| # taz.de -- GDL-Streik bei der Deutschen Bahn: Ein ganzes Land in Geiselhaft | |
| > Der Streik des Lokführer-Chefs Claus Weselsky ist falsch. Seine | |
| > Lohnforderungen sind nur in seiner Fantasie durchsetzbar, nicht in der | |
| > echten Welt. | |
| Bild: Wie gemein: Der mehrtägige Streik zwingt die Menschen ins Auto oder sie … | |
| Der Bahnstreik dürfte Fahrgäste und Wirtschaft pro Tag etwa 100 Millionen | |
| Euro kosten, Tendenz steigend. Das ist eine Schätzung; genau kann es | |
| niemand wissen. Was ich jedoch weiß: Bei mir hat dieser Streik schon jetzt | |
| einen Verlust von 290 Euro verursacht, den mir niemand ersetzt. Und wer | |
| weiß, was noch kommt. | |
| Ich wäre bereit, 290 Euro in einen Bahnstreik zu investieren, wenn ich vom | |
| Anliegen der Lokführer überzeugt wäre. Das bin ich aber nicht. Ich halte | |
| diesen Streik für verfehlt. | |
| Sehr seltsam ist bereits, dass Lokführer-Chef Claus Weselsky gar nicht erst | |
| verhandelt hat, bevor er seinen sechstägigen Streik ausgerufen hat. [1][Er | |
| behauptet, dass die Bahn kein verhandlungsfähiges Angebot vorgelegt habe.] | |
| Dieser Vorwurf ist etwas eigenartig angesichts der Tatsache, dass die | |
| Lokführer erst recht nichts vorlegen, worüber man verhandeln könnte. Ihre | |
| Forderungen sind völlig übertrieben. | |
| Würde sich Weselsky durchsetzen, dann kassierten die oberen Lohngruppen ein | |
| Plus von mehr als 20 Prozent, und bei den unteren Lohngruppen wären es | |
| sogar über 30 Prozent mehr. Und zwar ohne die einmalige Inflationsprämie | |
| von 3.000 Euro, die sowieso hinzukommen dürfte. Derartige Lohnsteigerungen | |
| sind in der echten Welt nicht möglich, sondern nur in der Fantasie von | |
| Weselsky. | |
| ## Verschleierte Kompromisslosigkeit | |
| Diese überzogenen Forderungen machen klar: Weselsky will nicht verhandeln, | |
| sondern erpressen. Genau dieses Signal sendet auch der sechstägige Streik | |
| aus. Ganz Deutschland soll so lange leiden, bis er seinen Willen bekommt. | |
| Weselsky weiß natürlich auch, dass er nicht allzu starrsinnig wirken darf. | |
| Also verbrämt er seine Kompromisslosigkeit, indem er bereits Tarifverträge | |
| mit diversen privaten Bahngesellschaften abgeschlossen hat, die er nun als | |
| Blaupause für seine Verhandlungen mit der Bahn anpreist. Dort hat er vor | |
| allem durchgesetzt, dass die Arbeitszeit für Schichtarbeiter in den | |
| nächsten vier Jahren von 38 auf 35 Wochenstunden sinken soll. | |
| Alles andere ist weitgehend identisch mit dem Tarifvertrag, den die | |
| Konkurrenzgewerkschaft EVG bereits mit der Bahn abgeschlossen hat und der | |
| auf ein durchschnittliches Lohnplus von 14 Prozent in zwei Jahren | |
| hinausläuft. | |
| Treuselig verkündet Weselsky nun, dass es für die Bahn doch gar kein | |
| Problem sein dürfte, die Arbeitszeit auf 35 Stunden zu reduzieren – da doch | |
| die privaten Anbieter bereits zugestimmt haben. Was Weselsky lieber | |
| verschweigt: Die privaten Bahnen verhalten sich wie Trittbrettfahrer. Sie | |
| wollten vermeiden, dass auch sie von einem Streik getroffen werden. Also | |
| sind sie Weselsky weit entgegengekommen – haben aber zugleich eine | |
| „Wettbewerbsklausel“ reinverhandelt. Wenn die Bahn am Ende weniger bieten | |
| muss, dann wird auch bei den privaten Bahnen nach unten angepasst. | |
| ## Forderungen ökonomisch nicht zu stemmen | |
| Die Verträge mit den privaten Bahnen sind also uninteressant; entscheidend | |
| ist, ob es die Bahn ökonomisch stemmen kann, die Stundenzahl aller | |
| Schichtarbeiter auf 35 zu senken. Denn klar ist: Wenn die Lokführer jetzt | |
| eine substanzielle Zeitverkürzung herausholen, dann wird die EVG das | |
| Gleiche bei der nächsten Tarifrunde in 19 Monaten verlangen. Damit die | |
| Dimensionen klar sind: Die Zeitverkürzung würde einem zusätzlichen Lohnplus | |
| von 9,1 Prozent entsprechen. | |
| Bei der Bahn arbeiten etwa 100.000 Angestellte im Schichtbetrieb, das sind | |
| die Hälfte aller Angestellten. Wenn sie nun alle nur noch 35 Wochenstunden | |
| zum Dienst kommen müssten, wäre die Bahn nicht nur finanziell überfordert, | |
| sondern auch weitgehend lahmgelegt. Denn es gibt keine unbeschäftigten | |
| Lokführer oder andere Fachkräfte, die die Bahn zusätzlich einstellen | |
| könnte. Dieser Mangel an Arbeitskräften wird künftig sogar schlimmer, weil | |
| die Babyboomer in Rente gehen und kaum Jugendliche nachwachsen: [2][Bis | |
| 2050 dürften deutschlandweit etwa 12 Millionen Erwerbsfähige fehlen]. | |
| Eigentlich müsste mehr gearbeitet werden, nicht weniger. | |
| Noch einmal zur Erinnerung: Die EVG hat bereits herausgehandelt, dass die | |
| Löhne in zwei Jahren um durchschnittlich 14 Prozent steigen. Das ist viel. | |
| Aber Weselsky will eben noch mehr – und deswegen nimmt er nun das ganze | |
| Land in Geiselhaft. Diese Egomanie kann sich Weselsky nur erlauben, weil | |
| die Bahn ein Staatsbetrieb ist. Wenn Verluste auflaufen, haftet eben der | |
| Steuerzahler. Eine Pleite ist ausgeschlossen. | |
| Eine Umfrage ergab kürzlich, dass 59 Prozent keinerlei Verständnis für den | |
| Bahnstreik haben. Sympathie bekundeten nur 34 Prozent der Befragten. Und | |
| damit liegen die BundesbürgerInnen richtig: Weselskys Bahnstreik ist | |
| überzogen und egoistisch. Gewerkschaften sind sehr wichtig, aber auch für | |
| sie gelten Regeln. | |
| 50 Minuten Bahnstreik gibt’s diese Woche im taz-Podcast „Bundestalk“ | |
| 26 Jan 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ulrike Herrmann | |
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