| # taz.de -- Helmut Kohl über Werte: „Linke wird es immer geben“ | |
| > Aus aktuellem Anlass veröffentlicht taz.de ein Interview mit Helmut Kohl | |
| > aus dem Jahr 2003. Ein Gespräch über Rache, historische Irrtümer und | |
| > nette Kommunisten. | |
| Bild: „Ich will versuchen, die Zeit, so wie ich sie erlebt habe, zu beschreib… | |
| taz: Herr Dr. Kohl, haben Sie heute schon die taz gelesen? | |
| Helmut Kohl: Nein. | |
| Warum nicht? | |
| Ich habe sie nie gelesen. Warum sollte ich das heute tun? Nach dem Mord am | |
| Treuhand-Chef Detlev Rohwedder titelte die taz auf Seite 1 über dem | |
| Beisetzungs-Foto: „Detlev, der Kampf geht weiter“, eine Anspielung auf die | |
| Beerdigung des RAF-Terroristen Holger Meins, bei der Sympathisanten | |
| skandierten: „Holger, der Kampf geht weiter.“ | |
| Ist das nur geschmacklos oder moralische Zerstörungswut? | |
| Beides! Es ist geschmacklos und unter moralischen Gesichtspunkten nahezu | |
| unerträglich. Hier zeigt sich ein Maß an Hass, das mir völlig | |
| unverständlich ist. Das ist keine Frage von Journalismus, sondern eine | |
| Frage der Menschlichkeit. Für so etwas kann man im besten Fall nur | |
| Verachtung haben! | |
| Es ist kein Geheimnis, dass Sie auch Stern, Spiegel und Zeit nicht lesen. | |
| Woher rührt die Abneigung? | |
| Ich will da nicht pauschal urteilen, schließlich hat alles seine | |
| Vorgeschichte. Ich bin schon sehr lange in der Politik. In meiner | |
| „Frühzeit“ als jüngster Fraktionschef der rheinland-pfälzischen | |
| CDU-Landtagsfraktion gab es bei Spiegel und Stern durchaus noch Wohlwollen. | |
| Aber als ich Parteichef wurde, veränderte sich das schlagartig. Für den | |
| Spiegel waren meine Auseinandersetzungen mit Franz Josef Strauß natürlich | |
| ein „gefundenes Fressen“. Dabei hatte ich mit dem Herausgeber Rudolf | |
| Augstein ursprünglich ein vernünftiges Verhältnis, das sich dann aber | |
| völlig zerschlug. Augstein hat später immer wieder vergeblich versucht, | |
| meine Ehefrau Hannelore zu einem Interview, mit einem Bild meiner Frau, zu | |
| bewegen. Dafür sollte sie Anzeigenseiten für die Hannelore-Kohl-Stiftung | |
| und ZNS erhalten. Damit sollte eine unterschiedliche Haltung der Kohls zum | |
| Spiegel deutlich gemacht werden. 1976 habe ich das letzte Spiegel-Interview | |
| gegeben. Denn es war immer das Gleiche beim Spiegel: Der Text der | |
| Interviews war in Ordnung, aber drum herum haben sie eine herabsetzende | |
| Geschichte gebaut. | |
| Ein anderes Beispiel: In der Titelgeschichte über Bad Kleinen hat der | |
| Spiegel den Staat als Einrichtung äußerster Repression dargestellt. Später | |
| hat der Redakteur Hans Leyendecker zugeben müssen, dass seine Behauptungen | |
| und Recherchen falsch waren. Es war einer jener Versuche, die | |
| Bundesrepublik - und mit ihr die Bundesregierung und mich als Bundeskanzler | |
| – als Staat darzustellen, der sich auf dem Weg zum Polizeistaat befindet. | |
| Herr Leyendecker ist dann zur Süddeutschen Zeitung gewechselt. Er musste | |
| seine Linksorientierung nicht ändern. Jetzt tummelt er sich dort mit | |
| anderen, die ihre Abneigung gegen mich pflegen. | |
| Für das Ignorieren des Spiegel habe ich natürlich gebüßt. Ich glaube, es | |
| gibt niemanden, der so oft auf dem Titelblatt mit entsprechender Tendenz | |
| gezeigt wurde wie ich. Die Art und Weise, wie der Spiegel über den Tod | |
