# taz.de -- Tätowieren als Häftlingsritual: Hinter den Gittern, unter der Haut | |
> Knasttattoos sollen Identität stiften, von Freiheit und Erinnerungen | |
> erzählen – und bergen gesundheitliche Risiken. Nun sterben sie aus, die | |
> alten Symbole verlieren an Bedeutung. | |
Bild: Nadelstich mit Tradition: Knasttattoos erzählen von Sehnsüchten und Hof… | |
Erst wenn Stefan Grünweg* den rechten Ärmel seines T-Shirts hochschiebt, | |
sieht man, wo er fast acht Jahre seines Lebens verbracht hat. Von der | |
Schulter grinst eine Harlekinfratze herab. Auf dem Oberarm prangt ein | |
Löwenkopf. Auf dem Rücken streifen Wölfe umher. "Rudeltiere", sagt Stefan | |
Grünweg, "aber auf der Jagd sind die alleene." Sein Berlinerisch ist so | |
breit gedrückt wie der Zigarettenfilter, durch den er die letzten | |
Milligramm Teer in sich hineinzieht. | |
Man muss Stefan Grünweg eine Zeit lang zuhören, um zu verstehen, warum die | |
Wölfe auf dem Rücken des 35-Jährigen herumstreunen. Es sind Tätowierungen, | |
dunkel in die Haut geritzt. Für immer. Sie erzählen aus Grünbergs Leben. | |
Ein Leben, das er zu einem großen Teil in Berliner Gefängnissen verbracht | |
hat. Wirtschaftskriminalität. Allein, wie ein Wolf. Er saß sechs Jahre, war | |
auf freiem Fuß und ging wieder in den Bau - noch mal zwei Jahre. Dort hat | |
er sich seine Erinnerungen und Sehnsüchte unter die Haut stechen lassen - | |
damit er nichts vergisst. | |
Gesetzlich ist das Tätowieren im Gefängnis verboten. Gestochen wird | |
trotzdem. Der Vorgang braucht - wie alles im Gefängnis - Erfahrung, Zeit, | |
Kontakte und Geschick. "Im Idealfall kommt man an einen ehemaligen | |
Tätowierer oder einen guten Zeichner", sagt Grünweg. | |
Tätowiert wird dann meist am Nachmittag, wenn sich alle Häftlinge frei auf | |
den Fluren bewegen dürfen. "Gefängniswärter wollen immer alles | |
zuschließen", sagt Grünweg. "Das macht man sich einfach zunutze und lässt | |
sich gemeinsam mit dem Tätowierer von einem Mithäftling, dem man vertraut, | |
in die Zelle einschließen. Wenn ein Beamter vorbeikommt, dann ist die Zelle | |
für den abgeschlossen - und der Gefangene nicht da." | |
## Mit dem Feuerzeug desinfiziert | |
Das Problem mit der Hygiene - hierzulande einer der Gründe für | |
Tätowierungsverbot hinter Gittern - stellt für die Häftlinge kein Hindernis | |
dar. Den Pflegehelfern assistiert stets ein Häftling, der das Arztzimmer | |
sauber macht. "Der kann mal eine Flasche Sterilium verschwinden lassen oder | |
einen Latexhandschuh." Natürlich gebe es auch Leute, die mit angesetztem | |
Alkohol desinfiziert haben. "Meistens wird aber nur die Nadel mit dem | |
Feuerzeug zum Glühen gebracht, und dann ist gut." | |
"Gut" sind diese Methoden für die Deutsche Aids-Hilfe nicht - denn im | |
Gefängnis werden Blutkrankheiten wie Hepatitis C oder der HI-Virus nicht | |
nur durch Drogenkonsum und die Spritzenweitergabe, sondern auch durch | |
unsaubere Tattoo- und Piercewerkzeuge und die Farbe selbst übertragen. Laut | |
einer Studie des Robert-Koch-Instituts über Infektionskrankheiten unter | |
Gefangenen in Deutschland haben sich 30 Prozent der Befragten im Gefängnis | |
tätowieren lassen - meist unter unhygienischen Umständen. | |
Deshalb geht die Deutsche Aids-Hilfe mit professionellen Tätowierern in die | |
Gefängnisse und betreibt Aufklärung. Am unbedenklichsten ist immer noch der | |
