| # taz.de -- Kolumbiens Geschichte der Gewalt: „Gespenstern einen Platz geben�… | |
| > Die Gewalt in Kolumbien erkundet Juan Gabriel Vásquez in seinen Romanen. | |
| > Im Interview spricht er über Bogota, die Geschichte und anstehende | |
| > Wahlen. | |
| Bild: Der Autor Juan Gabriel Vásquez in Berlin 2021 | |
| taz: Herr Vásquez, es gibt Städte, die in der Literatur eine starke Rolle | |
| spielen. Ich denke da an Berlin, Wien, Paris, New York oder auch Buenos | |
| Aires. In Bogotá hat sich meines Wissens keine Literatur entwickelt, die | |
| typisch für diese Millionenstadt wäre. Ihr zuletzt auf Deutsch erschienener | |
| Roman „Die Gestalt der Ruinen“ ist einer der wenigen mir bekannten | |
| kolumbianischen Romane, in denen die Stadt eine tragende Rolle spielt. | |
| Juan Gabriel Vásquez: Ich habe in meinen Romanen immer versucht, Bogotá als | |
| Protagonistin darzustellen. Etwa auch in „Das Geräusch der Dinge beim | |
| Fallen“. Da geht es um eine Erforschung dessen, was für meine Generation | |
| das Leben in einer von Angst und unvorhersehbarer Gewalt geprägten Stadt | |
| gewesen ist. Man geht durch das Zentrum von Bogotá und sieht die Stelle, wo | |
| 1914 der liberale Politiker Rafael Uribe Uribe erschlagen wurde. Man kommt | |
| an die Straßenecke, wo man 1948 den liberalen Caudillo Jorge Eliécer Gaitán | |
| ermordet hat oder an das Haus, in dem (der kolumbianische Befreiungsheld, | |
| d. Red.) Simón Bolívar 1828 nur knapp einem Anschlag entkommen ist. Es ist, | |
| als ob sich die Geschichte der kolumbianischen Gewalt in wenigen | |
| Häuserblocks des Stadtzentrums verdichten würde. | |
| Es gibt viele Schriftsteller, die in Bogotá zur Welt kamen aber wenige, die | |
| über die Stadt geschrieben haben. | |
| Als ich während des Jurastudiums entdeckte, dass ich Schriftsteller werden | |
| wollte, fiel mir auf, dass dieses Zentrum von Bogotá, wo meine Universität | |
| lag, keinen Platz in der Literatur hatte. Vor allem, wenn wir Vergleiche | |
| zur Karibikküste ziehen, wie sie ein García Márquez beschreibt. Eines der | |
| vordringlichsten Ziele meines Schreibens war also, diesen Gespenstern der | |
| Vergangenheit, die durch die Geschichte des Stadtzentrums spuken, einen | |
| Platz zu geben. | |
| Kann es sein, dass diese im Hochland gelegene Stadt für den magischen | |
| Realismus, der lange in Mode war, schlicht zu kalt und feindlich war? | |
| Die kolumbianische Literatur, wie die lateinamerikanische Literatur | |
| insgesamt, war anfangs ländlich geprägt. Wir finden das in Peru, in Ecuador | |
| oder auch in Mexiko. Nach und nach wurden dann schon auch Bücher | |
| geschrieben, die in Bogotá spielen. Aber die Scheinwerfer waren nicht auf | |
| sie gerichtet, weil das Werk von Gabriel García Márquez weltweit über Jahre | |
| die Vorstellungen über Kolumbien dominiert hat. Aber Bogotá wie Lima oder | |
| Mexiko-Stadt sind Städte, deren Geschichte erzählt werden muss. [1][Und das | |
| versuchen wir zu tun.] | |
| Die Geschichte von Bogotá ist auch eine Geschichte der Mordanschläge. | |
| Allein im Wahlkampf 1989/90 wurden drei Präsidentschaftskandidaten | |
| ermordet. | |
| Darum geht es in „Die Gestalt der Ruinen“. Diese mysteriösen Umstände, die | |
| die Ermordung von Personen des öffentlichen Lebens umgeben, ist Teil der | |
| Politik von Kolumbien im 20. Jahrhundert gewesen. Vergleichbares sah man in | |
| anderen Ländern Lateinamerikas kaum. Warum ist das so? Welche sind die | |
| geheimen Mechanismen, die dem zugrunde liegen? Diesen Fragen versuche ich | |
| in meinen Romanen nachzugehen. | |
| Die Rechte Kolumbiens fährt eine erbitterte Kampagne, um einen Wahlsieg des | |
| Linkspopulisten Gustavo Petro am 29. Mai zu verhindern. Muss man um dessen | |
| Leben fürchten? | |
| Kolumbien ist [2][ein extremistisches und sehr gewalttätiges Land], wo die | |
| extreme Rechte lange Zeit völlig straflos töten konnte. Man kann das also | |
| nicht ausschließen. Ein tödliches Attentat auf Petro wäre das Schlimmste, | |
| was dem Land jetzt passieren könnte. | |
| Die Überraschung dieses Wahlkampfes ist die afrokolumbianische Anwältin und | |
| Umweltaktivistin Francia Márquez, die an der Seite von Gustavo Petro | |
| Vizepräsidentin werden will. Was halten Sie von ihr? | |
| Francia Márquez ist eine außergewöhnliche und mutige Frau, die die | |
| hässlichsten Seiten der kolumbianischen Gesellschaft bloßgelegt hat: den | |
| Rassismus, den Klassismus, die Verachtung der Minderheiten. Dass sie im | |