| meiner Frau berichtete, hat alle meine negativen Erfahrungen bestätigt. | |
| Damit sind wir beim Stern. Die dortige Berichterstattung aus Anlass des | |
| Todes meiner Frau war so gemein, dass sich die Machthaber im Hause | |
| Bertelsmann distanzierten und der Presserat den Bericht rügte. Zu diesem | |
| Blatt fällt mir gar nichts ein. Ich habe bis heute nicht begriffen, warum | |
| man eigentlich den Stern lesen muss. Nur ein einziges Mal habe ich das | |
| getan, als der Stern behauptete, die Hitlertagebücher gefunden zu haben. | |
| Damals gab es mit meinen Mitarbeitern eine Auseinandersetzung im | |
| Kanzleramt, weil ich sagte, ich brauche keine Schriftproben. Selbst wer nur | |
| in Maßen die Lebensumstände von Adolf Hitler kenne, wisse sofort: Das muss | |
| gefälscht sein. Aber dass der Stern darauf reinfiel, zeigt eben die | |
| Auflagengier, die dieses Blatt beherrscht. | |
| Bei der Zeit hat mich immer nur verwundert, mit welchem intellektuellen und | |
| journalistischen Anspruch sie auftritt. Meine Erfahrungen mit dieser | |
| Zeitung sind ziemlich übel. Nur ein Beispiel: Vor einer Bundestagswahl ist | |
| einmal ein Autor der Zeit zu mir gekommen und wir haben einen vergnügten | |
| Abend gehabt, sind Bücher durchgegangen, haben Platten gehört, uns glänzend | |
| unterhalten - immer bei laufendem Tonband, denn natürlich sollte ich den | |
| Artikel vor Erscheinen noch mal lesen, doch sah ich den Beitrag erst, als | |
| er gedruckt war. Darin wurde dann ganz die alte Masche gefahren: der tumbe | |
| Tor aus Oggersheim, ungebildet, kaum der deutschen Sprache mächtig. | |
| Herr Dr. Kohl, was ist eigentlich „links“? | |
| Das ist gar nicht so einfach zu definieren. Für viele Linke ist das eine | |
| Frage des Lebensgefühls. Ich selbst verstehe mich als Wertkonservativer. | |
| Wertkonservativ heißt für mich, offen für Neues, für die Zukunft zu sein, | |
| ohne das Erbe zu vergessen und zu verbrennen. Ich möchte deutlich machen: | |
| Es gibt viel Wichtiges, das ich meinen Kindern und Enkeln erhalten will. | |
| Ich nenne ein Beispiel: Ich mag das Wort Umwelt nicht. Erhalt der Schöpfung | |
| im biblischen Sinn ist viel richtiger. Wir haben nicht das Recht, das Erbe, | |
| die Ressourcen, die uns geschenkt wurden, in unserer Generation | |
| kaputtzumachen. Aber ich schustere mir daraus auch keine Ideologie, wie es | |
| viele Linke tun. Ich war immer überzeugter Anhänger der sozialen | |
| Marktwirtschaft. Die reine kapitalistische Marktwirtschaft lehne ich ab. | |
| Deshalb habe ich häufig auch wenig Sympathie aus Teilen der Großindustrie | |
| erfahren. Ich bin Katholik, geprägt von der katholischen Soziallehre. Das | |
| heißt für mich: Hilfe für den Nächsten. Hilfe für Menschen, die der Hilfe | |
| bedürfen. | |
| Nächstes Jahr erscheinen Ihre Memoiren. Wie viele Seiten widmen Sie der | |
| Abrechnung mit den Linken? | |
| Ich werde kein Buch der Rache schreiben. Ich will versuchen, die Zeit, so | |
| wie ich sie erlebt habe, zu beschreiben. Geschichte am Beispiel meines | |
| Lebens. Dabei habe ich natürlich auch Personen erlebt, die im | |
| sozialistischen Sinne Linke sind, deren Vorstellung von unserer Republik | |
| ich aber nie teilen konnte. | |
| Reden wir über das Gründungsjahr der taz 1978. Damals waren Sie | |
| CDU/CSU-Fraktionschef, in Bonn regierte Helmut Schmidt. Wie war es damals | |
| um das geistig-moralische Fundament Deutschlands bestellt? | |
