| # taz.de -- Großbritanniens Premier Boris Johnson: Der verkannte Reformer | |
| > Das Zerrbild Boris Johnsons als rechter Autokrat geht an der Realität | |
| > vorbei. Sein Projekt für Großbritannien: die Erneuerung in der | |
| > Klimakrise. | |
| Bild: Seine Agenda ist progressiv: Boris Johnson bei einem Besuch des Nissan-We… | |
| Die Nissan-Autowerke in Sunderland sind ein Seismograph der politischen | |
| Ökonomie Großbritanniens. Ihre Eröffnung durch Margaret Thatcher 1986 | |
| markierte den Beginn einer industriellen Renaissance zum Tiefpunkt der | |
| Deindustrialisierung des englischen Nordens. Sunderland wurde zur | |
| produktivsten Autofabrik Europas, Nissan stand für Großbritanniens Bindung | |
| an Europa – und dann besiegelte Sunderlands massives Brexit-Votum am 23. | |
| Juni 2016 den Sieg der Brexiteers. | |
| Heute ist [1][Großbritannien aus der EU ausgeschieden] und Nissan ist noch | |
| da. Mehr noch: es wird investiert. In Sunderland baut das japanische | |
| Unternehmen seine [2][erste britische Gigafabrik für E-Autos]. | |
| Großbritannien will bis 2030 aus dem Verbrennermotor aussteigen, fünf Jahre | |
| vor der EU, und Nissan will dabei vorne sein. | |
| Eingefädelt hat diesen Deal, die wichtigste Investition in Großbritannien | |
| seit dem Brexit, Wirtschaftsminister [3][Kwesi Kwarteng]. Der Sohn einer | |
| Familie aus Ghana ist der erste schwarze Minister des Landes und hat davor | |
| mit seinem Buch Ghosts of Empire eine Gegenrede sowohl zur imperialen | |
| Nostalgie mancher Rechter als auch zur Identitätspolitik der Linken | |
| geschrieben. | |
| So gut wie nichts davon ist in aktuellen Bilanzen der Regierung Boris | |
| Johnson zu lesen. Zwei Jahre nach seinem Aufstieg zum Premierminister sieht | |
| die Welt den Chefbrexiteer zumeist weiter als Möchtegern-Churchill, | |
| Insel-Orban, Trump-Verschnitt und Hasardeur. Ein geradezu hysterisches | |
| Abarbeiten an einer selbstgeschaffenen Karikatur verstellt allzu oft den | |
| Blick auf die Realität. | |
| ## Falsche Vorahnungen | |
| Der Person Boris Johnson sagen selbst seine Fans viel Negatives nach: | |
| sprunghaft, selbstbezogen, abfällig gegenüber Kritikern, treulos im | |
| Privaten wie im Politischen. Aber die politischen Vorwürfe seiner Gegner – | |
| ein autoritär-populistischer Rechtsruck – sind zum größten Teil imaginär. | |
| Nichts, was da ständig prophezeit wurde, ist eingetreten: nicht die | |
| Zerschlagung der BBC, nicht die Privatisierung des Gesundheitswesens, auch | |
| nicht die Schließung der Grenzen gegen Migranten und Flüchtlinge. | |
| In allen Fällen blieb es bei Rhetorik. Die Realität: Großbritannien nimmt | |
| mehr Flüchtlinge auf als seit Jahrzehnten, über 17.000 Bootsflüchtlinge aus | |
| Frankreich seit 2020, dazu jetzt Zehntausende Hongkong-Chinesen. Das ist | |
| humanitäre Verantwortung, wie sie bereits in 1960er Jahren die Eltern der | |
| Innenministerin Priti Patel als indischstämmige Flüchtlinge aus Uganda nach | |
| Großbritannien brachte und in den 1930ern den Vater des Außenministers | |
| Dominic Raab als jüdischen Flüchtling aus der Tschechoslowakei. | |
| Patel und Raab gehören zum diversesten Kabinett der britischen Geschichte. | |
| Menschen mit Migrationshintergrund besetzen fast alle Spitzenämter, etwa | |
| Finanzminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid. Boris | |
| Johnsons Großbritannien ist von der Engstirnigkeit der Thatcher-Ära Welten | |
| entfernt. Es nimmt seine Vielfalt als Selbstverständlichkeit an und sucht | |
| seinen Platz in der Welt als Vorreiter. Nicht von ungefähr hat Johnson | |