| Rennen ist, finde ich äußerst positiv. Sie steht für eine Region | |
| Kolumbiens, die immer unterrepräsentiert war. Ich wünsche mir zwar keine | |
| Präsidentschaft von Petro, aber dass sie dabei ist, erscheint mir positiv. | |
| Ich hoffe, dass sie noch sehr lange in der kolumbianischen Politik präsent | |
| sein wird und ihre Positionen verteidigt. Dass eine schwarze Frau diese | |
| prominente Position einnimmt, erscheint mir wichtig, genauso wie die | |
| Kandidatur des Afrokolumbianers Luis Gilberto Murillo an der Seite des | |
| Zentrumspolitikers Sergio Fajardo. | |
| Kolumbien war das einzige Land auf dem Subkontinent, das sich zu Beginn des | |
| Jahrhunderts der Welle von linken oder progressiven Regierungen entzogen | |
| hat. Wie kann man das erklären? | |
| Kolumbien ist immer ein besonders konservatives Land gewesen. Der einzige | |
| Präsident des 20. Jahrhunderts, dessen Regierung man progressiv nennen | |
| kann, war Alfonso López Pumarejo in den 1930er Jahren. Abgesehen davon | |
| haben die Elite und das Kapital dem Land stets den Rücken zugewendet, so | |
| wie Bogotá abgekoppelt von den Regionen existiert. Das ändert sich jetzt | |
| langsam. In Kolumbien hat es aber nie eine starke politische Linke gegeben. | |
| Zum Teil ist das die Schuld der Guerilla, die den Zugang einer | |
| demokratischen Linken zum politischen Leben verzögert hat. | |
| War es nicht eher die Rechte, die Versuche der Etablierung einer | |
| unbewaffneten Linken, wie der Unión Patriótica in den 1990er Jahren, im | |
| Blut der Aktivisten erstickt hat? | |
| Natürlich. Das stimmt auch. Es gibt dieses Klischee, dass Kolumbien | |
| politisch so stabil ist und seit den 1950er Jahren keine Diktatur mehr | |
| gehabt hat. Und die dauerte nur wenige Jahre. Ganz im Gegensatz zu den | |
| anderen Ländern, vor allem im Süden des Kontinents, wo sich sehr lange und | |
| sehr blutige Diktaturen etablierten, wurde Kolumbien als demokratisches | |
| Vorbild betrachtet. Ich habe diese Ansicht nie geteilt. Es gab keine | |
| Diktaturen, weil sie nicht notwendig waren. Die Rechte und die gewalttätige | |
| Rechte haben das politische Leben immer kontrolliert. Die extreme Rechte | |
| hat ihre politischen Gegner immer mit einer verblüffenden Leichtigkeit und | |
| absoluter Straflosigkeit eliminiert. Deswegen bedurfte es keiner | |
| Militärdiktatur. | |
| Wie erklärt sich diese Gewalt in Kolumbien, die ja viel älter ist, als der | |
| Drogenhandel, der gerne verantwortlich gemacht wird? | |
| Das ist die Besessenheit meiner Romane und der kolumbianischen Literatur | |
| überhaupt, auf diese Frage eine Antwort zu geben. Die politische Gewalt | |
| reicht ja bis weit ins 19. Jahrhundert zurück. Es gab immer nur kurze | |
| Perioden, in denen das Land nicht in einen Bürgerkrieg verstrickt war. Die | |
| Konservativen und die Liberalen hatten Kolumbien politisch zweigeteilt. | |
| Auch die Religion im öffentlichen Leben hat entscheidend zu dieser Spaltung | |
| beigetragen, vom 19. Jahrhundert bis zur Epoche zwischen 1948 und 1957, die | |
| wir La Violencia nennen. | |
| Dann kam der ideologische Schirm, den die kubanische Revolution über die | |
| linken Bewegungen des Subkontinents gespannt hat, und die Entstehung der | |
| Guerillaorganisationen in den 1960er Jahren. Als Reaktion entstand dann der | |
| rechtsextreme Paramilitarismus und alles wurde durch den Drogenhandel noch | |
| befeuert. So erscheint die Geschichte Kolumbiens als Abfolge von | |
| Gewalttätigkeiten, die einander ablösen. Die kolumbianische Literatur ist | |
| diesem Phänomen immer nachgegangen. | |
| Die ausufernde Gewalt hat auch mit dem Reichtum des Landes zu tun, Gold, | |
| Smaragde, Coca-Anbau? | |
| Das spielt natürlich eine Rolle und ist einer der Gründe, warum ich immer | |
| für die Legalisierung von Drogen eingetreten bin. Ich habe kürzlich einen | |
| Artikel von mir entdeckt, den ich schrieb, als 2012 [3][die | |
| Friedensverhandlungen mit der Farc-Guerilla] begannen. Meine Überzeugung | |
| ist, dass es echten Frieden nur geben kann, wenn zwei Ursachen beseitigt | |
| werden: die großen Erträge aus dem Drogenhandel und die soziale | |
| Ungleichheit. Der illegale Drogenhandel ernährt eine Mafia und nährt die | |
| Korruption. Daher führt für mich kein Weg an der Legalisierung vorbei. Aber | |
| das wird nie passieren, deshalb verbleiben wir in der Spirale der Gewalt. | |
| 24 May 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ralf Leonhard | |
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