# taz.de -- Kommentar Brexit: Ein Land ohne Liebe | |
> Manch EU-freundlicher Brite begegnet dem Brexit-Blues mit | |
> Nachrichtenvermeidung. Andere treibt er zum Brexit-Heiratsantrag. | |
Bild: Was soll nur aus diesem Land werden, wenn ihm nun auch die Singles abhand… | |
Manche Menschen treibt der [1][Brexit] in den Wahnsinn. Mich hätte er fast | |
ins Standesamt bekommen. | |
Vor ein paar Monaten erhielt ich nämlich ein mittelmoralisches Angebot von | |
einem britischen Freund: Er brauche mich eventuell für eine | |
Notfall-Hochzeit, sagte der Mann, den ich hier zur Wahrung seiner | |
Anonymität Duncan nennen will. Aha. Erst die deutsche Staatsbürgerschaft, | |
vielleicht stellt sich die Liebe ja später ein? | |
Eigentlich keine schlechte Sache, befand ich für einen Moment. Duncan und | |
ich teilen denselben Beruf und ein Interesse an schlechten Wortspielen. Wir | |
lieben beide Hunde und Roadtrips – ich meine, es hat schon Paare mit | |
weniger Gemeinsamkeiten gegeben. Einem Anlass zum Feiern bin ich nicht | |
abgeneigt, Duncan sieht in einem Tweed-Anzug hinreißend aus und überhaupt: | |
Sollte man einem Freund nicht aushelfen? | |
Der Brexit-Blues hat den EU-freundlichen Duncan nämlich schon länger in | |
seinen Klauen und mit ihm viele seiner ähnlich gesinnten Landsleute. Acht | |
Tage nach dem ursprünglichen Datum zum Austritt aus der Europäischen Union | |
wissen sie immer noch nicht, wann, wie und – darf man wagen, es zu | |
schreiben? – gar ob Großbritannien Brüssel überhaupt so bald Goodbye sagen | |
wird. | |
## Tinder schien eine einleuchtende Option | |
Kein Wunder also, wenn BritInnen nun nicht mehr nur mit | |
Nachrichtenvermeidung und Eskapismus im Pub versuchen, der ganzen | |
Brit-Bredouille zu entkommen. Zusätzlich zum Brexit-Heiratsantrag begab es | |
sich nämlich, dass ich durch die Dating-App Tinder einer von der | |
Weltöffentlichkeit weitgehend unbemerkten Flüchtlingskrise auf dem Berliner | |
Singlemarkt gewahr wurde: dem Schicksal der Brexit-Refugees. | |
Der Algorithmus spülte mir und meinem Swipe-Daumen gleich mehrere BritInnen | |
auf den Bildschirm. „Musste dem Brexit entkommen, Tinder schien eine | |
einleuchtende Option“, hatte einer sich lakonisch ins Profil geschrieben. | |
Ein Pärchen suchte gleich zu zweit eine angemessene Ablenkung vom | |
britischen Schlamassel in Berlin. | |
Ein anderer servierte den geneigten Betrachterinnen den Titel | |
„Brexit-Flüchtling“ direkt unter einer Größen- und Gewichtsangabe. Wir | |
schrieben hin und her, sprachen über die Kreativität britischer | |
Schimpfwörter und planten einen kleinen Ausflug ins Grüne, aus dem dann nie | |
was wurde. Ich weiß schon nicht mehr, warum ich gerade dieses Match | |
auflöste – too many boys, too little time wahrscheinlich (das wollte ich | |
schon immer mal öffentlich von meinem Leben behaupten). So ist das mit der | |
Liebe in Zeiten von Tinder. | |
In Zeiten des Brexits scheint es in Großbritannien hingegen mit der Liebe | |
nicht so weit her zu sein – doch kümmert das wohl zu wenig. Bei all den | |
Katastrophennachrichten rund um die Folgen des Austritts war zwar immer | |
wieder die Rede vom befürchteten „Brain Drain“ – dem Abwandern von | |
AkademikerInnen. Über den „Love Drain“ hat sich aber noch niemand Gedanken | |
gemacht. Was soll nur aus diesem Land werden, wenn ihm nun auch die Singles | |
abhandenkommen? | |
## „Blobby blobby blobby“ | |
Verständnis für Fluchtgedanken anlässlich des Schlamassels in Westminster | |
habe ich ja. Tatsächlich würde ich selbst manchmal gerne aus der | |
