# taz.de -- Jahrestag der Stuttgart 21-Proteste: Zeit der Kastanien | |
> Die Verantwortlichen schweigen, die Gerichte verurteilen Bahnhofsgegner, | |
> von den Bäumen fallen Pflastersteine. Ein Jahr Polizeieinsatz im | |
> Stuttgarter Schlossgarten. | |
Bild: Sein Foto steht symbolisch für den 30. September 2010: Dietrich Wagner, … | |
STUTTGART taz | Ursel Beck kickt gegen eine Kastanie. Es ist ein sonniger | |
Herbsttag. Im Stuttgarter Schlossgarten verfärben sich langsam die Blätter | |
der großen Eichen- und Kastanienbäume. Die kleine Frau trägt ihre braunen | |
Haare kurz geschnitten, eine sportliche schwarze Jacke und eine große | |
Sonnenbrille, die ihre Augen verdeckt. An ihren Ohren hängen große silberne | |
Ringe, an die Jacke hat sie sich den obligatorischen "Oben bleiben"-Button | |
gesteckt. | |
Beck schaut zu Boden. "Auch die Natur erinnert jetzt wieder an den 30. 9.", | |
sagt sie. "Jetzt fallen wieder Pflastersteine von den Bäumen." Und noch mal | |
kickt Ursel Beck eine Kastanie weg. | |
Dieser Herbst holt die Erinnerungen wieder hoch und Beck ist sicher, dass | |
es ihr in jedem Herbst so gehen wird. Bei Kastanien und rotgelben Blättern | |
denkt Ursel Beck an Schlagstöcke, Wasserwerfer und Tränengas. "Man sieht | |
die Kastanien und weiß, es ist jetzt wieder die Zeit." Es ist die | |
Erinnerung an die Zeit, in der vor einem Jahr Hundertschaften der Polizei | |
Demonstranten gewaltsam zurückdrängten, um Absperrgitter aufzustellen, wo | |
später Bäume gefällt werden sollten wegen des Bahnprojekts Stuttgart 21. | |
Zehntausende wollten das im Park verhindern, die Staatsmacht aber wollte | |
die Abholzung mit allen Mitteln erzwingen. | |
## Bitterer Herbst | |
Wer wissen will, wie es um die Versöhnung in Stuttgart steht, der muss sich | |
mit Menschen wie Beck unterhalten, Menschen, die bis heute nicht begreifen | |
können, was am 30. September 2010 in ihrer Stadt geschah und deren Leben | |
sich durch diesen Tag so sehr verändert hat. | |
Ursel Beck hatte an jenem Vormittag die Schülerdemo begleitet, die im | |
Schlossgarten enden sollte. Ihr 14-jähriger Sohn war auch dabei. Er kam mit | |
blauen Flecken nach Hause. Und nicht nur das. "Ich glaube, man kann bei | |
einigen von einer Traumatisierung sprechen." Ihr selbst gehe es noch ein | |
Jahr nach dem "schwarzen Donnerstag" so. "Wenn ich im Urlaub einen Bagger | |
sehe, empfinde ich das als Bedrohung", erzählt sie. Von einer | |
Wiedergutmachung könne heute keine Rede sein. | |
Statt eine Entschuldigung auszusprechen, beharrte die alte | |
baden-württembergische Landesregierung darauf, dass die Gewalt im | |
Schlossgarten von Demonstranten ausgegangen sei. CDU-Innenminister Heribert | |
Rech behauptete damals gar, es seien Pflastersteine geworfen worden. In | |
Wahrheit schossen Kastanien, vom Strahl der Wasserwerfer von den Ästen | |
gerissen, durch die Luft. | |
Einer der damals besonders Betroffenen folgt heute einem Blindenstock. | |
Dietrich Wagner ist 67 Jahre alt. Er hat sich an die neue, die | |
schattenhafte Realität, die ihn umgibt, gewöhnen müssen. An jenem | |
Donnerstag wurden die Augäpfel des Mannes von einem Wasserwerfer getroffen. | |
