# taz.de -- Brexit im Alltag: Es war einmal kein Brexit | |
> Sechs Geschichten von verschwundenen Orchestern, großen Schiffen, bunten | |
> Pässen und reichen Firmen. | |
Bild: Den burgundfarbenen Reisepass gibt es für Briten bald wieder in navyblau | |
## Unschöne Ruhe | |
Mit Pauken und Trompeten haben sie bereits die Insel verlassen: das | |
Jugendorchester der Europäischen Gemeinschaft (Euyo) und das | |
Barock-Orchester der Europäischen Union (Eubo). Euyo ist nach Italien | |
geflüchtet, das Eubo hat sich in Antwerpen niedergelassen. Eine Sprecherin | |
von Eubo erklärte der taz, dass für das Orchester europäisch zu sein immer | |
auch bedeutet habe, Teil der EU zu sein. Denn beide Orchester beziehen | |
sowohl ihre Musiker*innen als auch ihre Gelder größtenteils aus der EU. Für | |
Euyo kam das Brexit-Referendum im Juni 2016 ausgerechnet zu einer Zeit, als | |
es sich noch stärker europäisieren wollte. „Der Brexit gab dann nochmal den | |
entscheidenden Anstoß“, erklärt Generalsekretär Marshall Marcus. Außerdem | |
hätte die italienische Stadt Ferrara das Orchester mit einem Sitz in der | |
Stadtmitte willkommen geheißen. Nur die britischen Musiker*innen seinen | |
noch immer stark getroffen. Auch für die im vergangenen Jahr im Alter von | |
88 Jahren verstorbene Mitgründerin Joy Bryer soll das Referendum ein Schock | |
gewesen sein, sagt Marcus. (Daniel Zylbersztajn) | |
## Fette Brexit-Beute | |
Bis zum Brexit-Referendum 2016 hat sich kaum jemand für die Europäische | |
Bankenaufsicht EBA und die Arzneimittelagentur EMA interessiert. Die beiden | |
EU-Agenturen waren eigentlich nur Fachleuten ein Begriff. Doch als klar | |
wurde, dass EBA und EMA aus Brexit-Land abziehen müssten, begann der Streit | |
um die Beute. Insgesamt gab es 27 Bewerbungen für die beiden Behörden, die | |
EBA mit Sitz im Londoner Geschäftsviertel Canary Wharf war besonders | |
begehrt. | |
Nun haben die Agenturen den Brexit vollzogen. Sie sind nach Paris bzw. | |
Amsterdam umgezogen und einige hundert Mitarbeiter mit ihnen. Die | |
Entscheidung über den neuen Europa-Sitz war heftig umstritten, vor allem | |
Frankfurt hatte sich gute Chancen für die Bankenaufsicht ausgerechnet. Doch | |
Deutschland zog den Kürzeren – genau wie bei der Arzneimittelagentur. Am | |
Ende musste sogar das Los entscheiden. | |
Mailand und Amsterdam hatten in der Endrunde der Abstimmungen um die EMA | |
die gleiche Stimmenzahl erhalten, also hat die EU die Entscheidung am Ende | |
dem Zufall überlassen. Deutschland hatte sich mit der Stadt Bonn ebenfalls | |
um den EMA-Sitz beworben, war allerdings bereits im ersten Wahlgang | |
durchgefallen. | |
Nach dem Umzug auf den Kontinent hat man von den beiden begehrten Behörden | |
übrigens nichts mehr gehört. Sie sind wieder in der bürokratischen | |
Versenkung verschwunden – wie vor dem Brexit. (Eric Bonse) | |
Schiff ahoi | |
Ja, da fahren sie ja schon! Aus Sorge vor einem Lieferengpass nach dem | |
Brexit hatte sich die britische Regierung vor Monaten schon darum | |
gekümmert, dass der Schiffsverkehr von und nach Großbritannien ausgeweitet | |
wird. Mit verschiedenen Redereien hatte das britische Verkehrsministerium | |
einen Vertrag über 100 Millionen Pfund abgeschlossen. Mindestens sechs | |
Monate sollten die Fähren öfter als zuvor von der Insel ab- und dorthin | |
fahren. Und das – machen sie jetzt auch schon. So bestätigte die | |
französische Gruppe Brittany-Ferries der taz, dass es bei ihnen 20 | |
Überfahrten mehr pro Woche als gewöhnlich geben würde. Übrigens: Solange | |
der Brexit nicht vollzogen ist, bedeutet das für Reisende viel bessere | |
Chancen auf Insel-Schnäppchen. Der wegen des Brexit-Gespensts gefallene | |
Pfund macht einen Urlaub in UK für EU Bürger*Innen so günstig wie lange | |
nicht. (Daniel Zylbersztajn) | |
## Der ganz persönliche Brexit | |
Für manche Briten in Deutschland beginnt ihr ganz persönlicher Brexit | |
bereits jetzt. Viele britische Staatsbürger in Berlin haben von der | |
Ausländerbehörde eine Aufforderung erhalten, zu einem vorgegebenen Termin | |
mit einem Antrag über die Erteilung eines Aufenthaltstitels vorstellig zu | |
