# taz.de -- Globales Ernährungssystem: Von Malmö und São Paulo lernen | |
> Unsere Ernährung ist klima- und umweltschädlich und schadet der | |
> Gesundheit. Nötig sind ein radikaler Umbau und mehr demokratische | |
> Beteiligung. | |
Bild: Kann gelernt werden: gesunde Ernährung | |
Die heutige Art der Ernährung führt in den Abgrund. Was wir essen und | |
trinken, ist für 21 bis 37 Prozent [1][der klimaschädlichen Gase | |
verantwortlich]. Das beginnt bei abgeholzten Regenwäldern für Tierfutter, | |
geht über klimaschädlichen Kunstdünger bis hin zu hohem Fleischkonsum und | |
immenser Lebensmittelverschwendung. Hinzu kommen aufwendige | |
Transportketten: Wer heute eine Tiefkühlpizza in den Einkaufswagen legt, | |
entscheidet sich für ein Produkt, dessen Zutaten mit hoher | |
Wahrscheinlichkeit aus mehreren Kontinenten stammen. | |
Dabei ist die Klimakatastrophe längst nicht das einzige Umweltproblem, das | |
das heutige Ernährungssystem mitverursacht. Hinzu kommen Artensterben und | |
der gestörte Stickstoff-Phosphor-Kreislauf – beides ist bedrohlich für die | |
Zukunft der Menschheit. Zwar findet vieles davon nicht unmittelbar in den | |
Städten statt – aber ohne die dortige Nachfrage gäbe es einen Großteil der | |
Probleme nicht. Fast 100 Städte aus aller Welt haben sich deshalb mit der | |
[2][Glasgow-Erklärung „Ernährung und Klima“] selbst verpflichtet, eine | |
neue, ganzheitliche Ernährungspolitik zu entwickeln. | |
Zu den Unterzeichnenden gehören unterschiedliche Kommunen wie São Paulo und | |
Malmö, Darebin in Australien und Okene in Nigeria. Deutsche Städte fehlen | |
bisher. Klimaschutz wird hier vor allem als Energie- und Mobilitätsproblem | |
wahrgenommen – und oft steht im Land der Ingenieure und Maschinenbauer | |
Technik im Zentrum. | |
Ernährung ist aber auch ein Gerechtigkeits-, Wirtschafts-, Kultur- und | |
Bildungsthema. Über 800 Millionen Menschen hungern weltweit, vor allem | |
solche in ländlichen Regionen. [3][Der Klimawandel], aber auch der Anbau | |
von Energiepflanzen und Futtermitteln für den Weltmarkt rauben ihnen die | |
Lebensgrundlage. Zugleich nehmen Übergewicht, Adipositas und Allergien | |
weltweit zu. | |
Zentrale Ursache dafür sind hochverarbeitete Lebensmittel, die viel Zucker | |
als Füllstoff enthalten und die Bakterien im Dickdarm verhungern lassen. | |
Wer im Kindesalter überschüssige Kilo ansammelt, wird dieses Problem | |
oftmals nicht mehr los. Für diese Menschen bedeutet das oft Scham – und für | |
die Krankenkassen hohe Kosten wegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen. | |
„Entlang der gesamten Nahrungsmittelkette [haben sich] nicht nachhaltige | |
Dynamiken verfestigt …, die in erster Linie von industriellen Nahrungs- und | |
Landwirtschaftssystemen herrühren“, analysiert die Glasgow-Erklärung. Nötig | |
seien integrierte und ganzheitliche Ansätze. Dafür müssten vielfältige | |
Gruppen einbezogen werden – von den Arbeiter*innen in der Land- und | |
Lebensmittelwirtschaft über zivilgesellschaftliche Gruppen und Forschende | |
bis hin zu Indigenen und Jugendlichen. | |
In weiten Teilen der deutschen Politik ist allerdings noch nicht | |
angekommen, dass ein radikaler Umbau des Ernährungssystems nötig ist. | |
Bisher bewegt sich die Debatte auf eher niedrigem Niveau. Da geht es darum, | |
ob die Politik das Recht hat, Grillfreunden ihr Nackensteak madig zu machen | |
oder ein Veggie-Tag in Kantinen einen zu starken Eingriff in die | |
individuelle Freiheit darstellt. Der politische Umgang erinnert an die | |
