# taz.de -- Machtübergabe in Großbritannien: „Vote Leave“ drängt nach ob… | |
> Theresa May übergibt ihr Amt an Boris Johnson. Der schart als neuer | |
> Premier seine Brexit-Mitstreiter aus Referendumszeiten um sich. | |
Bild: Boris Johnson auf der Schwelle seines neuen Zuhauses | |
Berlin taz | „Stop Brexit!“, brüllte ein Demonstrant, als Theresa May in | |
ihrer Abschiedsrede als Premierministerin vor ihrem Amtssitz gerade | |
gerührt ihren Ehemann lobte. Sie fing sich sofort und rief: „Ich glaube | |
nicht.“ | |
Anderthalb Stunden später stand [1][Boris Johnson als neuer Premierminister | |
Großbritanniens] an der gleichen Stelle an einem neuen Redepult und | |
versprach „einen neuen, besseren Deal“ mit der EU. „Raus aus der EU am 31. | |
Oktober ohne Wenn und Aber“ erklärte er zum Ziel. „Das britische Volk hat | |
genug gewartet. Die Zeit zum Handeln ist gekommen“. Er wolle das gesamte | |
Land „zum Besseren verändern“. | |
Den Brexit vollenden, „in einer Weise, die für das gesamte Vereinigte | |
Königreich funktioniert“ – das hatte schon May als Priorität für ihren | |
Nachfolger genannt. Aus ihrer Sicht sollte dieser Führungswechsel kein | |
Machtwechsel sein. Doch Johnson will einen Neustart. May spricht mit | |
Langmut. Johnson sprüht vor Ungeduld. | |
Britische Machtübergaben laufen immer nach Drehbuch ab, und die Queen | |
bekommt mit Boris Johnson schon ihren 14. Regierungschef. Theresa May fuhr | |
also gegen halb drei am Mittwochnachmittag im Dienstwagen zum Buckingham | |
Palace, reichte ihren Rücktritt an, empfahl der Königin einen Nachfolger | |
und ging wieder – und zwar nicht mehr nach 10 Downing Street. Der | |
Dienstwagen blieb. | |
Ein königlicher Bote überbrachte Boris Johnson einen Befehl, den Auftrag | |
zur Regierungsbildung persönlich entgegenzunehmen. Mit Johnson statt May | |
drin fuhr der Dienstwagen dann nach 10 Downing Street zurück. | |
## Alles außergewöhnlich | |
Aber dieser Regierungswechsel hat es in sich. Klimademonsranten stoppten | |
ein paar Sekunden lang Boris Johnsons Autokonvoi auf dem Weg zur Queen. | |
Dass er überhaupt mit Polizeischutz ankam, war außergewöhnlich. Der Satz | |
„Dies sind außergewöhnliche Zeiten“ fällt in Westminster dieser Tage | |
außergewöhnlich oft. | |
Es war schon außergewöhnlich, dass Theresa May als letzte Amtshandlung die | |
wöchentliche Fragestunde im Unterhaus über sich ergehen ließ, bei der mit | |
jeder Frage von Jeremy Corbyn ihre Stimme schneidender wurde. „Als | |
Parteichefin, die einsah, dass meine Zeit vorbei war. Vielleicht ist für | |
ihn die Zeit gekommen, dasselbe zu tun“, schleuderte sie dem Labour-Chef | |
entgegen. | |
Es folgte eine außergewöhnliche Frauensolidarität zwischen Theresa May und | |
[2][der frischgekürten Chefin der Liberaldemokraten, Jo Swinson], die von | |
May wissen wollte, wie man „mit Männern umgeht, die denken, dass sie es | |
besser machen können, aber nicht die Arbeit machen wollen“. Erst am Ende | |
brach Mays Stimme, und sie verließ die Kammer den Tränen nahe, unter | |
außergewöhnlichen stehenden Ovationen. | |
„In Zukunft freue ich mich darauf, die Fragen zu stellen“, hatte Theresa | |
May im Hinblick auf ihre Zukunft als Hinterbänklerin gewarnt. Boris Johnson | |
war nicht im Unterhaus anwesend, aber an ihn war das gerichtet. | |
Mays Lob für ihren Nachfolger beschränkte sich auf die Feststellung, sie | |
freue sich, ihr Amt an einen Führer der Konservativen zu übergeben. Der | |
Nachsatz, sie habe mit ihm zusammengearbeitet, ging dann in | |
außergewöhnlichem Gelächter unter. | |
„Boris Johnson übernimmt die Premierministerschaft in außergewöhnlich | |
unsicheren Umständen“, analysierte später im Fernsehen Vernon Bogdanor, | |
Doyen der britischen Politologen. „Wir wissen nicht, wie er diese Aufgabe | |
angehen wird.“ | |
Nach Neuwahlen gefragt, meinte Bogdanor: „Es wird Wahlen geben, wenn er | |
seinen Brexit-Deal nicht durch das Parlament kriegt.“ Beobachter rechnen | |
mit vorgezogenen Neuwahlen entweder im Herbst 2019 oder im Frühjahr 2020. | |
## Johnsons vielfältige Ambitionen | |
Darauf deuten auch die ersten Signale über Boris Johnsons zukünftiges | |
Kabinett und Beraterteam hin. Der erste Name, der schon am Vormittag die | |
Runde machte, war zugleich der außergewöhnlichste: Dominic Cummings, | |
Wahlkampfleiter der Vote-Leave-Kampagne, die mit Boris Johnson als | |
Leitfigur das Brexit-Referendum von 2016 gewann. | |
Cummings gilt als irres Genie, eine Art junger Johnson auf Speed; er hält | |
die meisten Politiker für Idioten und ruft seit dem [3][Scheitern von | |
Theresa Mays Brexit-Deal] zu einem neuen Referendum auf, das er als | |
Volksabstimmung gegen die unfähige politische Elite gewinnen werde. Seine | |
Berufung zu Johnsons Chefberater wäre eine klare Weichenstellung Richtung | |
Wahlkampf. | |
Weitere Vote-Leave-Größen werden als Favoriten für Schlüsselministerien | |
gehandelt. Denn erst will sich Johnson als Mann der Tat profilieren, und | |
dafür verlässt er sich auf die, die 2016 das Referendum gewannen. | |
Seine Ambitionen gehen weit über den Brexit hinaus. Er skizzierte in seiner | |
Antrittsrede eine Art Notprogramm: 20.000 mehr Polizisten. 20 renovierte | |
Krankenhäuser. Ein Ende des Pflegenotstands „ein für alle Mal“. Garantien | |
für die Rechte von EU-Bürgern, „bedingungslos“. Zweifler und Pessimisten | |
sollen eines Besseren belehrt werden. Dies sei ein „außergewöhnlicher | |
Moment in unserer Geschichte“. 99 Tage bis zum 31. Oktober? Es könnte auch | |
schneller gehen, findet er. | |
24 Jul 2019 | |
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## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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