werden – auch wenn sie schon längst einen haben. | |
Klar: Wer in den letzten Jahren gemäß der EU-Freizügigkeit einfach so nach | |
Deutschland zog und sich nie irgendwo registrierte, muss so langsam den | |
Status klären. Aber auch wer ewig hier ist und einen Status hat, muss das | |
neu tun. Denn bestehende Aufenthaltstitel für Angehörige eines | |
Mitgliedstaates der EU verlieren mit dem Brexit ihre Gültigkeit und werden | |
nicht automatisch umgewandelt. Man darf nun also das allgemeine | |
Visaformular ausfüllen, das nach Zweck des Aufenthalts und Mitteln des | |
Lebensunterhaltes fragt – also die Einreise in das Land beantragen, in dem | |
man schon lebt. | |
Das Verfahren ist freiwillig – rund die Hälfte der 18.000 britischen | |
Staatsbürger in Berlin sollen die entsprechende Online-Registrierung des | |
Senats genutzt haben. Der Vorteil: man bekommt ohne weiteren Antrag einen | |
Termin. Der Nachteil: man bekommt ohne weiteren Antrag einen Termin. Auch | |
ohne Brexit. (Dominic Johnson) | |
Navyblau statt Burgundrot | |
Wer derzeit einen neuen britischen Reisepass beantragt hat, bekommt | |
manchmal schon etwas richtig Neues: einen nämlich, auf dem die Überschrift | |
European Union verschwunden ist. Zwar aktuell noch in die bekannte | |
burgundrote Farbe gehüllt, soll bis Ende des Jahres aber auch das ehemalige | |
Navyblau britischer Pässe zurückgekehrt sein. | |
Auf Twitter beschwerten sich mehrere Briten über diese neuen Pässe. Louise | |
Vale, eine Autorin aus London, twitterte ein Foto ihres neuen und alten | |
Passes: „Habe gerade meinen neuen Pass abgeholt und war enttäuscht, dass | |
auf ihm auf dem Deckel nicht mehr Europäische Union steht.“ Das britische | |
Innenministerien erklärte hierzu: „Burgundfarbene Reisepässe ohne die Worte | |
‚European Union‘ auf dem vorderen Deckel wurden am 30. März 2019 | |
eingeführt.“ Am 29. März hätte der Brexit nach dem ursprünglichen Plan | |
eigentlich stattfinden sollen. | |
Als das Innenministerium Ende Dezember 2017 ankündigte, dass der EU-Pass | |
abgeschafft werde, bemerkte Nigel Farage, der Mann, der jahrelang für den | |
Austritt der EU eintrat, es gehe nicht nur um die Farbe des derzeit | |
„pflaumenfarbenden Passes“, sondern um das, was darauf stehe. „Es wird | |
wieder ein britischer Reisepass sein. Wir haben unsere nationale Identität | |
über Bord geworfen, und jetzt erhalten wir sie zurück.“ Weil damals gerade | |
Weihnachten war, wünschte er noch „Happy Brexmas“. (Daniel Zylbersztajn) | |
## Auszug aus Brexit-Land | |
Typisch, auch die großen Unternehmen haben natürlich längst vor-reagiert, | |
darunter Merrill Lynch, Easy Jet und Sony. Die Firmen verlagerten Teile | |
ihrer Geschäfte in andere europäische Staaten. Teilweise, wie im Falle von | |
Sony, handelt es sich allein um eine Namensübernahme: von Sony Europe Ltd. | |
in Großbritannien zu Sony Europe B.V. mit Sitz in Amsterdam. „So können wir | |
unseren Handel weiter wie gewohnt betreiben, wenn das Vereinigte Königreich | |
die EU verlässt“, sagte ein Sony-Sprecher der taz. Bei der Flugzeuglinie | |
Easy Jet fliegen wegen des Brexit-Referendums seit 2017 135 Flugzeuge, das | |
ist knapp die Hälfte der Flotte, unter österreichischer Registrierung. Easy | |
Jet sollte so in jedem Fall in der Lage sei, sein europäisches Netzwerk | |
aufrechtzuerhalten. | |
Ein Sprecher der Bank Merrill Lynch (Bank of America) gab an, dass sie | |
bislang 400 Millionen Dollar ausgegeben hätten, um für den Brexit bereit zu | |
sein. Nur für den Fall eines harten Brexits hatte die Bank vorsorglich | |
ihren Anlagen-Arm für EU-Kund*Innen nach Paris und Dublin verlegt. | |
Eigentlich wollte auch der Nahrungsmittelhersteller Unilever seinen | |
Hauptsitz nach Rotterdam verlagern, bis die Mehrheit der Aktionär*Innen | |
dagegen Sturm lief. Der japanische Fahrzeughersteller Honda hingegen will | |
seine Geschäfte in Großbritannien bis 2021 ganz aufgeben, behauptet jedoch, | |
Grund dafür sei nicht der Brexit. (Daniel Zylbersztajn) | |
13 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
Eric Bonse | |
Daniel Zylbersztajn | |
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