# taz.de -- Kommentar Eltern und Älterwerden: Eine andere Mutter, ein anderer … | |
> Was passiert mit Eltern, die immer älter werden? Sie werden zu Menschen, | |
> die man weniger kennt – und damit irgendwie zu weniger Eltern. | |
Bild: Im 20. Jahrhundert galt ein Menschenleben mit 70 Jahren als erfüllt | |
Warum ist das Weltall nachts dunkel, wo es doch von Milliarden von Sonnen | |
erleuchtet sein müsste? Vor einer Woche, auf dem Weg zum 80. Geburtstag | |
meiner Mutter, stieß ich im Zug, an meiner Rede feilend, auf diese Frage. | |
Was wir, klärte [1][mich der Philosoph Giorgio Agamben] auf, als Dunkelheit | |
des Firmaments wahrnehmen, ist nur Licht, das uns nicht erreicht; | |
strahlende Helligkeit aus fernen Galaxien, die sich aber schneller | |
entfernen, als die Strahlen, die von ihnen ausgesandt werden, uns erreichen | |
können. | |
Wir schauen ins Dunkel, weil das, was uns erleuchten könnte, immer ferner | |
rückt. | |
Am Abend, als ich den Festsaal betrat, ging mir die Sache noch im Kopf | |
herum. Dann wurde ich abgelenkt. Denn außer den verbliebenen | |
Familienmitgliedern war unter den Gästen kaum jemand, den ich besser als | |
vom Sehen gekannt hätte. War ich hier richtig? | |
Ich hatte schon mitbekommen, dass gerade noch in der Woche vor dem | |
Geburtstag meiner Mutter zwei liebe Freunde von ihr gestorben waren; dass | |
die Zeit beständig ihre Opfer gefordert hatte. Wie radikal allerdings sich | |
das Leben meiner Eltern in den letzten fünfzehn Jahren verändert hatte, | |
verstand ich erst jetzt, hier in einem Innenstadtlokal in der Tür stehend. | |
## Ein großes Fest vor 15 Jahren | |
Vor fünfzehn Jahren hatte mein Vater seinen 70. Geburtstag gefeiert: Ein | |
großes Fest, das nach Wanderjahren alle zusammenführte: die in Pension | |
gegangenen Freunde, Kollegen und Bekannten meiner Eltern – und uns Kinder, | |
die wir nun selbst schon teilweise mit unseren Partnern und Kleinkindern | |
angereist waren. Es war ein Fest zum Ende des Berufslebens der Älteren und | |
eines, das die Kindheit von uns Jüngeren endgültig abschloss. | |
Alle, die sich vor fünfzehn Jahren versammelt hatten, taten dies in dem | |
Bewusstsein, dass hier etwas zu seinem Ende gekommen war. Gemeinsam | |
feierten sie den Jubilar, mit dem gemeinsam sie gearbeitet und gelebt | |
hatten; und gemeinsam versicherten wir einander, dass nun wir Jüngere dran | |
waren, die Rollen der Älteren einzunehmen, in unseren jeweiligen Berufen, | |
aber eben auch schon als Mütter und Väter. Und gemeinsam gedachten wir der | |
Verstorbenen, der Großmütter und Großväter, die damals auch schon ein | |
Jahrzehnt lang tot waren. | |
Im Nachhinein scheint mir, dass dieses Fest vor fünfzehn Jahren eigentlich | |
als das letzte gedacht war, eines, wie es seit Jahrhunderten gefeiert | |
worden ist. Denn noch bis ins 20. Jahrhundert hinein galt ein menschliches | |
Leben mit 70 als erfüllt und als im Wesentlichen abgeschlossen. | |
## Andere Zeitgenossen | |
Und jetzt, 2018, was war jetzt? Etwas jedenfalls völlig anderes. Niemand | |
der hier Anwesenden hatte mich oder meine Geschwister als Kind erlebt; | |
niemand kannte die Wohnung, in der wir aufgewachsen waren, all unsere | |
familiären Konflikte und Freuden gehörten hier nicht her, weil niemand sie | |
teilen konnte. | |
Das war verwirrend und bedrückend; aber es war auch faszinierend neu: Es | |
waren sozusagen nun eine andere Mutter und ein anderer Vater, die hier | |
feierten, Zeitgenossen, die aber mit meiner Mutter und meinem Vater nur | |
