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# taz.de -- Historiker über Jugend im Warschauer Ghetto: „Inseln der Solidar…
> Im April 1943 begehrte die jüdische Jugend im Warschauer Ghetto gegen die
> Vernichtung auf. Der Historiker Tom Navon erforscht diese
> Jugendbewegungen.
Bild: Dicht gedrängte Juden im Warschauer Ghetto, 1942
taz: Herr Navon, bevor die Deutschen im November 1940 das Ghetto
errichteten, war Warschau das größte Zentrum des jüdischen sozialen,
kulturellen, politischen und religiösen Lebens in Europa. Vor dem deutschen
Überfall auf Polen 1939 lebten hier über 370.000 Jüd:innen. Was machte
diese jüdische Gemeinschaft aus?
Tom Navon: Die jüdische Gesellschaft in Osteuropa machte in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts einen dramatischen Wandel durch, von einer
traditionellen Gesellschaft zu einer sehr vielfältigen Gesellschaft. Es gab
auf der einen Seite die Ultraorthodoxen, die versuchten, die alten
Traditionen zu bewahren, und auf der anderen Seite Jüd:innen, die ihre
jüdische Zugehörigkeit ablehnten und zum Christentum konvertierten.
Es gab Zionist:innen, die nach Palästina auswandern und dort einen
jüdischen Staat gründen wollten. Andere, wie zum Beispiel der Jüdische
Arbeiterbund, traten stattdessen für die jüdische Autonomie in Osteuropa
ein. Und auch unter den Zionist:innen gab es verschiedene Strömungen:
sozialistische, nichtsozialistische, religiöse, nichtreligiöse und so
weiter. Besonders die jüdische Jugend war sehr aktiv und gut organisiert.
Angesichts des Antisemitismus und der Wirtschaftskrise schien die Zukunft
dieser Jugend ungewiss.
Die Jugendlichen versuchten sich also zu organisieren, um ihren eigenen Weg
in die Zukunft zu finden. Es gibt kein anderes Beispiel für eine
Gesellschaft, die in so kurzer Zeit so viele Jugendbewegungen
hervorgebracht hat wie die jüdische Gesellschaft in Osteuropa. Die
Jugendbewegungen waren nicht nur Jugendorganisationen von Parteien, sondern
auch eigenständige und unabhängige Bewegungen, die an die Macht und die
Autonomie der Jugend glaubten, und daran, ihre eigene Gegenwart und Zukunft
aufzubauen.
Wie formierte sich dann aus einer so diversen und konfliktreichen
politischen Landschaft eine gemeinsame Kampforganisation im Warschauer
Ghetto?
Es war schwierig, eine gemeinsame Basis für politische Arbeit zu finden.
Konflikte gab es zum Beispiel um die Frage, ob sich die Zusammenarbeit auf
die jüdische Gesellschaft beschränken sollte oder ob, wie der Jüdische
Arbeiterbund forderte, mit den polnischen Sozialist:innen
zusammengearbeitet werden sollte. Es war außerdem schwierig, eine Brücke
zwischen den Generationen im Ghetto zu schlagen.
Während die Jugend eher zum Widerstand neigte, versuchten die älteren
Aktivist:innen in den politischen Parteien die Jugend zu beruhigen,
weil sie Angst vor der deutschen Reaktion auf jeden Akt des Widerstands
hatten. Diese Auseinandersetzungen ermöglichten kaum Kooperationen. Vor
dem Hintergrund der großen Deportation im Sommer 1942, als viele Menschen
begriffen, dass ihnen ein bedeutender Massenmord bevorstand, verloren die
vorherigen politischen Differenzen an Bedeutung. In einem allmählichen
Prozess zwischen Sommer und Herbst 1942 gelang es den verschiedenen
Gruppen, eine gemeinsame Basis zu finden und die [1][Jüdische
Kampforganisation] zu gründen, die ein sehr breites Spektrum von
zionistischen, sozialistischen und kommunistischen Jugendbewegungen und
politischen Parteien umfasste.
Die einzige bedeutende politische Gruppe im Untergrund, die sich nicht
beteiligte, war die zionistische extreme Rechte, die sogenannten
Revisionist:innen. Sie waren stark nationalistisch und antisozialistisch
eingestellt und gründeten eine eigene Kampforganisation, den Jüdischen
Militärverband.
In einer so [2][repressiven Umgebung wie dem Warschauer Ghetto] scheint es
unmöglich zu sein, Widerstand zu leisten. Was war das Geheimnis der Stärke
der Jugendbewegung angesichts der alltäglichen Angst, Gewalt und Ohnmacht
im Ghetto?
In ihren Memoiren betont die Kämpferin Zivia Lubetkin, dass der bewaffnete
Aufstand nicht von einem Tag auf den anderen entstand. Schon vor der
deutschen Besatzung revoltierte die jüdische Jugendbewegung gegen die
kapitalistische Gesellschaft und gegen die Situation der Jüd:innen in der
Diaspora, die ohne eigene politische Autonomie und ohne politische Rechte
lebten. Sie lernten gemeinsam der bestehenden Realität kritisch
gegenüberzustehen und aktiv an der Schaffung einer anderen Realität
mitzuwirken.
Der erste wichtige Aspekt, der die Stärke der Bewegung ausmachte, ist also
die Erziehung zu neuen Werten einer Jugend, die ihr Leben selbst in die
Hand nimmt und sich nicht der bestehenden Unterdrückung unterwirft. Der
zweite Aspekt ist das Kollektiv. Die Jugendlichen handelten gemeinsam in
Solidarität und gegenseitiger Hilfe. Sie waren sozial aktiv, indem sie für
die Bildung der Kinder und die Versorgung der Hungernden im Ghetto sorgten.