| Helmut Schmidt war ja ein treuer Sozialdemokrat. Er war ganz gewiss kein | |
| Linker im sozialistischen Sinn. Viele Linke mochten ihn nicht. Er hatte in | |
| manchen Bereichen wertkonservative Vorstellungen, die von meinen nicht weit | |
| entfernt waren. Aber die damalige Zeit war eine der gefährlichsten, in der | |
| sich die Bundesrepublik Deutschland je befunden hat. Es war die Zeit des | |
| Nato-Doppelbeschlusses, die Zeit der Auseinandersetzung mit dem | |
| Machtanspruch einer übermächtigen Sowjetunion. Schmidt hatte dies richtig | |
| erkannt. Und ich habe nach 1982 diese Politik fortgeführt und die | |
| Raketen-Nachrüstung durchgesetzt. Das Gefährliche dieser Zeit war die | |
| Begriffsverwirrung: Es wurde von der Linken so getan, als sei Freiheit | |
| unvereinbar mit der Verantwortung für die Welt. Und dass man daher die | |
| Bundesrepublik im Ernstfall nicht verteidigen dürfe. Viele leugneten, dass | |
| Frieden und Freiheit untrennbar miteinander verbunden sind. Und dass | |
| Frieden ohne Freiheit nicht möglich ist. Sicher gab es unter den | |
| Nachrüstungsgegnern viele, die gar keine Linken waren. Viele hatten | |
| verständlicherweise Angst vor einem dritten Weltkrieg. Doch es gab auch | |
| tausende Agenten, die unterwegs waren, um das geistig-moralische Fundament | |
| der Bundesrepublik auszuhöhlen. Wir wissen doch heute, dass Mielkes Agenten | |
| viel Geld und Arbeit in die damalige Friedensbewegung investierten. | |
| Mielkes Agenten - war die Linke eigentlich besonders anfällig für | |
| Landesverrat? | |
| Es gab damals eine Reihe von Leuten, die mit den Organen der DDR | |
| zusammenarbeiteten. Es gab die gekauften Subjekte und es gab diejenigen, | |
| die sich einfach rechtzeitig auf die sichere Seite schlagen wollten. Aber | |
| die wichtigste Gruppe bildeten die, die wirklich eine andere Republik | |
| wollten. Sozialistisch, aber mit verbesserten Lebensbedingungen. Sie | |
| wollten das nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Zentraleuropa: Nicht | |
| wenige hofften auf drei linke deutschsprachige Republiken in Europa unter | |
| dem Schutzschirm der Sowjetunion: die Bundesrepublik Deutschland, die DDR | |
| und Österreich. | |
| Was war der größte historische Irrtum der Linken? | |
| Das Menschenbild, das sich nach einer Ideologie ausrichtet. Aber das hat in | |
| der Geschichte noch nie funktioniert. Und es war sicher auch ein Irrtum, zu | |
| glauben, die waffenstarrende Sowjetunion mit ihren riesigen | |
| Panzerdivisionen sei auf dem Vormarsch zur Weltherrschaft. Der | |
| entscheidende Fehler der Linken war, dass sie kein Zutrauen mehr zur Idee | |
| der Freiheit hatte. Sie haben nicht mehr daran geglaubt, dass die Idee der | |
| Freiheit so stark ist, dass sie die Teilung unseres Vaterlandes überwinden | |
| kann, selbst wenn eine Generation dieses Ziel nicht erreichte. | |
| Das SED-Regime brach zusammen, die taz titelte: „Die Mauer tritt zurück - | |
| wann geht Kohl?“ und orakelte empört über Ihre „Unfähigkeit, auf die | |
| geschichtlichen Veränderungen in beiden Staaten zu reagieren“. Was denken | |
| Sie, wenn Sie heute solche Zeilen lesen? | |
| Ach wissen Sie, das amüsiert mich. Das wird auch ein Thema meiner Memoiren | |
| sein. Ich bin immer unterschätzt worden. Es gab ganz wenige, darunter | |
| einige Sozialdemokraten wie Herbert Wehner, die das anders sahen. Die SPD | |
