeitrechnung die | |
Fluten der Meerenge auspeitschen. Das Meer hatte seinen Versuch zunichte | |
gemacht, eine Brücke an das andere Ufer zu schlagen. | |
22 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
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