Die Gesellschaft im Ghetto war geprägt von sozialer Atomisierung und
Spaltung. Viele Menschen konkurrierten um sehr wenige Ressourcen, jeder
kümmerte sich um seine eigenen Interessen, häufig auf Kosten anderer. Die
Jugendbewegung schuf Inseln der Solidarität in diesem Ozean der
Entfremdung.
Spätestens als der Jugendbewegung 1942 klar wurde, dass der gesamten
jüdischen Gemeinschaft die Vernichtung bevorstand, versuchte sie die
Bevölkerung im Ghetto darüber aufzuklären und für den Widerstand zu
mobilisieren – mit wenig Erfolg. Bei Deportationen im Januar 1943 schossen
Kämpfer:innen dann zum ersten Mal auf deutsche Soldaten. Wie veränderte
sich die Stimmung im Ghetto?
Es war das erste Mal seit Beginn der deutschen Besatzung und nachdem die
Deutschen bereits 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung Warschaus nach
Treblinka in die Gaskammern deportiert hatten, [3][dass sich Jüd:innen
wehrten]. Das war eine große Überraschung für die Deutschen, die damit
nicht gerechnet hatten.
Die Kämpfer:innen wurden von dem deutschen Rückzug aus dem Ghetto
überrascht, denn sie wussten nicht, dass die Aktion der Deutschen nicht als
totale Deportation geplant war. So hatten sie den Eindruck, dass die Aktion
aufgrund ihres Widerstandes gestoppt wurde, und auch die Bevölkerung des
Ghettos nahm das so wahr. Es war also das erste Mal, dass die gesamte
Bevölkerung des Ghettos die sehr jungen Kämpfer:innen als ihre neue
Führung ansah.
In diesen drei Monaten von Januar bis zum Aufstand im April 1943 grub die
Bevölkerung des Ghettos Bunker unter den Häusern und bereitete
Lebensmittel, Licht, Wasser und Belüftung in den Bunkern vor, um lange
unter der Erde bleiben zu können. Der Aufstand hatte also eine sehr starke
Wirkung, weil der aktive Widerstand der Kämpfer:innen, die nur einige
Hundert waren, mit dem passiven Widerstand von 50.000 Jüd:innen
einherging, die sich fast ausnahmslos dem Befehl widersetzten, zu den Zügen
zu kommen, die sie in die Todes- und Arbeitslager bringen sollten.
Viele wichtige Persönlichkeiten der Jugendbewegungen waren Frauen, wie zum
Beispiel Zivia Lubetkin und Tosia Altman. Welche Rolle spielten diese
Frauen im Widerstand des Warschauer Ghettos?
Frauen waren in der politischen Führung, in der Bildungsarbeit, der
illegalen Presse, im Kampf und teilweise, wenn auch in geringerem Maße, in
der Führung der Kampforganisation tätig. Das war zu dieser Zeit sehr
außergewöhnlich und lässt sich durch mehrere Faktoren erklären. Einer davon
ist, dass die meisten dieser Bewegungen egalitäre, sozialistische
Bewegungen waren, die an die Gleichstellung der Geschlechter glaubten.
Ein weiterer Faktor war, dass sich die Jugendorganisationen zu Beginn der
deutschen Besatzung auf die Situation vorbereiteten, dass die meisten
Männer in die polnische Armee eingezogen werden würden, und deshalb bereits
eine alternative Führung vorbereiteten, die sich nur aus Frauen
zusammensetzte. Die aktive Teilnahme von Frauen an den Kämpfen war eine
große Überraschung für die deutschen Soldaten, und das könnte einen
psychologischen Effekt gehabt haben, der zu dem recht beeindruckenden
militärischen Erfolg der Kämpfer:innen beigetragen hat, die mehrere Tage
lang gegen die viel besser ausgerüsteten, ausgebildeten und professionellen
deutschen Kräfte durchhalten konnten.
Sie selbst sind Teil der israelischen Jugendbewegung HaMahanot HaOlim, die
eine historische Verbindung zu den Bewegungen im Warschauer Ghetto hat. Wie
beschäftigt sich die israelische Jugendbewegung heute mit dem Aufstand und
welche Rolle spielen diese Bewegungen in Israel?
Die historischen Jugendbewegungen in Osteuropa spielten eine wichtige Rolle
bei der Gründung der jüdischen Gesellschaft in Palästina und später des
Staates Israel, und das führte zu einer großen Macht der
Arbeiter:innenbewegung in den ersten drei Jahrzehnten des Staates
Israel. Weil die Jugendbewegungen in Europa Vorbilder der städtischen
Kibbuzim im heutigen Israel sind, lernen wir in unserer Bewegung etwas über
die Geschichte der Jugendbewegungen und speziell über den Aufstand im
Warschauer Ghetto. Wir reisen mit unseren Jugendlichen nach Polen, um die
Orte des Widerstandes zu sehen. Die Geschichte des Aufstandes im Warschauer
Ghetto ist eine Botschaft an junge Menschen, nicht nur Jüd:innen, sich für
Solidarität zwischen allen Menschen einzusetzen. Wir sollten uns bemühen,
auf jede Verletzung der Gerechtigkeit und der Menschenwürde zu reagieren.
27 Apr 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Josefine Rein
Rosa Budde
## TAGS
Holocaust
europäische Juden
Warschauer Ghetto
Jugendwiderstand
Shoa
Warschauer Ghetto
Polen
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