| hat 1976 überlegt, was man diesem Helmut Kohl am besten entgegensetzt. Da | |
| war auf der einen Seite Helmut Schmidt, der Mann mit dem Weitblick, die | |
| weltweit renommierte Persönlichkeit von eindrucksvollem Gepräge. Und | |
| dagegen der Pfälzer Helmut Kohl, mit Dialekt. Und ich gebe auch zu, ich bin | |
| keine elegante Erscheinung, mein Auftreten entspricht nicht dem, was man in | |
| der Mediengesellschaft so schätzt. Ich war „der Mann aus Oggersheim“. Dabei | |
| stamme ich gar nicht aus dem Stadtteil Oggersheim, sondern aus der Stadt | |
| Ludwigshafen. Aber Ludwigshafen ist Hochburg der deutschen Chemie, eine | |
| moderne Stadt. Oggersheim hingegen klang dörflich und vertrottelt. So wurde | |
| ich in der Propaganda der Linken der Mann aus Oggersheim. Am Ende haben sie | |
| ihre eigenen Wahlkampfslogans geglaubt. Letztlich zeigt vieles, was die da | |
| zusammengeschrieben haben, nur, in welchem Umfang sie beschränkt waren - | |
| und vermutlich immer noch beschränkt sind. | |
| Hätte es unter einer linken Bundesregierung die Wiedervereinigung | |
| eigentlich je gegeben? | |
| Die Wiedervereinigung im Sinne unseres Grundgesetzes sicher nicht! Es wäre | |
| eine Wiedervereinigung mit einer jeweils anderen Republik geworden. Das | |
| kann man am besten im gemeinsamen Papier von SPD und SED 1987 nachlesen. | |
| Außenminister Fischer hat in Bild seine damalige Ablehnung der deutschen | |
| Einheit mit der Furcht vor „alten Großmachtfantasien“ begründet und diese | |
| Haltung als seinen größten Fehler bezeichnet. Nehmen Sie als Kanzler der | |
| Einheit diese Entschuldigung an? | |
| Mich hat er ja nicht beleidigt, höchstens das deutsche Volk. Dass er sich | |
| entschuldigt, ist ja aller Ehren wert - aber die Begründung verwundert mich | |
| doch! Es gab 1989/90 nicht den geringsten politischen Willen, die alten | |
| deutschen Großmachtträume wiederzubeleben. Ein Satz wie jüngst von Gerhard | |
| Schröder „Über die wichtigsten Fragen der Nation wird in Berlin entschieden | |
| und nirgendwo anders“ wäre mir, aber auch Helmut Schmidt oder Willy Brandt | |
| nie in den Sinn gekommen. Dieser Satz zeigt eine Überheblichkeit, wie sie | |
| für Gerhard Schröder typisch ist. Dabei hat gerade die erfolgreiche | |
| deutsche Politik, die unsere Verbündeten immer berücksichtigte, dazu | |
| geführt, dass wir heute hier in Berlin sitzen. Dass ich im ehemaligen | |
| Ministerium von Margot Honecker meinen Schreibtisch habe und aus dem | |
| Fenster den Reichstag sehen kann, in dem das deutsche Parlament wieder | |
| tagt. Das war alles das Ergebnis von deutscher Politik mit Hilfe vieler | |
| anderer Nationen. Nicht einmal die kleinsten Länder in Europa hatten damals | |
| ernsthaft Sorge, dass wir wieder größenwahnsinnig werden. Es war klug, dass | |
| wir diesen Eindruck damals vermieden haben - nicht zuletzt wegen der | |
| bitteren Erfahrungen der Nachbarn mit unserer Geschichte. | |
| Was bedeutete der Fall der Mauer und der Zusammenbruch des Ostblocks für | |
| das Selbstverständnis der Linken? | |
| Das war für viele überzeugte Linke eine Katastrophe. Wenn Sie jahraus, | |
| jahrein mit geradezu religiöser Inbrunst einer Ideologie anhängen, die sich | |
| dann vor aller Welt als großer Schwindel und Lebenslüge entpuppt, dann ist | |
| das schon ziemlich bitter … | |
