# taz.de -- Künftiger Premier Großbritanniens: Boris Johnson am Ziel | |
> Großbritanniens Konservative küren den Brexit-Wortführer zum neuen | |
> Premierminister. Aber nachdem die Partei ihn gewählt hat, könnte sie ihn | |
> lahmlegen. | |
Bild: Boris Johnson meint, dass er es voll drauf hat | |
BERLIN taz | Der Favorit verspätete sich, sein Einzug in das | |
Queen-Elizabeth-Konferenzzentrum gegenüber vom Parlamentssitz in London am | |
Dienstagmittag geschah heimlich. Wie schon während seines Wahlkampfs um die | |
Führung der britischen Konservativen mied Boris Johnson auch am Tag seines | |
Sieges die Öffentlichkeit weitestgehend. Aber als er zusammen mit seinem | |
Kontrahenten Jeremy Hunt auf die Bühne gebeten wurde und seinen üblichen | |
pseudo-erstaunten Blick aufsetzte, war klar: Hier kommt Großbritanniens | |
zukünftiger Premierminister. | |
Mit 92.153 Stimmen – 66,4 Prozent – hat Boris Johnson die Urwahl um die | |
Parteiführung für sich entschieden, fast eine Zweidrittelmehrheit. Nach | |
einem TV-Bericht hatte sein Gegner Hunt, der sich für viel kompetenter | |
hält, bis zuletzt auf einen Überraschungssieg gehofft und erwogen, eine | |
Neuauszählung zu verlangen. Dann landete er bei 46.656 Stimmen und 33,6 | |
Prozent. An der Briefwahl beteiligten sich 87,4 Prozent der 159.320 | |
stimmberechtigten konservativen Parteimitglieder. | |
Jeremy Hunt, der amtierende Außenminister, sprang als Erster auf und | |
gratulierte Johnson herzlich. Sie beide wissen: Es geht jetzt darum, eine | |
an den Rand der Spaltung getriebene konservative Partei wieder | |
zusammenzuführen. Nicht nur [1][der lähmende, fast zwei Monate währende | |
parteiinterne Wahlkampf] hat die tiefen Gräben in der ältesten | |
Regierungspartei Europas offengelegt. Die dreijährige Amtszeit Theresa | |
Mays, die jetzt zu Ende geht, und der alles überlagernde Streit um den | |
Brexit haben die Tories zerfleischt, den Staat gelähmt, das Land | |
handlungsunfähig gemacht und die Gesellschaft polarisiert. | |
„Deliver Brexit; Unite the country; Defeat Corbyn“ – dieser Dreiklang war | |
Johnsons Wahlkampfmotto, und er griff auch in seiner kurzen Siegesrede | |
darauf zurück. „DUD“ hatte dieses Programm intern geheißen – die Abkür… | |
ist zugleich das englische Wort für „Rohrkrepierer“. Johnson tönte jetzt, | |
er werde einen vierten Punkt hinzufügen: „Energize the country“ – neue | |
Energie für das Land. Der Zusatz, dass sich damit auch ein Premier Johnson | |
vom „dud“ zum „dude“ verwandeln soll, war gar nicht nötig. | |
Über seine genauen Pläne wird Boris Johnson erst Auskunft geben, wenn er am | |
Mittwoch tatsächlich das Amt des Premierministers übernimmt und danach | |
seine neue Regierung bildet. Eine nichtöffentliche Fraktionssitzung am | |
Dienstagabend dürfte das alles in einer Weise vorbereiten, die | |
innerparteilichen Schaden in Grenzen hält. Die Partei ist derzeit geradezu | |
krampfhaft um Versöhnlichkeit bemüht. | |
Im Queen-Elizabeth-Konferenzzentrum flehte Fraktionsführer Charles Walker, | |
der die Veranstaltung eröffnete, die anwesenden Parlamentarier und | |
Parteigrößen an, „zum nächsten Premierminister netter zu sein als zur | |
letzten Premierministerin“. Kurz zuvor hatte Theresa May in 10 Downing | |
Street ihre letzte Kabinettssitzung geleitet, zu deren Abschluss die | |
versammelten Minister ihr eine Liberty-Handtasche und eine | |
Lalique-Halskette schenkten, nachdem sie gemeinsam 1.500 britische Pfund | |
für ein Abschiedsgeschenk zusammengelegt hatten. | |
## Nur noch drei Mandate Mehrheit | |
Aber auch in verordneter Harmonie sind die Hürden dafür, dass Boris Johnson | |
als Premierminister überhaupt irgendetwas umsetzen kann – egal was –, | |
immens. Die konservative Parlamentsfraktion schmilzt derzeit dahin wie | |
Polareis im Klimawandel. Selbst gemeinsam mit der nordirischen DUP hält sie | |
