# taz.de -- Nachwahlen in Wales: Felder, Schafe, Wahlplakate | |
> Es wird eng für die britischen Tories. Bei Nachwahlen in Wales haben die | |
> Liberaldemokraten nächste Woche gute Chancen, ihnen einen Sitz abzujagen. | |
Bild: Mit walisischen Drachen auf Stimmenfang: Veranstaltung der EU-freundliche… | |
BRECON/LLANDRINDODD WELLS/YSTRADGYNLAIS taz | Vor wenigen Tagen ging Mark | |
Davis morgens in den Garten, um die idyllische grüne Hügellandschaft des | |
walisischen Naturschutzgebiets Brecon Beacons zu bewundern. Der seit Kurzem | |
pensionierte Ernährungswissenschaftler hat sich hier vor einigen Jahren ein | |
Haus gekauft. Vom Hochsitz in seinem Garten erspähte er etwas Blaues auf | |
dem angrenzenden Feld. Ein Wahlplakat, auf dem „Vote for Chris Davies“ | |
steht. Mark Davis war schockiert. | |
Chris Davies ist der konservative Kandidat bei der parlamentarischen | |
Nachwahl im Wahlkreis Brecon und Radnorshire in Wales am 1. August. Die | |
Nachwahl ist nötig, weil Davies, der hier seit 2015 Abgeordneter war, | |
abgesetzt worden ist. | |
Davies hatte Rechnungsbetrug in Höhe von etwa 800 Euro begangen hatte und | |
wurde dabei erwischt. Davies gestand das Vergehen und erhielt eine | |
Geldstrafe sowie die Auflage, 50 Stunden gemeinnützige Arbeit zu leisten. | |
## Nicht der erste Fall | |
Den Wähler*innen reichte das nicht. In bestimmten Fällen können in | |
Großbritannien Abgeordnete durch ein Volksbegehren ihr Amt verlieren, wenn | |
sich mindestens 10 Prozent der Wahlberechtigten dafür aussprechen. Genau | |
dies ist im Mai mit der Labour-Abgeordneten Fiona Onasanya im ostenglischen | |
Peterborough geschehen, die wegen Geschwindigkeitsverstößen gelogen hatte | |
und zu einer dreimonatigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. 27 Prozent der | |
Wahlberechtigten stimmten für ihren Rauswurf. Mit ihrer Nachfolgerin, Lisa | |
Forbes, konnte Labour diesen Sitz so eben noch halten. | |
In Wales dürfte das schwieriger werden. Zwar sprachen sich nur 19 Prozent | |
der Stimmberechtigten in Davies’ Wahlkreis für den Rauswurf aus, aber das | |
genügt für Neuwahlen. Und das Überraschende nun: Der neue Kandidat der | |
Konservativen ist der alte. | |
„Davies hat sein Vergehen als normale Geschäftspraxis entschuldigt, und die | |
Lokalpresse betont, es habe sich nur um eine geringe Summe gehandelt“, sagt | |
Mark Davis. „Doch meiner Meinung nach müssen im Trump-Zeitalter bei einem | |
öffentlichen Amt höhere Werte der Integrität gelten.“ Er empfand das blaue | |
Wahlplakat am Rand des Ackers als Schandfleck. Zwar weiß er nicht genau, | |
wem der Acker gerade gehört, doch in seiner Empörung informierte er das | |
Lokalbüro der Liberaldemokraten. Diese durften nun als Revanche mehrere | |
riesige Wahlplakate für ihre Kandidatin an seinem Zaun gegenüber der | |
Landstraße anbringen. | |
## Mehr Schafe als Menschen | |
Doch die Sache hat einen Haken. Am Zaun ist nämlich auch das Schild eines | |
Nachbarn angebracht, des walisischen Rehfleischzentrums Beacon’s Farm. Es | |
gehört John Morgan, 78, der einen gut besuchten Laden mit Metzgerei und | |
Café im Ort betreibt und überzeugter Tory ist. Für ihn stellt Davies’ | |
Vergehen nichts weiter dar „als eine kleine Lappalie, für die er sich | |
hundert Mal entschuldigt hat“. | |
Für den Unternehmer ist der Ultrabrexiteer Chris Davies die lokale Stimme | |
des neuen Premierministers Boris Johnson, den er als jungen Churchill | |
bezeichnet, „ein kleines Genie, das nicht immer den Regeln gemäß agiert“. | |
So kommt dieser Nachwahl in einer Region Großbritanniens, wo es mehr Schafe | |
als Menschen gibt, eine große Bedeutung zu. Rein flächenmäßig ist es der | |
größte Wahlkreis in England und Wales, etwa 70.000 Menschen leben hier. | |
Haupteinnahmequellen sind Viehzucht und Tourismus. | |
Die Nachwahl gilt nicht nur als Votum hinsichtlich des von Johnson | |
angekündigten garantierten EU-Austritts zum 31. Oktober. Sollten die | |
Konservativen verlieren, verringert sich ihre knappe parlamentarische | |