| Ein kleines Geburtstagsgeschenk für unsere Leser: Wer war der netteste | |
| Kommunist, den Sie kennen gelernt haben? | |
| Das ist leicht zu beantworten: Mein Mathematiklehrer Dr. Otto Stampfert, | |
| der mich als 16-jähriger Gymnasiast in Ludwigshafen unterrichtete, auch in | |
| Philosophie. Er war Jude, musste 1933 in Hamburg vor den Nazis fliehen und | |
| ist nach dem Krieg aus irgendeinem Grunde in Ludwigshafen gelandet. Er war | |
| Kommunist, und hat für seine Überzeugung in der Nazizeit bitter büßen | |
| müssen. Er war sehr aktiv in der kommunistischen Partei, wie auch seine | |
| Frau, die erste Vorsitzende der FDJ in der Region. Wir haben uns | |
| angefreundet - das ist das richtige Wort. Er hat mir „Das Kapital“ von Karl | |
| Marx vermittelt, die Ausgabe steht noch heute in meinem Bücherschrank. | |
| Dieser großartige Lehrer ist später nach Thüringen gegangen und wurde dort | |
| Staatssekretär im Kultusministerium. Bei Säuberungen wurde er als | |
| „Westimmigrant“ abgesetzt und wurde Professor in Jena, wo er auch starb. | |
| Leider habe ich sein Grab nie gefunden. | |
| Warum sind Sie dann kein Linker geworden? | |
| Meine politische Entwicklung hat sehr viel mit meinem Elternhaus zu tun. Es | |
| war christlich-katholisch, liberal und patriotisch geprägt. Das | |
| Patriotische war für uns selbstverständlich, weil wir in einer Gegend | |
| Deutschlands lebten, die in 200 Jahren Geschichte ständig von einer | |
| Annektion durch Frankreich bedroht war. Für mich war es ganz klar, dass ich | |
| zur CDU gehe. In der Ludwigshafener SPD schienen mir dagegen alle ziemlich | |
| ideologisch festgelegt zu sein. | |
| Aber in der CDU waren Sie damals ja selbst ein Linker, der gegen „falsche | |
| Autoritäten“ zu Felde zog. In einem der seltenen Spiegel-Interviews haben | |
| Sie Ende der 60er-Jahre gegen die „Bratenrock-Mentalität der Adenauer-CDU“ | |
| gewettert … | |
| Das ist schon richtig. Aber man darf nicht jeden, der aufmüpfig ist, | |
| automatisch als Linken bezeichnen. | |
| Wie kommt es, dass der spätere Staatsmann Kohl besonders mit linken | |
| Amtskollegen im Ausland so gut konnte? | |
| Ich habe mich nie an diesen Fixierungen orientiert - schon weil links und | |
| rechts in jedem Land anders interpretiert werden. Im Wortsinn ein Linker | |
| ist sicherlich mein Freund Felipe Gonzales, der ehemalige spanische | |
| Ministerpräsident. Dieser weltoffene Mann, den Willy Brandt als seinen | |
| wahren Enkel in der Sozialistischen Internationale betrachtete, rief mich | |
| am Tag der deutschen Einheit früh morgens um 5 Uhr an und sagte: „Helmut, | |
| ich versuche schon seit Stunden, dich zu erreichen. Ich habe gerade eine | |
| Flasche deines Lieblingsweins hier und trinke sie auf Deutschlands Einheit | |
| und dein Wohl!“ Bei François Mitterrand hingegen habe ich mich oft gefragt, | |
| ob er wirklich ein Linker ist. Viele waren Sozialdemokraten, aber keine | |
| Sozialisten - jedenfalls nicht in dem Sinne wie die, die auf deutschen | |
| Straßen herumschrien. Ich habe immer auf den Menschen gesehen, das war für | |
| mich entscheidend, nicht links oder rechts. | |
| Es gibt das Gerücht, Sie hätten sogar einen Lieblings-Grünen … | |
| Es wird viel dummes Zeug über mich geschrieben, dieses Gerücht gehört auch | |
| dazu. Ich habe weder eine Lieblings-Grüne noch einen Lieblings-Grünen. | |
| Joschka Fischer ist es definitiv nicht. Bei ihm habe ich mich damals nur | |