eine Mehrheit von nur noch drei Mandaten. Es waren ursprünglich fünf, aber | |
zwei konservative Abgeordnete sind jüngst von ihren eigenen Wählern wegen | |
Rechtsverstößen abgesetzt worden. Damit stehen zwei Nachwahlen an, nach | |
denen Johnsons Mehrheit auf einen Sitz schrumpfen dürfte: der walisische | |
Wahlkreis Brecon & Radnorshire dürfte am 1. August an die Liberaldemokraten | |
verloren gehen (siehe Seite 5), wenige Wochen später könnte Dover an die | |
Brexit Party fallen. | |
Ohne Mehrheit im Parlament ist es schwer für Boris Johnson, sein | |
Wahlkampfversprechen einzulösen, den Brexit pünktlich zum derzeit gültigen | |
Austrittstermin 31. Oktober zu vollziehen, ob mit Abkommen oder ohne. Ein | |
No-Deal-Brexit braucht zwar keine ausdrückliche Zustimmung des Unterhauses, | |
denn er ist bereits im geltenden Brexit-Gesetz enthalten. Aber wenn im | |
Parlament eine Mehrheit dieses Gesetz gegen den Willen der Regierung | |
verändert, sieht die Sache anders aus. Zwar wären dafür erhebliche | |
Verrenkungen der Geschäftsordnung nötig, aber Parlamentspräsident John | |
Bercow ist da erfindungsreich. | |
Boris Johnson kann das dadurch erschweren, dass er in der fraglichen Zeit | |
in den letzten drei Oktoberwochen – wenn die Abgeordneten von den | |
Jahresparteitagen ihrer Parteien nach Westminster zurückgekehrt sind – | |
keine einzige Abstimmung ansetzt, damit es keine Gelegenheit für | |
irgendwelche Anträge gibt, oder indem er die Sitzungsperiode ganz aussetzt, | |
was legal, aber kontrovers wäre. Ein Teil der eigenen Partei dürfte dann in | |
Versuchung kommen, ihn zu stürzen. Deswegen rechnen die meisten politischen | |
Beobachter mit baldigen Neuwahlen in Großbritannien – und vermuten, dass | |
Boris Johnson die lieber selbst ansetzt, als darauf zu warten, dass das | |
Parlament ihn entmachtet. | |
## Paternalist, der Wohlgefühl verbreiten will | |
Johnsons ständige Aufrufe zu mehr Optimismus und Energie sind auch am | |
ehesten als Wahlkampfmodus zu verstehen, nicht als Regierungsmodus. Und | |
hier schimmerte am Dienstag der alte Boris Johnson durch, der schon immer | |
Premierminister werden wollte, der jahrelang einer der beliebtesten | |
Politiker des Landes war: kein Donald Trump, sondern eher ein Ronald | |
Reagan, kein Scharfmacher wie Nigel Farage, sondern ein Paternalist, der | |
Wohlgefühl verbreiten will, statt Gräben aufzureißen. | |
„Wir Konservative haben die beste Einsicht in die menschliche Natur und | |
darin, wie man die widerstreitenden Instinkte des menschlichen Herzens | |
bändigt“, sagte Johnson in der einzigen wirklich inhaltlichen Passage | |
seiner Rede. „In den letzten 200 Jahren waren es wir Konservative, die am | |
besten verstanden haben, wie man diese Instinkte harmonisch zusammenwirken | |
lässt.“ Historisch sei es um den Ausgleich zwischen privatem Besitz und | |
sozialer Solidarität gegangen. Jetzt gehe es um die Vereinbarkeit zwischen | |
Freundschaft mit Europa und „demokratischer Selbstbestimmung in diesem | |
Land“. | |
Man dürfe sich da nicht entmutigen lassen, rief Boris Johnson. „Seht ihr | |
entmutigt aus? Fühlt ihr euch entmutigt? Ich finde nicht, dass ihr auch nur | |
ansatzweise entmutigt aussieht.“ Es war der Auftritt eines Parteichefs, der | |
seine Anhänger auf Wahlkampf einschwört. Am Mittwoch kommt der | |
Regierungschef an die Reihe. Das wird schwieriger. Wird Johnson ein „großer | |
Premierminister“, wie der unterlegene Hunt ihm nach seiner Niederlage | |
schmeichelte? Er könnte seinen Zenit als Hoffnungsträger der Konservativen, | |
die sich nach gemütlicheren Zeiten zurücksehnen, schon überschritten haben. | |
23 Jul 2019 | |
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## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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