# taz.de -- Gestoppte Abschiebung nach Ruanda: Flieger bleiben am Boden | |
> Flüchtlinge in Großbritannien werden nun doch nicht nach Ruanda | |
> ausgeflogen, um dort Asyl zu beantragen. Straßburg stoppte das Vorhaben | |
> kurz vorher. | |
Bild: Akivist*innen protestieren gegen die Abschiebung | |
LONDON taz | Das Vorzeigeprojekt der konservativen britischen Regierung, | |
Schutzsuchende von der illegalen Einreise nach Großbritannien abzuhalten, | |
[1][ist vorerst geplatzt]. Ein Pilotflug, der Asylsuchende in der Nacht zu | |
Mittwoch aus London nach Ruanda bringen sollte, damit ihre Asylanträge dort | |
statt im und fürs Vereinigte Königreich bearbeitet werden, wurde abgesagt. | |
Am Dienstagabend hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte | |
(EGMR) in einem Eilverfahren geurteilt, die Betroffenen dürften in | |
Großbritannien bleiben. Zuvor hatten mehrere britische Rechtsinstanzen, | |
zuletzt das Oberste Gericht in London, die Abschiebungen gebilligt. | |
Konkret verhandelte der EGMR in Straßburg, die juristische Instanz des | |
Europarats, den Antrag eines 54-jährigen irakischen Kurden gegen seine | |
Abschiebung nach Ruanda. Der EGMR urteilte, dass seine Sicherheit und | |
Rechte – er besitzt ein Gutachten eines britischen Arztes, der vermutete, | |
dass der Iraker Folteropfer war – nicht gewährleistet seien. Der Mann hatte | |
den Ärmelkanal auf einem kleinen Schlauchboot aus Frankreich überquert und | |
vor einem Monat in Großbritannien Asyl beantragt. | |
Der EGMR äußerte sich in seiner Entscheidung darüber besorgt, dass | |
Asylbewerber:innen, die aus dem Vereinigten Königreich nach Ruanda | |
abgeschoben werden, „keinen ausreichenden Zugang zu fairen und effizienten | |
Maßnahmen für ihre Bewerbung zum Flüchtlingsstatus haben würden“. Im | |
britischen High Court hatten Anwält:innen der Abzuschiebenden am Freitag | |
eine richterliche Prüfung [2][des Ruanda-Abschiebeprogramms] erzwungen, | |
welche Ende Juli beginnen soll. Dennoch urteilten sämtliche britische | |
Instanzen, dass die Personen in Ruanda zumindest bis Ende Juli sicher | |
seien, da Großbritannien garantiert habe, sie notfalls wieder | |
zurückzubringen. | |
Das EGMR sieht das anders: Ruanda stehe außerhalb des Gültigkeitsraumes der | |
Europäischen Menschenrechtskonvention, sodass keine rechtlich | |
vollstreckbaren Mechanismen bestünden, eine Rückkehr aus Ruanda ins | |
Vereinigte Königreich zu garantieren, sollte das Programm für rechtswidrig | |
erklärt werden. Aus diesem Grund sei die Abschiebung nach Ruanda bis drei | |
Wochen nach dem noch ausstehenden Urteil über das Abschiebeprogramm zu | |
verschieben, und zwar nicht nur im Fall des Irakers. Das EGMR-Urteil ließ | |
dem englischen Berufungsgericht keine andere Wahl, als den Personen, die am | |
Dienstagabend ausgeflogen werden sollten, den weiteren Aufenthalt in | |
Großbritannien bis zum Ende der richterlichen Prüfung zu gewähren. | |
## Es wären wenige gewesen, die einsteigen sollten | |
Es waren ohnehin nur noch wenige gewesen, die ins Flugzeug hätten steigen | |
sollen. Ursprünglich hatte die britische Regierung 130 Personen zur | |
Abschiebung ausgewählt, alles Männer oder Jungen. Als es soweit war, | |
standen noch 39 auf der Liste. Nach weiteren erfolgreichen Einsprüchen | |
blieben am Ende ganze sieben Personen übrig. Laut unbestätigten Angaben | |