Aufforderung an das Titanic-Orchester, weiterzuspielen, um die Passagiere | |
nicht zu beunruhigen. | |
Weil Regierungen in Deutschland auf allen Ebenen das Problem nicht in | |
angemessener Weise angehen, müssen die nötigen Anstöße von woanders kommen. | |
Sinnvoll wäre es, auf Bundesebene einen Bürger*innenrat einzurichten, | |
der durch Zufallsauswahl per Los zusammengesetzt ist. Internationale | |
Erfahrungen zeigen, dass Bürger*innenräte zu klugen und durchaus | |
radikalen Vorschlägen in der Lage sind – auch weil Lobbyisten dort keinen | |
Einfluss haben. Stattdessen können sie Expert*innen einladen und | |
befragen. | |
An Expertise mangelt es nicht. So hat der Leiter [4][des Potsdam-Instituts | |
für Klimafolgenforschung (PIK)], Johan Rockström, zusammen mit anderen | |
Wissenschaftler*innen einen Speiseplan entwickelt, mit dem sowohl der | |
Planet Erde gesund bleiben als auch die gesamte Erdbevölkerung gut ernährt | |
werden könnte. Pro Kopf und Tag bedeutet das im Durchschnitt: 550 Gramm | |
Obst und Gemüse, 230 Gramm Vollkorngetreide, 75 Gramm Hülsenfrüchte, 50 | |
Gramm Nüsse, 250 Gramm Milchprodukte, 13 Gramm rotes Fleisch, 29 Gramm | |
Geflügel und 28 Gramm Fisch. Wie so etwas umzusetzen ist, ist allerdings | |
noch eine ungelöste Frage. | |
## Bevölkerung muss den Wandel mittragen | |
Klar ist: Die notwendigen Veränderungen kann es nur geben, wenn sie die | |
Bevölkerung breit mitträgt. Der Berliner Ernährungsrat schlägt deshalb vor, | |
einen ernährungsdemokratischen Campus für die Region Brandenburg-Berlin | |
einzurichten. Dort soll echte Partizipation stattfinden. Menschen mit | |
vielfältigen Erfahrungen und Hintergründen würden nach Wegen für die große, | |
drängende Frage suchen: Wie können Produktion und Konsum aller in der | |
Region benötigten Lebensmittel die planetaren Grenzen wahren und zugleich | |
sozial fair sein? | |
Hier soll diskutiert, experimentiert und gemeinsam an Lösungen gearbeitet | |
werden. Expert*innen sind eingeladen, um Informationen und Hintergründe | |
zu liefern. In Berlin-Brandenburg gibt es bereits viel Forschung zu | |
unterschiedlichsten Aspekten eines zukunftsfähigen Ernährungssystems. | |
Gleichzeitig arbeiten mehrere Initiativen, Projekte und Unternehmen an | |
konkreten Mosaiksteinen. Was noch fehlt, ist eine große, gemeinsame Vision | |
– und der Weg dorthin. | |
Das alles kann nur funktionieren, wenn das Zukunftsbild attraktiv | |
erscheint. Doch was spricht dagegen? Wie kaum ein anderes Thema kann Essen | |
Genuss bedeuten. Etwas Leckeres genießen, dabei Zeit haben zu quatschen, | |
Gemeinschaft zu erleben – ist das keine gute Perspektive in einer Welt, in | |
der viele Menschen irgendetwas Kalorienhaltiges zwischendurch | |
runterschlingen, nur damit es gleich weitergehen kann mit der Arbeit und | |
sonst was? | |
Annette Jensen ist freie Journalistin und Buchautorin und eine der | |
Sprecher*innen des Berliner Ernährungsrats. Sie hat die Redaktion | |
geleitet für das soeben erschienene Buch: „Berlin isst anders. Ein | |
Zukunftsmenü für Berlin und Brandenburg“. Gratis-Download unter: | |
https://ernaehrungsrat-berlin.de/berlin-isst-anders/ | |
23 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /CO2-Kennzeichnung-von-Lebensmitteln/!5709576 | |
[2] https://de.glasgowdeclaration.org/ | |
[3] /Aktueller-Welthungerindex/!5808035 | |
[4] https://www.pik-potsdam.de/de | |
## AUTOREN | |
Annette Jensen | |
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