Redaktionskonferenz flüchten, wo ich bei Nachfragen, was denn nun der | |
wahrscheinlichste nächste Schritt in Sachen Brexit sei, nur mehr die | |
Schultern zucken kann und „Da müssen wir abwarten, aber wir haben das auf | |
dem Schirm“ murmele. | |
Ich denke dann oft an den Politikkorrespondenten Chris Mason, der im | |
November im BBC-Frühstücksfernsehen resigniert sagte: „Um ehrlich zu sein, | |
wenn ich jetzt auf die Geschehnisse blicke, habe ich nicht die blasseste | |
Ahnung, was in den nächsten Wochen passieren wird.“ Die Analyse könne er | |
genauso Mr Blobby überlassen – einer überlebensgroßen rosa Kunstfigur, die | |
alles umschmeißt und dabei nur „Blobby Blobby Blobby“ vor sich hin | |
brabbelt. Die Anteilnahme für Brexit-ExilantInnen ist also vorhanden – aber | |
ich kann ja nicht alle trösten! | |
Düster dürfte es aber nicht nur wegen der Abwanderung von JunggesellInnen | |
aus dem Königreich aussehen. Was, wenn das Referendum auch die ein oder | |
andere Liebesbeziehung im Land killt? Das Brexit-Referendum, bei dem 52 | |
Prozent für den Abschied von Brüssel stimmten, hat 2016 die britische | |
Gesellschaft gespalten – das ist heute fast eine Binsenweisheit. Nicht | |
selten dürfte es auch Paaren so ergangen sein, wenn der eine Teil mit | |
Leave, der andere aber mit Remain votiert hat. Herrlich lässt es sich über | |
Politik verkrachen, ganze Familienfeiern lassen sich so sprengen. | |
Was, wenn der eine Teil des Paares froh ist über die Trennung von der EU, | |
der andere Teil aber handfeste Nachteile davonträgt – weil er oder sie | |
nicht die britische Staatsbürgerschaft hat und sich plötzlich mit Fragen | |
zum eigenen Bleiberecht auseinandersetzen muss oder der Job nun in Gefahr | |
ist? Wer wollte mit dem oder der Leave-WählerIn dann noch die Bettdecke | |
teilen? | |
## „Europa, lass uns unsere Liebesgeschichte fortsetzen!“ | |
Man muss nicht einmal mutmaßen. Der Jurist Nigel Shepherd kann es | |
bestätigen. Ein paar Monate nach dem Referendum erzählte der damalige | |
Vorsitzende des Verbandes für Familienrecht „Resolution“ dem Guardian von | |
ersten Brexit-Scheidungen. Unterschiedliche Meinungen dazu seien vermutlich | |
nicht der einzige Grund gewesen, [2][so Shepherd], „aber wir haben von | |
einer Reihe unserer Mitglieder von Fällen gehört. Es war eine wirklich | |
spaltende Kampagne. Es hat einigen Paaren den Rest gegeben. Es war der | |
Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und sie dazu brachte, zu | |
denken: ‚Wir sind wirklich inkompatibel.‘“ | |
Es wäre natürlich schlau gewesen, schon vor dem Schritt zum Traualtar auch | |
politische Streitpunkte zu klären. Es soll ja Eheverträge mit allerhand | |
bizarren Verhaltensregeln für die Beziehung geben. Ob es bereits solche | |
Dokumente mit dem Unterpunkt „Referendum“ nebst Wahlempfehlung im Falle | |
einer solchen Volksabstimmung gibt? Zweifelhaft. | |
Ganz Großbritannien ist also vom „Love Drain“ betroffen. Ganz | |
Großbritannien? Nein! Ein von unbeugsamen SeparatistInnen bevölkerter | |
Landesteil hört nicht auf, dem Liebesentzug Widerstand zu leisten. | |
Schottlands Regierungspartei Scottish National Party will der britischen | |
Regierung in Westminster schon lange entkommen und den Landesteil in die | |
Unabhängigkeit führen. Da sich beim Brexit-Referendum die Mehrheit der | |
SchottInnen gegen den Austritt aus der EU ausgesprochen hat, sieht sie sich | |
im Recht, noch mal über eine Abspaltung vom Vereinigten Königreich | |
abzustimmen. | |
