# taz.de -- Fußball-WM in Nischni Nowgorod: Mülltrennung an der Wolga | |
> Nischni Nowgorod wurde für die Fußball-WM herausgeputzt, nun findet das | |
> letzte Spiel dort statt. Die Stadt bietet mehr als Fußball. | |
Bild: Die Stadtregierung habe viel Geld vor der WM in Nischni Nowgorod investie… | |
Nischni Nowgorod taz | Die dicken Kreml-Mauern von Nischni Nowgorod | |
schlucken den Lärm, der vor der Festung tost, einfach weg. Hier im | |
Kreml-Konzertsaal ist nichts zu hören vom Fifa-Fest, den Marktschreiern am | |
Mikrofon und den verrückten feierlustigen Fans, die aus aller Welt in diese | |
Stadt pilgern und von der die meisten zuvor wahrscheinlich noch nie etwas | |
gehört haben. | |
Das Gedränge ist unterdessen auch unter den Musikliebhabern gewaltig. Alle | |
1.500 Plätze sind besetzt, die Nachkommenden nehmen auf den Treppen Platz. | |
Das städtische philharmonische Orchester beginnt sein Programm mit einem | |
Stück von Louis Spohr. | |
Nischni Nowgorod hat in diesen Tagen weit mehr als dieses Fußballturnier zu | |
bieten. Das will Alina Aliazgarova mir gern zeigen. Die fast fertig | |
ausgebildete Medizinerin, die als Assistentin für den Vize-Rektor ihrer | |
Universität arbeitet, hat dafür extra von ihrem Chef frei bekommen. Wobei | |
die schlanke und energiegeladene Frau immer noch diverse Dinge nebenbei | |
über ihr Telefon regeln muss. „Ich muss immer etwas machen“, sagt die | |
29-Jährige lachend. Sie bekennt sich zu ihrer Arbeitssucht. | |
Aufgrund ihres Engagements in der Städtepartnerschaft mit Essen wurde mir | |
ihre Adresse vermittelt. Man kann sich kaum eine leidenschaftlichere | |
Schwärmerin von Nischni Nowgorod vorstellen. Bei der Erörterung der | |
positiven und negativen Seiten dieser Stadt wird schnell klar: Das | |
Schlechte war früher, das Gute ist heute. | |
## Jede Menge los in Nischni Nowgorod | |
Im Geburtsjahr von Aliazgarova, 1989, als das kommunistische System | |
kollabierte, herrschte größte Not. Ihre Eltern hätten Angst vor ihrem | |
Aufwachen gehabt, weil sie nichts zu essen hatten, und an ein zweites Kind | |
wagten sie nicht zu denken. „Sehr, sehr viel“, betont die junge Aktivistin, | |
„hat sich seither getan.“ Sie selbst ist gerade im dritten Monat schwanger | |
und möchte auf keinen Fall, dass ihr Kind ebenfalls ein Einzelkind sein | |
wird. | |
Auf dem Weg zur Philharmonie hat sie mir beim Regierungsgebäude der Stadt | |
mit Stolz erzählt, sie sei im Besitz eines Hausausweises. Wenn es Probleme | |
gäbe, könne sie immer hierher kommen. Man habe stets ein offenes Ohr für | |
sie. Seit fünf Jahren, erzählt sie, gehöre sie der Molodaja Gwardija an. Es | |
ist die Jugendorganisation der putintreuen Partei „Einiges Russland“. Ein | |
vornehmlich akademisch geprägter Nachwuchskader. | |
Von dem Konzert im Kreml-Konzertsaal ist Aliazgarova sehr angetan. Es ist | |
eines von vielen Gratiskonzerten eines zweimonatigen Festivals, das | |
jährlich in Nischni Nowgorod stattfindet. „Das ist eine mittlerweile 62 | |
Jahre alte Tradition, die aus der Zeit der Sowjetunion stammt“, erklärt | |
Aliazgavora, „Viele Touristen kommen deshalb hierher. So viele kostenlose | |
Konzerte, wo gibt es das sonst?“ | |
Aber auch so, versichert sie, sei hier jede Menge los. Die 800-Jahr-Feier | |
der Stadt, die 2021 stattfinden wird, werfe ihre Schatten voraus. Und | |
dieses Jahr wird mit zahlreichen Veranstaltungen an den 150. Geburtstag von | |
Maxim Gorki, dem berühmtesten Sprössling dieses Orts, gedacht. | |
Nach dem Schriftsteller war Nischni Nowgorod noch vor dem Zusammenfall des | |
kommunistischen Systems benannt. Weil sie geschlossen war, durften | |
Ausländer die Stadt damals nicht besuchen. Die dort ansässige atomare | |
Rüstungsindustrie sollte geschützt werden. Mit dieser Regelung eignete sich | |
die Stadt zudem als Verbannungsort für den Regimekritiker und | |
Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow zwischen 1980 und 1986. | |
Von der damaligen Geschlossenheit könne keine Rede mehr sein, meint | |
Aliazgarova. Die Stadt sei international. An ihrer Universität gebe es mit | |
gut 3.000 Studenten mehr Ausländer als Russen. Vor allem in Asien sei das | |
