# taz.de -- Indisch-europäisches Verhältnis: Ein fragwürdiger Partner | |
> Treue zu Russland, eskalierende Gewalt gegen religiöse Minderheiten: | |
> Warum die EU Menschenrechte in den Beziehungen zu Indien ernster nehmen | |
> muss. | |
Bild: Im zunehmend hindu-nationalistisch geprägten Indien nimmt Gewalt gegen r… | |
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine steht neben den beiden | |
Hauptakteuren ein weiteres Land im Fokus der Öffentlichkeit: Indien. | |
Indiens Enthaltungen bei Resolutionen der Vereinten Nationen bezüglich | |
Russlands, zuletzt bei der Abstimmung über die Suspendierung vom | |
[1][Menschenrechtsrat], hat international eine Debatte entfacht. Nicht nur | |
wird kritisiert, dass [2][Indien] der Ukraine den Rücken gekehrt hat, es | |
wird auch die Frage gestellt, ob es weiterhin ein Partner sein kann, unter | |
anderem für die Europäische Union. | |
Indiens Haltung gegenüber Russland macht bewusst, dass Menschenrechte und | |
Demokratie in Indien auf immer dünnerem Eis stehen. Zudem stellt sie die EU | |
in ihrer Beziehung mit Indien vor die Entscheidung, ob sie das Bekenntnis | |
zum Völkerrecht weiterhin nur als eine Formalität ansieht, oder ob sie | |
dieses ernst nehmen will. | |
Unter der EU-Ratspräsidentschaft Frankreichs, eines Landes mit einer | |
langjährigen strategischen Partnerschaft mit Indien, hat die EU die | |
sicherheitspolitische und militärische Zusammenarbeit intensiviert. Das | |
Partnerschaftsdokument aus dem Jahr 2020 zwischen der EU und Indien widmet | |
der Sicherheitspolitik mehr Punkte als Menschenrechten. Die EU bekräftigt | |
auch in ihrer Strategie für die Zusammenarbeit im indopazifischen Raum von | |
2021, dass sie eine militärische Zusammenarbeit mit Indien für notwendig | |
hält. | |
Jedoch stehen diese militärischen Pläne vor einer unklaren Zukunft | |
angesichts der Tatsache, dass schätzungsweise 85 Prozent der indischen | |
Militärausrüstung aus Russland stammen und Russland und Indien vor Kurzem | |
einen weiteren Vertrag im Energie- und Militärbereich vereinbart haben. | |
Sanktionen der EU gegen Russland könnten somit unerwartete Auswirkungen | |
haben. Die US-Regierung kündigte Anfang März an, dass sie deshalb | |
Sanktionen gegen Indien in Betracht zöge; allerdings hatte sie dies bereits | |
2020 angekündigt, ohne es in die Tat umzusetzen. | |
Zugegebenermaßen gibt es klare historische, wirtschaftliche und | |
geopolitische Gründe für Indiens Entscheidung, Russland in den Vereinten | |
Nationen nicht offen zu verurteilen, und EU-Mitgliedsstaaten importieren | |
auch weiterhin russisches Öl und Gas. | |
Russland allein mag daher nicht ausreichen, um den Staat als Partner für | |
die EU infrage zu stellen. Allerdings hat Indien in den letzten Jahren | |
wiederholt in Weisen gehandelt, die den Einsatz für Menschenrechte und | |
Demokratie klar anfechten: 2020 stufte die Nichtregierungsorganisation | |
Freedom House Indien wegen akuter Verschlechterung der Grundfreiheiten als | |
„Land im Rampenlicht“ ein, und das unabhängige V-Dem-Institut stufte Indien | |
2021 von einer Demokratie zu einer „Wahlautokratie“ herab. Darüber hinaus | |
bewertete das Early Warning Project des United States Holocaust Memorial | |
Museum Indien aufgrund der eskalierenden, staatlich sanktionierten Gewalt | |
gegen [3][religiöse Minderheiten] als aktuell zweitgefährdetstes Land für | |
einen Völkermord, nach Pakistan. | |
In einem parlamentarischen Briefing, das kürzlich vom niederländischen | |
Thinktank The London Story organisiert wurde, stellten Jakop Dalunde und | |
Margrete Auken, beide Abgeordnete der Grünen/Freie Europäische Allianz, | |
Indiens Haltung gegenüber Russland klar infrage. Dalunde betonte darin, | |
dass Indien an einem Wendepunkt stehe, und dass der Krieg in der Ukraine | |
nun endgültig eine Frist setze: Indien muss sich entscheiden, ob es in | |
Richtung Autoritarismus gehen wolle oder in Richtung Demokratie. | |
Genau das muss sich auch die EU fragen, denn außer bei ein paar wenigen | |
Europaabgeordneten mit Fokus auf Menschenrechten scheint die Realität, dass | |
Indien massiv Menschenrechte missachtet, nicht angekommen zu sein. Der | |
Ausschuss für internationalen Handel (INTA) des Parlaments zitiert gar die | |
Floskel, dass die Partnerschaft mit Neu-Delhi „ungenutztes Potenzial“ habe. | |
In offiziellen Dokumenten heißt es zwar, dass die militärische und | |
wirtschaftliche Partnerschaft der EU mit Indien fest in einer gemeinsamen | |
Verpflichtung zur Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und | |
Menschenrechten verwurzelt sei, aber dies scheint nicht mehr als eine | |
diplomatische Formalität zu sein. | |
Die Europaabgeordneten, die die Bedeutung der Menschenrechte in den | |
EU-Beziehungen mit Indien stärken wollen, lassen sich an einer Hand | |
abzählen. 21 Mitglieder des Europäischen Parlaments unterzeichneten | |
kürzlich einen Brief an Premierminister Narendra Modi, in dem sie die | |
Menschenrechtsverletzungen seiner hindu-nationalistischen Regierung | |
verurteilten. Außerdem unterstützte im Mai 2021 die Europaabgeordnete | |
Alviina Alametsä den „EU-India People’s Summit“, der parallel zu einem | |
diplomatischen, der Öffentlichkeit nicht zugängigen Gipfeltreffen zwischen | |
den Staats- und Regierungschefs der EU und Indiens stattfand und eine | |
zentralere Rolle für Menschenrechte in den Beziehungen zwischen der EU und | |
Indien forderte. | |
Es scheint wie Heuchelei, dass die EU erst jetzt, wegen eines Krieges, der | |
sich nicht ignorieren lässt, Indiens Einsatz für Menschenrechte und die | |
Einhaltung von Völkerrecht infrage stellt. Dennoch bietet dies eine | |
einzigartige Gelegenheit, zuvor geäußerte und weitestgehend ignorierte | |
Bedenken bezüglich der Lage in Indien zu thematisieren. Es ist an der Zeit, | |
dass die EU den nächsten Schritt wagt und das Bekenntnis zum Völkerrecht | |
nicht nur als Formalität in bi- und multilateralen Erklärungen ansieht. | |
Dies ist wichtiger denn je angesichts der Tatsache, dass sogar der | |
ehemalige UN-Sonderberater für die Verhütung von Völkermord, Adama Dieng, | |
zur Ergreifung unverzüglicher Maßnahmen bezüglich der sich verschlimmernden | |
Lage in Indien aufgefordert hat. Eins ist klar: Beim nächsten Treffen der | |
Staats- und Regierungschefs der EU und Indiens müssen die Menschenrechte | |
prominent auf den Tisch gelegt werden. | |
26 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Alena Kahle | |
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