liegen die Kosten für allein den gestrigen abgesagten Flug bei umgerechnet | |
574.000 Euro. | |
Bei einigen der 130 war eine Zukunft in Ruanda in Frage gestellt worden, | |
weil sie der LGBTQIA+Community angehören. Bei anderen gab es Fragen, ob sie | |
noch als Kinder gelten. Viele leiden an psychischen Problemen, nicht | |
zuletzt aufgrund von Folter. Die britische Zeitung The Independent | |
berichtete von einem iranischen Demokratieaktivisten, der auf der Flucht in | |
der Türkei von Menschenhändlern gefoltert worden sei, die Videos davon an | |
seine Familie geschickt hätten. | |
Viele überquerten den Ärmelkanal im Mai – auf diesem Weg sind im | |
vergangenen Jahr über 28.000 Menschen aus Frankreich illegal nach | |
Großbritannien gelangt, wo sie ins Asylverfahren aufgenommen wurden; dieses | |
Jahr sind es bereits knapp 5.000 Personen. | |
Die letzten sieben, deren Abschiebung erst am Dienstag gestoppt wurde, | |
kamen aus Irak, Iran, Albanien und Vietnam. Einer ist ein kurdischer | |
Iraner, dessen Schwester seit 2010 in Großbritannien lebt und der allein | |
damit vor Abschiebung geschützt sein müsste. Der Albaner ist laut Guardian | |
26 Jahre alt, wurde von Menschenhändlern sechs Monate lang verschleppt und | |
erwog nach eigenen Angaben jetzt Suizid. Ein Iraner gab an, dass man im | |
Iran seinen Cousin umgebracht hätte und seinen Onkel viele Jahre lang | |
inhaftiert und gefoltert habe. | |
## Patel gab sich kämpferisch | |
Das mit knapp 150 Millionen Euro dotierte Abschiebeprogramm namens | |
„Einwanderungs- und wirtschaftliche Entwicklungspartnerschaft“ (MEDP) wurde | |
im April zwischen dem Vereinigten Königreich und Ruanda für eine Laufzeit | |
von fünf Jahren unterzeichnet. Abgeschobene Personen dürfen demnach in | |
Ruanda Asyl beantragen. Laut Innenministerium soll das Abkommen Menschen | |
von „gefährlichen Überquerungen in kleinen Booten über den Ärmelkanal in | |
das Vereinigte Königreich abschrecken“. Die meisten dieser Menschen seien | |
auf dem Weg nach Großbritannien durch sichere Länder gereist, wo sie hätten | |
Asyl beantragen können, wiederholte die britische Innenministerin Priti | |
Patel am Mittwoch vor dem Parlament. | |
Patel gab sich nach dem vorläufigen Scheitern ihres Ruanda-Projekts, das | |
sie persönlich im April in Kigali verkündete hatte, kämpferisch. Das | |
Programm sei einmalig und man werde die Flüge nun eben umbuchen. Die jetzt | |
nicht Ausgeflogenen müssten nun elektronische Fußfesseln tragen. | |
Arbeitsministerin Thérèse Coffey sagte, dass man vor dem EGMR Berufung | |
einlegen werde. | |
Doch die Ruanda-Pläne hatten breite Kritik hervorgerufen, nicht nur bei | |
Flüchtlingshilfsgruppen. Die innenpolitische Sprecherin der | |
Labour-Opposition, Yvette Cooper, nannte die Maßnahmen chaotisch und | |
schändlich. Am Dienstag hatten alle Bischöfe der anglikanischen Kirche die | |
Pläne als unmoralisch kritisiert. Auch Thronfolger Prinz Charles, der sich | |
eigentlich neutral zu halten hat, soll sich privat gegen die Pläne | |
ausgesprochen haben. Er soll kommende Woche nach Ruanda reisen, wo erstmals | |
ein Gipfel des von Großbritannien geführten Commonwealth-Staatenbundes | |
stattfindet. | |
15 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski | |
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