# taz.de -- Generalstreik in Indien: Keine Landwirte, kein Essen | |
> In Indien blockieren Kleinbauern Straßen und Schienen. Sie protestieren | |
> gegen die Agrarreform. Die Angst ist groß, Konzernen ausgeliefert zu | |
> werden. | |
Bild: Indische Bauern befürchten noch weiter in die Armut getrieben zu werden | |
MUMBAI taz | Frauen, Männer und GesundheitsmitarbeiterInnen harren an | |
der Grenze des Bundesstaats Haryana und der Hauptstadtregion Delhi aus. Sie | |
kommen vor allem aus den Agrarstaaten wie dem Pandschab, dem „Brotkorb | |
Indiens“, und sie wollen in die Stadt. Abgehalten werden sie von | |
Polizeibarrikaden, Tränengas und Wasserkanonen, die bereits seit zwei | |
Wochen gegen Bauern zum Einsatz kommen. Seit dem 27. November kampieren | |
bereits Zehntausende vor verschiedenen Grenzpunkten Delhis und das trotz | |
der kühlen Temperaturen und steigender Luftverschmutzung. | |
„Die neuen Agrargesetze werden unsere Familienbetriebe zerstören“, fürcht… | |
Sandeep Singh von der überparteilichen Bauernvertretung „Bhartiya Kisan | |
Union“ (Dakonda) aus Mansa Punjab, 250 Kilometer entfernt von Delhi. | |
„Die Regierung ist bereit, alles zu verkaufen. Zuerst haben sie [1][die | |
Eisenbahn] und den Flughafen veräußert, jetzt haben sie ein Auge auf unser | |
Farmland geworfen, aber das werden wir nicht zulassen“, sagt er der taz. | |
„Diese Gesetze werden nur Kapitalisten wie Ambani und Adani Vorteile | |
bringen. Wir werden auf friedliche Weise kämpfen und die Regierung dazu | |
bringen, unserer Forderung zuzustimmen.“ | |
Mit ihnen blockieren weitere TeilnehmerInnen am Dienstag in ganz Indien | |
Straßen und Schienen. Sie fordern die Rücknahme der Agrarreformen. „Keine | |
Landwirte, kein Essen“ ist ihr Leitspruch. Auch Verwandten des Biobauern | |
Anurag Randhawa aus der Nähe der nordindischen Millionenstadt Amritsar sind | |
in Delhi. „All die Probleme, die wir seit Jahren haben, sind jetzt | |
hochgekommen“, sagt Randhawa. Gerade kleinen Bauern fehle es an Maschinen | |
zur Bewirtschaftung, sodass sie die Felder vor der neuen Saat abbrennen | |
müssen. | |
Auch fehle vielen das Wissen, wie sie ihre Produkte zu fairen Preisen | |
verkaufen können. Bisher gibt es einen garantierten Mindestpreis für Reis | |
und Weizen, aber eben nicht für alle Erzeugnisse, ergänzt der 20-jährige | |
Randhawa. Viele seiner Anbausorten sind lokal und werden deshalb nicht | |
gelistet. Die Befürchtung ist, dass durch die Privatisierung der | |
Landwirtschaft auch diese Sicherheit wegfällt. Für Regionen wie das | |
Pandschab wäre das fatal. Ohne Zweifel braucht es Reformen in Indien, dafür | |
sprechen nicht nur [2][die vielen Suizide unter Landwirten.] (Auf der | |
Mehrheit der Landwirte lastet ein Kredit, sagt Randhawa.) | |
## Privatfirmen bevorzugt | |
Doch das Misstrauen gegenüber den Neuerungen wächst, seitdem sie [3][im | |
September unter Protest im Parlament durchgewinkt wurden.] Die | |
Deregulierung kommt Privatfirmen zugute. An sie Land zu verpachten, soll | |
verschuldeten Kleinbauern kurzzeitig helfen. Ob es allerdings eine | |
Sicherheit für die eigentlichen Besitzer gibt, ist ungewiss. Die | |
Verunsicherung ist groß. Randhawa weiß, wer Richtung Hauptstadt gezogen | |
ist, ist von der Landwirtschaft abhängig und viele sind aufgebracht. Die | |
Regierung habe sie nicht mit einbezogen bei ihren neuen Gesetzen. | |
Premier Narendra Modi von der [4][hindunationalistischen BJP] erklärte, | |
man könne das neue Jahrhundert nicht mit Gesetzen aus dem vergangenen | |
gestalten. Fünf Verhandlungen zwischen Zentralregierung und | |
Bauernvertretern scheiterten bereits. Landwirtschaftsminister Narendra | |
Singh Tomar (BJP) verteidigt die Agrarreform als „Game Changer“. Genau | |
davor haben die Bauern Angst: dass künftig Großkonzerne die Spielregeln | |
angeben und Preise drücken, wenn sie direkt mit Abnehmern verhandeln und | |
staatliche Großmärkte mit ihren Garantiepreisen als Zwischenschritt | |
wegfallen. | |
Der landesweiten Streik am Dienstag unterstützen zahlreiche Gewerkschaften. | |
Die Lebensmittelgroßmärkte sowie einige Geschäfte blieben geschlossen. In | |
Punjab wurden unter anderem Mautstationen blockiert. „Wo immer die | |
Bauerngewerkschaft stark ist, versperren sie den Weg zu vom Multikonzern | |
Reliance (zugehörig zu Ambani) betriebenen Tankstellen und Supermärkten“, | |
sagt Anurag Randhawa. | |
## Unter Hausarrest | |
Neben den benachbarten Agrarstaaten Haryana und Punjab ziehen andere | |
Bundesstaaten nach, vor allem jene, die in Opposition zur Zentralregierung | |
(BJP) stehen wie West-Bengalen, Maharashtra oder Telangana. Delhis | |
Regierungschef Arvind Kejriwal (AAP), der dem Streik Unterstützung zusagte, | |
wurde am Dienstag nach Aussagen seiner Partei von der Polizei unter | |
Hausarrest gestellt. Die Protestierenden hoffen, dass sie mit der | |
Unterstützung durch den Generalstreik nun bessere Karten haben, um in neue | |
Verhandlungen zu gehen. | |
Trotz der harschen Reaktion der Zentralregierung gegenüber vielen Bauern, | |
bleibt Randhawa optimistisch. „Muslime, Hindus, Sikhs, Männer und Frauen | |
mit unterschiedlicher Herkunft sind in Delhi zusammengekommen. Das ist ein | |
positives Zeichen“. Er hofft, wenn so viele für die Bauern einstehen, dass | |
sie doch etwas erreichen können. | |
Vor allem die Lage [5][im Bundesstaat Bihar ist] eine Warnung. Dort wurde | |
der Mindestpreis bereits abgeschafft. Bauern müssen ihre Erzeugnisse jetzt | |
zu Schleuderpreisen verkaufen und als Tagelöhner in andere Bundesstaaten | |
ziehen. | |
8 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.nationalheraldindia.com/india/axe-of-privatisation-on-indian-ra… | |
[2] /Suizid-Krise-in-Nordindien/!5599995 | |
[3] /Umstrittene-Agrarreform-in-Indien/!5715199 | |
[4] /Gewalt-gegen-Muslime-in-Neu-Delhi/!5666887 | |
[5] https://www.downtoearth.org.in/news/agriculture/bihar-scrapped-apmc-act-man… | |
## AUTOREN | |
Natalie Mayroth | |
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