Deshalb schmieren die SchottInnen der EU schon mal ordentlich Honig um das | |
Mäulchen: Als Werbung für Land und Leute verbreitet eine unter anderem von | |
der schottischen Regierung und der nationalen Tourismusorganisation | |
erdachte Kampagne [3][derzeit ein Video], in dem ein schottischer Adonis | |
allein am wolkenverhangenen Strand steht und zu getragenem Klaviergeklimper | |
Aspartam-süße Botschaften gen Europa ruft: „Unser schönes Land ist offen | |
für euch.“ Zoom auf blaue Augen: „Unsere Arme sind offen.“ Das unfreiwil… | |
komische Video schließt mit „Europa, lass uns unsere Liebesgeschichte | |
fortsetzen!“ Ich muss bei meinem Aufenthalt in Schottland an den falschen | |
Stränden gewesen sein. Nicht ein einziges Mal traf ich dort auf | |
Schmeicheleien rufende, einsame Hünen. | |
## Mit dem „Love Train“ lässt sich der „Love Drain“ regeln | |
Meine Empfehlung: Wenn es im Norden des Königreiches Liebesüberschuss | |
gibt, sollten sich die SchottInnen womöglich auf Reise in den Süden machen. | |
Das Lied „Love Train“ von den O’Jays gäbe das Programm vor: „The next … | |
that we make will be England.“ Mit dem „Love Train“ lässt sich der „Lo… | |
Drain“ doch wohl untereinander regeln?! | |
Vielleicht auch für Duncan, denn dem habe ich durch diesen Text die | |
Hoffnung auf eine gepflegte Scheinehe vermasselt. Aber immerhin schrieb ich | |
mit seiner Einwilligung. Er hatte dafür nur einen Wunsch: „Just make me | |
sound handsome, okay?“ | |
6 Apr 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Schwerpunkt-Brexit/!t5313864 | |
[2] https://www.theguardian.com/lifeandstyle/2016/nov/09/legal-aid-cuts-no-faul… | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=DiYmRBEtdU8 | |
## AUTOREN | |
Eva Oer | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Brexit | |
Großbritannien | |
Liebe | |
Lesestück Meinung und Analyse | |
Schwerpunkt Brexit | |
Schwerpunkt Brexit | |
Schwerpunkt Brexit | |
Schwerpunkt Brexit | |
Schwerpunkt Brexit | |
Schwerpunkt Brexit | |
Schwerpunkt Brexit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Schottland vor dem Brexit: Ein Referendum wird kommen | |
In Schottland scheint die Unabhängigkeitsbewegung neuen Auftrieb zu | |
bekommen. Grund dafür ist die Unbeliebtheit des neuen Premier Boris | |
Johnson. | |
Brexit im Alltag: Es war einmal kein Brexit | |
Sechs Geschichten von verschwundenen Orchestern, großen Schiffen, bunten | |
Pässen und reichen Firmen. | |
Ringen um EU-Austritt Großbritanniens: Mays Brexit-Endspiel | |
Hopp oder topp: Fliegt Großbritannien in wenigen Tagen aus der EU raus oder | |
ködert May den EU-Gipfel mit einem Corbyn-Deal? | |
Brexit-Verhandlungen: Klinkenputzen bei Merkel und Macron | |
Am Mittwoch beraten in Brüssel die EU-Regierungschefs erneut über einen | |
Brexit-Aufschub. Preminerministerin May wirbt zuvor in Berlin und Paris für | |
ihren Kurs. | |
Brexit: Geht immer noch nicht | |
In einem Brief an EU-Ratspräsident Tusk bittet die britische | |
Premierministerin um Aufschub für den Brexit. Der will den Austritt sogar | |
um ein Jahr verzögern. | |
Brexit-Votum im britischen Unterhaus: Abgeordnete wollen späteren Austritt | |
Das britische Parlament stimmt für eine Aufschiebung des Brexit-Datums – | |
mit nur einer Stimme Mehrheit. Ein ungeordneter EU-Ausstieg soll so | |
verhindert werden. | |
Gespräche in Großbritannien: Mays neuer Brexit-Plan heißt Corbyn | |
Das Gesprächsangebot der Premierministerin an die Opposition soll helfen, | |
den Brexit erneut zu verschieben. Die Labour-Basis reagiert gespalten. |