| gewundert, wie viele Leute sich sein ungezogenes Wesen und flegelhaftes | |
| Benehmen im Bundestag gefallen ließen und heute erstaunt sind, wie er jetzt | |
| so staatsmännisch auftreten kann. So viel Mutation hätte man ihm gar nicht | |
| zugetraut. | |
| Haben Sie den Eindruck, dass sich nach fünf Jahren Rot-Grün die politische | |
| Achse in Deutschland nach links verschoben hat? | |
| Ja. Ich bin mir sicher, dass Rot-Grün an Teilen des Fundamentes unserer | |
| Gesellschaft bewusst Veränderungen vorgenommen hat und Veränderungen | |
| vornimmt. Ich nenne als Beispiel den Stellenwert der Familie in unserer | |
| Gesellschaft. Ich habe überhaupt nichts gegen homosexuelle Menschen. Als | |
| Ministerpräsident habe ich für die Abschaffung des Paragrafen 175 gestimmt, | |
| wofür ich in meiner Partei stark angefeindet wurde. Ich habe auch nichts | |
| gegen juristische Gleichbehandlung homosexueller Paare, etwa in | |
| Vermögensfragen oder im Mietrecht. Aber ich bin strikt gegen die völlige | |
| Gleichstellung etwa mit Ehepaaren, wie sie jetzt von Rot-Grün betrieben | |
| wird. | |
| Hätten Sie sich vorstellen können, dass ausgerechnet ein grüner | |
| Außenminister Deutschland in den ersten Kriegseinsatz außerhalb des | |
| Nato-Gebiets führen würde? | |
| Nein, bestimmt nicht. Ich habe noch 1990 erlebt, wie seine grünen | |
| Gefolgsleute einen echten Sarg vor mein Haus in Ludwigshafen schleppten und | |
| Transparente hochhielten, mit der Aufschrift: „Kohl schickt unsere Söhne | |
| für die Ölscheichs in den Wüstentod!“ Heute muss man sich schon fragen, wo | |
| schicken wir denn noch überall Soldaten hin? Und wann kommt der nächste | |
| Häutungs- und Wandlungsprozess von Joschka Fischer? | |
| Gibt es in Deutschland noch echte linke Politiker? | |
| Natürlich, Oskar Lafontaine. | |
| Der ja keine aktive Rolle in der Politik mehr spielt … | |
| Das ist eine offene Frage, das wird er bestreiten! | |
| Welche Zukunft sehen Sie für die politische Linke in Deutschland und | |
| Europa? | |
| Die Linke wird es immer geben, weil ihre Ideologie eine gewisse | |
| Anziehungskraft hat. Auch heute wiederholt sich die geschichtliche | |
| Tatsache, dass Revolutionen nicht von den unterprivilegierten Klassen | |
| gemacht werden. Nach meiner Beobachtung kommen in unserer Zeit die | |
| ideologisch geprägten Zeitgenossen aus gehobenen Elternhäusern. Sie haben | |
| mit 20 Jahren schon ihre Wohnung und der Papa zahlt für das Auto und vieles | |
| mehr. In diesen Kreisen ist es auch „in“, links zu sein. Aber das war nie | |
| meine Sache. Ich habe mir mein Studium über drei Jahre während der | |
| Semesterferien als Schichtarbeiter bei der BASF verdient, unter | |
| kommunistischen Arbeitern und Steinhauern. Das waren sehr schwere Berufe, | |
| mit erheblichen Gesundheitsgefahren. Wenn ich dagegen diese ganzen | |
| piekfeinen Gestalten sehe, die sich heute in der Bundesrepublik und hier in | |
| Berlin als Linke tummeln, dann kann ich nur sagen: Dafür habe ich gar | |
| nichts übrig. | |
| Herr Bundeskanzler, was wünschen Sie zum Schluss dieses Gespräches der taz | |
| für die nächsten 25 Jahre? | |
| Dass sie wieder einmal den Mut aufbringt, jemandem wie Ihnen ihre Seiten zu | |
| überlassen. | |
| 7 Oct 2014 | |
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| Kai Diekmann | |
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