Interesse an einem Studium in Nischni Nowgorod sehr groß, in Malaysia zum | |
Beispiel. | |
Idyllisch gelegen, breitet sich der Kern der fünftgrößten Stadt Russlands | |
auf einem Hügel vor der breiten Wolga aus, die ein wenig weiter entfernt, | |
in Sichtweite, mit der Oka, einem anderen bedeutsamen Fluss, | |
zusammentrifft. „Das ist ein tolles Naturschauspiel“, stellt Aliazgarova | |
vom Kreml hinunterblickend fest, „wie diese unterschiedlich farbigen | |
Gewässer zusammenkommen. [1][Das gibt es sonst vielleicht nur noch in St. | |
Petersburg.]“ | |
## Kein Wissen über unterdrückte Opposition | |
Die Stadt hat sich mit vielen frisch renovierten Häusern herausgeputzt für | |
die Besucher dieser Weltmeisterschaft. Architektonisch beeindruckende | |
Gebäude gibt es zu bestaunen. Das Gebäude der russischen Staatsbank etwa in | |
der Bolschaja Pokrowskaja, der Hauptstraße der Fußgängerzone. Das | |
Jugendstilgebäude mit seinen mächtigen Türmen gleicht einem prächtigen | |
Schloss. | |
Sehr viel Geld habe die Stadtregierung vor dieser Fußball-WM in die | |
Verschönerung von Nischni Nowgorod investiert, berichtet Alina Aliazgarova. | |
Auch dem Projekt, dem sie sich verschrieben hat, als die russische | |
Regierung das Jahr 2017 zum Jahr der Ökologie ausrief, hat davon | |
profitiert. Seit wenigen Monaten wird der Müll bei den öffentlichen | |
Abfallbehältnissen getrennt. Es gibt in der Stadt immer jeweils einen | |
grünen und einen gelben Mülleimer. Wieder ein positiver Unterschied zu | |
früher, wie Aliazgarova bemerkt. | |
Einst regierte in Nischni Nowgorod Boris Nemzow als Gouverneur, der sich | |
später in Moskau als politischer Gegner von Wladimir Putin einen Namen | |
machte und im Zentrum der Hauptstadt im Februar 2015 erschossen wurde. | |
[2][Von einer unterdrückten Opposition im Land] will aber Aliazgarova | |
nichts wissen: „Das sagen vielleicht Leute, die einen anderen Präsidenten | |
haben möchten, aber Putin hat mehr als 76 Prozent Zustimmung bei der | |
letzten Wahl bekommen.“ Dass das eine womöglich mit dem anderen zu tun hat, | |
[3][zumal die TV-Berichterstattung von Putin kontrolliert wird], auch das | |
will Aliazgarova so nicht sehen. Sie sagt: „Ich schaue kein Fernsehen, ich | |
habe keine Zeit dazu, ansonsten könnte ich gar nicht aktiv sein.“ | |
Alina Aliazgarova ist allein dem Fortschritt zugewandt. An Rückschritte | |
glaubt sie nicht. Über die weitere Nutzung der neuen Prachtarena an der | |
Wolga, die knapp 45.000 Zuschauer fasst, macht sich die Politaktivistin | |
keine Sorgen, auch wenn der dort künftig beheimatete Zweitligist Olympiets | |
Nischni Nowgorod vergangene Saison gerade einmal 5.000 Zuschauer im Schnitt | |
zu Besuch hatte. Mit einem siegesgewissen Lächeln sagt sie: „Es gibt noch | |
viele andere große Sportarten und Russland ist sehr, sehr groß.“ | |
6 Jul 2018 | |
## LINKS | |
[1] /Fussball-in-St-Petersburg/!5512477 | |
[2] /Presseschau-Russland-nach-Achtelfinalsieg/!5518711 | |
[3] /Einheimische-und-auslaendische-WM-Fans/!5516825 | |
## AUTOREN | |
Johannes Kopp | |
## TAGS | |
Frauen-WM 2019 | |
WM-taz 2018: Neben dem Platz | |
Russland | |
Fußballweltmeisterschaft | |
Wladimir Putin | |
Viertelfinale WM 2018 | |
Fußball | |
WM-taz 2018: Neben dem Platz | |
Frauen-WM 2019 | |
Frauen-WM 2019 | |
Frauen-WM 2019 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Russische Tataren und WM-Fußball: Öl und Spiele | |
Kasan, Hauptstadt der Republik Tatarstan, ist multikulturell und setzt das | |
auch für Werbezwecke ein. Vieles in der Stadt ist arg gewollt. | |
Fußball-WM in Samara: Copacabana an der Wolga | |
Am Stadtstrand von Samara geht es mediterran zu. Die Welt ist in Ordnung. | |
Man freut sich über die WM-Gäste und die Offenheit der Stadt. | |
WM in Russlands Westen: Glitzerfassaden und Verfall | |
Kaliningrad ist in diesen Tagen eine Stadt der Gegensätze. In die Freude | |
über die vielen WM-Besucher mischt sich Angst vor der Zukunft. | |
Fußball-WM im Ural: Mythos Jekaterinburg | |
Die Millionenmetropole, deren berühmtester Sohn Boris Jelzin war, gilt als | |
aufmüpfig. Jetzt schleift der Kreml auch diese Bastion. |