| seinem Land Klimaziele verordnet, die über die der EU und der USA | |
| hinausgehen. | |
| Die Idee: Großbritannien soll die Innovation für die kommende globale | |
| ökologische Transformation beisteuern, ermöglicht von den weltbesten | |
| Universitäten und dem wichtigsten globalen Finanzplatz. Die britische | |
| Corona-Impfstoffentwicklung dient als Vorbild, gemäß Johnsons Selbstbild | |
| als Problemlöser. Als er vor zwei Jahren Premier wurde, versprach Johnson, | |
| endlich den Brexit zu vollziehen – das hat er. Ansonsten versprach er mehr | |
| Polizisten und mehr Pflegekräfte, also einen besseren Staat statt | |
| Staatsabbau. | |
| ## Kabinett mit breiter Diversität | |
| Er betreibt Wirtschaftslenkung: Infrastrukturgroßprojekte, Förderprogramme | |
| abgehängter Regionen, ökologischer Umbau, alles unterfüttert mit der | |
| höchsten Steigerung der Staatsausgaben seit dem Zweiten Weltkrieg, mehr als | |
| jede Labour-Regierung vor ihm. Sein schärfster Gegner ist heute die | |
| konservative Rechte, die sich in diesem Johnson nicht wiederfindet. | |
| Das alles entspringt weniger politischem Tiefgang als einem Talent, die | |
| Zeichen der Zeit zu erkennen. Für Johnson war schon der Brexit kein | |
| ideologisches Projekt, sondern politisches Gespür: Er erkannte, dass die EU | |
| britischen Politikern als Ausrede für eigenes Versagen dient, und er bot | |
| an, diese Ausrede aus der Welt zu schaffen. Er erkannte eine Stimmung und | |
| machte daraus ein Projekt. Wenn eine neue Stimmung aufkreuzt, wie jetzt in | |
| der Klimakrise, erneuert er seinen Fokus, aber sein Macher-Optimismus | |
| bleibt konstant. | |
| Wenn Johnson ein politisches Projekt benennt, ist es das „Levelling Up“, | |
| also das Angleichen der Lebensverhältnisse, damit alle Briten mit den | |
| gleichen Chancen aufwachsen. Das entspricht Johnsons politischer Heimat: | |
| nicht der rechte Flügel seiner Konservativen in der Nachfolge Margaret | |
| Thatchers, sondern der linke Flügel des großen Thatcher-Rivalen [4][Michael | |
| Heseltine], der in den 1980er Jahren neben die Kräfte des Marktes einen | |
| aktiven Staat stellte. Heseltines Erbe übernahm später Tony Blair und | |
| schließlich Boris Johnson. | |
| Man kann an der Kohärenz des Johnson-Aktivismus zweifeln, und er muss sich | |
| erst noch in der Praxis bewähren. Corona hat bislang alles verdrängt. Ein | |
| Haufen halbgarer Aktionspläne harrt der Umsetzung, während wichtige | |
| Grundfragen unbeantwortet sind: das Machtgefälle zwischen Zentralregierung | |
| und Kommunen, das Auseinanderdriften der Nationen des Vereinigten | |
| Königreichs, das Verschieben brennender sozialer Fragen wie der der | |
| Altenpflege. | |
| Verwaltungsprofis raufen sich die Haare im bizarren Johnson-Reich, ein | |
| undurchsichtiges Labyrinth, in dem alles auf Grundsatzentscheidungen des | |
| Premiers wartet – bei einem Premier ohne feste Grundsätze. Aber Boris | |
| Johnsons politische Agenda ist progressiv. Es würde Großbritannien gut tun, | |
| wenn er sie umsetzt. Und solange er damit Wahlen gewinnt, wird er ihr treu | |
| bleiben müssen. | |
| 23 Jul 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Warum-die-Briten-fuer-den-Brexit-stimmten/!5579705 | |
| [2] https://www.theguardian.com/business/2021/jul/01/nissan-sets-out-plans-for-… | |
| [3] https://www.thetimes.co.uk/article/budget-should-focus-on-growth-not-tax-kw… | |
| [4] https://www.politics.co.uk/reference/michael-heseltine-profile/ | |
| ## AUTOREN | |
| Dominic Johnson | |
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