noch wenig zu tun hatten. Wer hier versammelt war, um meine Mutter zu | |
ehren, die neuen Freunde, Nachbarn vor allem, so sagte es einer meiner | |
Brüder in seiner Rede sehr treffend, sehr radikal, die waren nun „Familie“. | |
Wer die Statistiken zurate zieht, um dieses Phänomen ein wenig vom | |
Persönlichen wegzuschieben, der kann festhalten: Zwar sind Mütter heute bei | |
der Geburt des ersten Kindes fünf Jahre älter als in den 1960er Jahren, zu | |
deren Ende ich geboren wurde. Die Phase, in der Frauen Kinder bekommen, | |
ist aber relativ unverändert geblieben. | |
## Acht Jahre bewusste Lebenszeit | |
Das erste Kind kommt zwar später, aber die anderen folgen schneller nach. | |
Die Lebenserwartung hat sich allerdings deutlich verlängert, meine Mutter | |
hat statistisch gute Chancen, noch acht Jahre zu leben. Dann hätten wir – | |
ich bin gerade 50 geworden – 58 Jahre zusammen verbracht. In meinem | |
Geburtsjahr 1968 betrug die Lebenserwartung von Frauen in Westdeutschland | |
73 Jahre. | |
58 Jahre, da kommen wir nun, Sie erinnern sich, auf das Licht zurück, | |
dessen Quelle sich so rasend schnell von uns entfernt. Was meine Mutter und | |
mich – von meiner Warte aus gesehen, an meine Geburt erinnere ich mich | |
glücklicherweise nicht – am intensivsten verbindet, das sind vielleicht | |
acht Jahre bewusste Lebenszeit, von meinem fünften bis zu meinem | |
dreizehnten Lebensjahr. | |
In diesen Jahren war sie der zentrale Punkt, um den ich kreiste, mit meinen | |
Freuden, meinen Erfolgen, meinen Sorgen, meinen Ängsten. Danach werden die | |
innigen Momente weniger; in den letzten Jahren bekommen sie noch dazu eine | |
Umkehrung, weil ich es plötzlich bin, der sich Sorgen um sie macht. | |
## Wir müssen uns erinnern | |
Ich muss mich entschuldigen: Wer in meinem Alter die dritte Freundin – oder | |
den ersten Freund – des Vaters kennenlernt, wer seine Mutter nur einmal im | |
Jahr sieht, wenn sie bei ihrer never ending Tour um den Weltball kurz | |
Station macht – wer also in weniger traditionellen Strukturen aufgewachsen | |
ist als ich: Für die und für den sind diese Überlegungen ein alter Hut. | |
Dass nämlich die Eltern immer älter und dabei immer weniger Eltern werden, | |
weil die menschliche Fähigkeit, intensive Erinnerungen als gegenwärtig vor | |
sich hin zu projizieren, beschränkt ist. | |
Und doch bin ich mir sicher, dass auch meine Kinder die natürlich völlig | |
unberechtigte Erwartung an mich haben, dass ich ihr Vater bleibe, auch | |
jenseits der 70, falls ich ein solches Alter erreichen sollte. Und mir geht | |
es jedenfalls derzeit nicht anders. Ich fühle mich nicht so richtig wohl | |
mit der Idee, dass mein Leben von einer harmonischen Dreiteilung in einen | |
Mehrteiler mit zweiter und dritter Staffel übergeht. | |
Gibt es ein Recht darauf, nicht noch mal und immer wieder von vorne | |
anzufangen? Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass die Erinnerungen | |
verblassen und dass wir um sie kämpfen müssen, weil die emotionale | |
Intensität der Gegenwart mit unseren Eltern von ihnen abhängt. Weil sie nur | |
unsere Eltern sind und wir ihre Kinder, wenn wir uns erinnern. Weil wir | |
sonst Fremde werden. Das ungefähr habe ich dann beim 80. Geburtstag meiner | |
Mutter gesagt. Von der neuen Familie hat mich niemand auf die Rede | |
angesprochen. | |
25 Nov 2018 | |
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## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
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