Sein Bild, wie er, von zwei jungen Männern gestützt, aus dem Schlossgarten | |
geführt wird, ging durch die Presse. | |
## Zeichen der Empörung | |
Auf dem linken Auge sieht er fast nichts mehr, auf dem rechten hat er noch | |
eine Sehleistung von acht Prozent. Durch die dicken Gläser wirken seine | |
dunklen Augen riesig, eines etwas größer als das andere. Blindenbinde, | |
Blindenstock und Blindenbutton an der Mütze - die Zeichen wirken wie eine | |
Empörung, als sollten sie sagen: Seht her. | |
Am Donnerstagmittag gibt Wagner zusammen mit anderen Opfern und Vertretern | |
der Parkschützer im Schlossgarten eine Pressekonferenz. Der Tisch vor ihnen | |
ist mit Kastanien dekoriert, davor ein großes Plakat: "Wir schützen den | |
Schlossgarten". Wagner zündet sich einen Zigarillo an. Immer wieder senkt | |
er seinen Kopf und kratzt sich an der Stirn. Als er an der Reihe ist und | |
drei Minuten Redezeit erhält, fängt er ruhig an zu reden, seine Worte aber | |
sind hart. | |
Der 30. September sei eines der schlimmsten Verbrechen des deutschen | |
Staates seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Polizei habe "vorsätzlich maximale | |
Gewalt gegen renitente Bürger angestrebt". Wagner spricht von "Mächten des | |
Staates", von Korruption, Lügen und einer Kriminalisierung der | |
Demonstranten. Das Einzige, was ihn freue, ist, "dass diese Mächte sich | |
furchtbar die Finger verbrannt haben". Er meint die Abwahl der CDU. | |
Als Wagners Zeit vorbei ist und er vom Pressesprecher unterbrochen wird, | |
legt der Rentner einen Finger an den Mund. "Ich habe die Hälfte gesagt", | |
nuschelt er ins Mikrofon. | |
## Kollektives Schweigen | |
Die Verantwortlichen, die Wagner angeklagt hat, reden bis heute nicht. | |
Siegfried Stumpf, der frühere Polizeipräsident von Stuttgart, der die | |
Befehlsgewalt hatte, als Wagner sein Augenlicht verlor, hat sich | |
zurückgezogen. Und die Vertreter der abgewählten Regierung wollen auch | |
nicht reden. Heribert Rech etwa. Warum will er nicht erzählen, was er | |
erlebt hat, als er am Krankenbett von Dietrich Wagner stand? | |
Auch das ist fast ein Jahr her. Viele wissen nicht, dass sich der | |
Innenminister nach dem Wasserwerfereinsatz zu Wagner ins Krankenhaus | |
getraut hat, immerhin. Doch Wagner, traumatisiert, hatte nur Hohn für ihn | |
parat und beschimpfte ihn. Rech wolle darüber nicht reden, hieß es ein | |
halbes Jahr nach dem Besuch aus seinem Büro. Ein weiteres halbes Jahr | |
später kommt auf eine Anfrage gar keine Reaktion mehr. | |
Durch die Landtagswahl im März sind andere Politiker an die Macht gekommen, | |
doch der Konflikt um den Bahnhof ist nach wie vor ungelöst. Zumindest das | |
ist nun geklärt: Am 27. November wird es eine Volksabstimmung über den | |
Bahnhofsneubau geben. Das Trauma aber, das der "schwarze Donnerstag" bei | |
vielen Stuttgartern hinterlassen hat, ist geblieben. Die Nachfolger des | |
Stuttgarter Polizeipräsidenten Stumpf und des Innenministers Rech haben es | |
geerbt. | |
In Stumpfs ehemaligem Büro sitzt heute Thomas Züfle. Von hier aus hat er | |