Mehrheit (mit der nordirischen DUP) im Unterhaus auf nur einen Sitz, was | |
einen EU-Austritt ohne Übereinkommen mit der EU erschweren könnte. Im | |
Parlament zählt inzwischen jede Stimme. | |
## Die Liberaldemokraten wittern ihre Chance | |
Deshalb konzentrieren nicht nur die Liberaldemokraten alle Kräfte auf diese | |
Wahl, um den Sitz, der zwischen 1997 und 2016 ohnehin liberaldemokratisch | |
war, zurückzuerobern. Täglich strömen Teams aus dem ganzen Land zur | |
Unterstützung der Partei in die Region, die Flugblätter in Briefkästen | |
stecken, auf der Straße Handzettel verteilen, herumtelefonieren, | |
plakatieren. | |
Außerdem treten die walisischen Nationalisten Plaid Cymru und die Grünen | |
bei der Wahl nicht an, sie gaben stattdessen eine Wahlempfehlung für die | |
Liberaldemokraten. Und hätte die Labour Party nicht Anfang dieses Monats | |
ihre Linie geändert und sich für eine zweite Brexit-Volksabstimmung | |
ausgesprochen, würde es nur die Liberaldemokraten als EU-freundliche | |
Wahloption geben. | |
Labour-Kandidat Tom Davies rechtfertigte seine Kandidatur mit der | |
Begründung, er sei der einzige Sozialist, und attackiert in einer | |
gemeinsamen Wahlveranstaltung der EU-freundlichen Parteien die | |
liberaldemokratische Kandidatin Jane Dodds. Dodds sei Teil der Partei, die | |
als Koalitionspartner der Tories in den Jahren 2010 bis 2015 die | |
Austeritätspolitik mitgetragen hätte. | |
„Eine Stimme für die Liberaldemokraten ist eine Stimme für die Tories“, | |
behauptet der Labour-Kandidat auf einer Wahlkampfveranstaltung in Brecon. | |
„Blödsinn“, rufen einige Zuschauer*Innen. Die Erfolge von Labour in diesem | |
Wahlkreis endeten vor Jahren, fast parallel mit der Schließung der Berg- | |
und Stahlwerke. | |
## Bloß keine neuen Zölle | |
Die Liberaldemokraten haben sich inzwischen neu ausgerichtet, als | |
proeuropäische Partei der Mitte, die sich durch aktiven Klimaschutz und | |
soziale Fragen definiert. Bei den Lokal- und Europawahlen diesen Jahres | |
überholten sie die Labour-Partei. | |
Während der Tory Chris Davies ein ehemaliger Marktauktionär, | |
Immobilienmakler und Tierartzpraxismanager ist, arbeitet Labours Tom Davies | |
als Rechtsanwalt. Die Liberaldemokratin Dodds wiederum ist Sozialarbeiterin | |
im Kinder- und Flüchtlingsbereich. Bei der Veranstaltung in Brecon spricht | |
sie offen über ihre Arbeit und die fehlenden Chancen von Asylbewerbern. Sie | |
willigt als Einzige in ein Gespräch mit der taz ein, während die Brexit | |
Party und die Konservativen der deutschen Zeitung eine Absage erteilen. | |
„Ich habe mit zerbrochenen Familien gearbeitet und weiß um ihre | |
Schwierigkeiten. Letztendlich wollen alle Menschen das Gleiche und eine | |
bessere Zukunft aufbauen“, sagt Dodds. Sie zeigt sich besorgt, dass ein | |
harter Brexit den Schafzüchtern der Gegend einen über 40-prozentigen | |
Aufschlag für Exporte in Form von Zöllen bescheren könnte, während andere | |
Farmer ihre EU-Zuschüsse verlieren würden. | |
Für den Café- und Hofladenbetreiber John Morgan stellt das kein Problem | |
dar. Landwirt*innen müssten flexibel sein, meint er. Sein Geschäft hat er | |
schon in den 1980er Jahren eröffnet. „Wer von europäischen | |
Agrarsubventionen abhängig ist, betreibt keine echte und wirtschaftlich | |
überlebensfähige Landwirtschaft“, sagt er. | |
Er ist wegen des anstehenden Brexits nicht pessimistisch, weil schließlich | |
die Europäer ihre Fahrzeuge und Produkte weiter an die Briten verkaufen | |
wollen. „Das sind die Europäer den Briten schuldig“, sagt er, „weil wir … | |
zweimal vor sich selbst gerettet und dafür große Opfer gebracht haben.“ | |
Morgan spricht von Menschen wie seinem Onkel, der im Zweiten Weltkrieg ums | |
Leben kam. Dabei hat Morgan im Jahr 1975 sogar für die Mitgliedschaft | |
Großbritanniens in der EWG gestimmt. „Aber damals waren es nur 9 und nicht | |
27 Länder.“ | |
## Für Brexit, gegen Tories | |
Weiter nördlich, in Llandrindod Wells, einer deutlich ärmeren Gegend, leben | |
Nigel Watkins und seine Frau Janis, die beide die Brexit Party | |