Besuch im professionellen Studio mit sauberem Equipment und einem | |
erfahrenen Tätowierer. Aber das ist auch eine Preisfrage: Ein Tattoo ist im | |
Knast schon für ein paar Päckchen Tabak, umgerechnet gut 35 Euro, zu haben | |
- günstiger als die 80 oder 100 Euro im Studio. | |
Viele Exhäftlinge entwickelten nach ihrer Haft eine Abneigung gegen die im | |
Gefängnis oder schon vor der Inhaftierung im Rausch gestochenen Tattoos. | |
"Draußen lassen Sie sich als Allererstes die Tattoos überstechen", sagt der | |
Jurist Kai Bammann. Er hat nach seinem Jurastudium lange als Berater im | |
Strafvollzug gearbeitet. | |
## Zugehörigkeitssymbole verschwinden | |
Das typische Knastattoo, sagt Bammann, gebe es kaum noch. Motive wie die | |
Tränen unter dem Auge - steht für Mord - oder die drei Punkte (für "Glaube, | |
Liebe, Hoffnung" - oder für "Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen") | |
sind zwar nicht verschwunden, werden aber immer seltener. Damit verliert | |
auch ihre Funktion als Zugehörigkeitssymbol an Bedeutung. Zumal der | |
Prisontattoo-Style auch außerhalb der Anstalten immer beliebter werde: Die | |
Pin-up-Girls, das Spinnennetz - "das sieht man in der Punk- oder | |
Gothicszene - und weniger im Knast". | |
Das ist auch dem Fotografen Klaus Pichler aufgefallen. Für sein Buch "Fürs | |
Leben gezeichnet" hat er ehemalige Häftlinge und ihre Tätowierungen | |
abgelichtet. "Dadurch, dass die Tätowierung salonfähig geworden ist, die | |
Knasttätowierungen von den normalen Studiomotiven verdrängt werden", sagt | |
er. | |
Es sind blassbläuliche Skizzen von Tieren, krakelige Inhaftierungsdaten, | |
verschnörkelte Frauennamen. Die Bilder erzählen Geschichten gebrochener | |
Männer, erinnern an Erinnerungsunwürdiges, an Fehltritte, ans Scheißebauen | |
und daran, dass man da irgendwie wieder rauswill: schiefe Zeichnungen, | |
verwaschen, ohne Konturen. Motive, die mit Abwesendem und Sehnsüchten zu | |
tun haben. | |
Manchmal sind es Zeichen aus der Seefahrt, die Windrose, Schiffe. Sie | |
erzählen von Freiheit. Oder Superhelden, Sprüche, Schwüre, die das Selbst | |
stilisieren. "Die Haut ist das Substrat, in dem die eigene Identität | |
eingetragen werden kann", sagt Pichler, der in Wien in der Nähe eines | |
Obdachlosenheims wohnte. An der Haltestelle vor seinem Haus standen die | |
Männer und tranken. "Manche hatten komplett blaue Unterarme, zugemalt, dass | |
man die Haut nicht mehr erkennen konnte", erzählt er. "Ich fand das | |
spannend. Da stecken eine Struktur und sehr genaue Regeln hinter. Eine | |
richtige Tradition." Eine Tradition, die ausstirbt. | |
Pichlers Bildband "Fürs Leben gezeichnet" ist die Dokumentation eines | |
Phänomens, das durch den Wandel des Tattoos - weg von Außenseitertum hin | |
zum gesellschaftsfähigen Accessoire - zu verschwinden droht. Durch die | |
Verschiebung der eigentlichen Bedeutung und die Adaption durch Subkulturen | |
hat es das Tattoo raus aus den Gefängnissen, Hafenkneipen und dunklen Ecken | |
hinein in die Mitte der Gesellschaft geschafft. Sogar so weit, dass die | |
Motive in Retromanie schon als zitierfähig gelten. | |
*Name von der Red. geändert | |
1 Oct 2011 | |
## AUTOREN | |
Jan Wehn | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Stuttgart 21 | |
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