einen herrlichen Blick auf die im Talkessel liegende Stuttgarter | |
Innenstadt. Nur den Bahnhof sieht er nicht. "Gott sei Dank", sagt er | |
lächelnd. Züfle wirkt ruhig. Als "besonnen" haben ihn Weggefährten und | |
Politiker zu seinem Amtsantritt im Juni beschrieben. | |
## Neue Herausforderungen | |
Beim Gespräch über den 30. September überlegt er sich die Worte sehr genau. | |
Der Mann mit dem Schnäuzer sitzt an einem runden Tisch und spielt mit | |
seiner Lesebrille. Züfle benutzt immer wieder die Vokabel "differenzieren". | |
Er spricht lieber allgemein vom Konflikt um Stuttgart 21. | |
Er selbst arbeitete im vergangenen Jahr noch in Tübingen, von den | |
Ausschreitungen im Schlossgarten erfuhr er durch die Medien. Am liebsten | |
würde er am Jahrestag nach vorn blicken. "Ich sehe das weniger unter der | |
Überschrift ,symbolträchtiges Datum' als unter ,neue Herausforderungen', | |
die wir mit dem neuerlichen 30. 9. haben." "Neuerlich" betont er. | |
Doch der Polizeipräsident kann nicht abstreiten, dass die Ereignisse | |
Auswirkungen haben. "Der 30. 9. strahlt durchaus jeden Tag auf unsere | |
Arbeit aus." Damit meint er das neue Konzept, das er mit der Stuttgarter | |
Polizei verfolgt: die Verstärkung der Anti-Konflikt-Teams, eine bessere | |
Kommunikation und mehr Transparenz vor Einsätzen. Dabei bewegt er sich | |
stets in einem Spannungsfeld. "Wir fahren eine strikte Strategie der | |
Deeskalation, die manchen schon zu weit geht." | |
Züfle sagt, er habe keine Angst vor erneuten Ausschreitungen. Doch stets | |
begleite ihn der feste Wille, "diese hässlichen Bilder nie wieder zu | |
haben". Das ist etwas, wozu er beitragen kann. Die Erwartungen an die | |
damals Verantwortlichen kann er nicht nachträglich erfüllen. "Wenn ich | |
einen Fehler mache, dann stehe ich dazu. Aber ich kann das schlecht für | |
andere machen." Wer welchen Fehler am 30. 9. gemacht hat, möchte er schon | |
gar nicht bewerten. | |
## Prozesse im Wochentakt | |
Wöchentlich finden in Stuttgarts Gerichten Prozesse statt, die sich um | |
Auseinandersetzungen rund um den Bahnhofsbau drehen und um den "schwarzen | |
Donnerstag". Noch immer sind die Zuschauerbänke voll von erbosten | |
BürgerInnen, die ihrem Unmut freien Lauf lassen. 320 Verfahren zog der 30. | |
September nach sich. Verurteilt wurden fast nur Demonstranten. | |
Die Staatsanwaltschaft begründet das damit, dass die Verfahren gegen | |
Polizisten oft komplexer seien. Da gebe es nicht nur den Vorwurf der | |
Nötigung oder der Beleidigung, stattdessen beträfen viele Verfahren etwa | |
den Wasserwerfereinsatz. "Das ist nicht so leicht aufzuarbeiten", sagte | |
eine Sprecherin gegenüber der taz. | |
Ursel Beck steht an einem Laternenmast mit halb abgekratzten | |
S-21-Aufklebern. Über die gerichtliche Aufarbeitung kann Beck nur den Kopf | |
schütteln. "Was auffällt, ist, dass nix passiert ist seit damals", sagt | |
sie. "Und das schmerzt eigentlich noch mehr. Für manche war der Umgang mit | |
dem Tag noch schlimmer als der Tag selbst." | |
30 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
N. Michel | |
M. Kaul | |
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