unterstützen. Der 75-Jährige hat früher für das Verteidigungsministerium | |
gearbeitet, sie, 65 Jahre alt, war am Flughafen Heathrow beschäftigt. Das | |
Paar erzählt, dass sie neulich enthusiastisch für die Brexit Party | |
Handzettel verteilt hätten. Deren Kandidat, Des Parkinson, ist ein | |
pensionierter Polizeibeamter, in der Vergangenheit war er Mitglied der | |
Konservativen Partei und später auch bei Ukip. | |
„Europa kann nicht die Probleme der Welt lösen“, sagen die Watkins und | |
klagen über mangelnde Einwanderungskontrollen. Einen Mann mit Vorstrafen | |
wie den Konservativen Chris Davies wollen sie jedenfalls nicht wählen. „Wir | |
haben uns gesagt, dass wir nach der Leistung der Tories in den letzten drei | |
Jahren diese Partei nie mehr wählen werden. Ständig hat Theresa May das | |
Mantra heruntergebetet, ‚kein Deal ist besser als ein schlechter Deal‘ – | |
aber daraus ist ja nichts geworden!“ | |
Angeblich setzt die Brexit Party auch auf eine Namensverwechselung. Sie hat | |
für die Nachwahl in Brecon und Radnorshire das walisische Wort für Partei, | |
Plaid, vor ihren Namen gesetzt. Als Plaid Brexit Party könnten manche sie | |
mit der walisischen nationalistischen Partei Plaid Cymru verwechseln, die | |
bei der Nachwahl nicht antritt. Das zumindest glaubt Helen Richards, 64, | |
die in Brecon eine Airbnb-Wohnung vermittelt. | |
„Brexit bedeutet, dass wir von Westminster verwaltet werden“, sagt sie. Für | |
das kleine Wales neben dem dominierenden England sei das nicht gut. Viele | |
wüssten einfach nicht, wie viel die EU in Wales leistet. Richards Stimme | |
geht klar an die Liberaldemokraten, insbesondere wegen Boris Johnson. | |
## Für Brexit, deswegen Tories | |
Bei einer Kaffeerunde in der südlichen Kleinstadt Ystradgynlais stellen Dai | |
Lewis, 62, ein ehemaliger Berg- und Stahlarbeiter, und Rosanna Lewis, 64, | |
die als Pflegerin arbeitete, ebenfalls die Glaubwürdigkeit der Brexit Party | |
infrage. „Die haben doch außer Brexit gar kein weiterführendes Programm.“ | |
Dies sei einmal eine Labour-Gegend gewesen, doch Corbyn, genau wie Boris | |
Johnson, täte bloß, was er wolle. Dai Lewis ist dennoch für den Brexit, | |
weil die EU-Mitgliedschaft zu viel koste, deswegen erwägt er, | |
zähneknirschend den Tory Chris Davies zu wählen. | |
Sein Bekannter, Jamy Toone, 43, widerspricht ihm. Er hat seine Meinung | |
geändert, weil er in einem Gespräch mit Freunden gelernt hat, wie sehr | |
Großbritannien von der EU profitiert hat. Deswegen will er jetzt auf alle | |
Fälle liberaldemokratisch wählen, genauso die vor dem Stadtmuseum sitzenden | |
Künstlerinnen Emma Moragh, 57, und Rachel, 27. „Brexit ist Verschwendung | |
unserer Ressourcen. Was soll es bringen, wenn wir noch nicht einmal mit den | |
eigenen Problemen klarkommen?“, sagt Moragh. „Die EU ist keineswegs | |
perfekt, aber Westminster ist es genauso wenig. Wir in Wales wollen nicht | |
von den Konservativen regiert werden.“ | |
Die Künstlerin sieht die Amtszeit von Chris Davies eher als Ausrutscher. In | |
vielen Gegenden Großbritanniens haben die Liberaldemokraten 2015 und 2017 | |
Sitze eingebüßt wegen ihrer Koalition mit den Konservativen. Moragh glaubt, | |
dass viele Menschen, weil sie weder die walisische Nationalpartei noch die | |
Grünen wählen können, am 1. August für die Liberaldemokraten stimmen werden | |
– trotz der vielen blauen Schilder an den Rändern der Landstraßen. | |
Mark Davis ist also mit seiner Empörung über den neuen alten | |
Tory-Kandidaten nicht allein. Auf ihrer Facebook-Seite beklagt die | |
Ortsgruppe der Konservativen Partei die Beschädigung zahlreicher | |
Wahlplakate. Auf ein solches mit dem Konterfei von Chris Davies auf der | |
Straße nach Builth Wells hat jemand, pünktlich zur Eröffnung der | |
Landwirtschaftsausstellung diese Woche, mit großen Buchstaben das Wort | |
crook geschrieben – das englische Wort für Betrüger. | |
26 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Daniel Zylbersztajn | |
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