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# taz.de -- FuckUp-Nights in Berlin: Schulden, Depressionen – klingt toll!
> Auf den FuckUp Nights erzählen Menschen, wie sie ihr Unternehmen in den
> Sand gesetzt haben. Heute findet die nächste Runde statt.
Bild: So cracy, so abgefucked ist Berlin.
Patrick Wagner war einmal eine richtig große Nummer im Berlin der 90er
Jahre. Er war Sänger der Band Surrogat und Mitbetreiber des Labels Kitty
Yo. Cooler als Kitty Yo ging nicht; die kleine Plattenfirma prägte Berlin
zu dieser Zeit wie kaum eine andere. Was auch das Verdienst von Wagner war,
der lieber eine Nummer zu groß dachte und nie müde wurde, allen davon zu
erzählen, wie wahnsinnig, gigantisch und historisch das sei, was er da tue.
Ein Journalist verlieh Wagner irgendwann den Ehrentitel „gaG“, was so viel
bedeutete wie: „größer als Gott“. Wagner übernahm den Namenszusatz gerne.
Dann zerstritt er sich mit seinem Partner beim Label und stieg aus, ohne
irgendwelche Anteile mitzunehmen. Seine Band löste sich ebenfalls auf.
Später gründete Wagner noch einmal eine Plattenfirma: Louisville – zu einer
Zeit, in der es mit der Plattenindustrie so richtig bergab ging, weil kein
Mittel gegen illegale Downloads gefunden wurde. Louisville ging ziemlich
schnell pleite. Das bedeutete für Wagner: Schulden ohne Ende, seine Ehe
ging in die Brüche und das Kürzel „gaG“ konnte er erst einmal auch nicht
weiter ernsthaft verwenden.
## Johlendes Publikum
Bei einer der ersten der sogenannten FuckUp Nights in Düsseldorf, bei denen
es darum geht, die eigene Geschichte des Scheiterns genussvoll vor
johlendem Publikum auszubreiten, erzählte Wagner von seinem Niedergang:
offen, ehrlich, charmant und immer eine kleine Spur zu laut, wie es seine
Art ist. Weil er dafür so viel Applaus bekam und die Idee ihn begeisterte,
hat er mit zwei Partnern die FuckUp Night nach Berlin geholt. Monatlich
findet diese nun an wechselnden Orten statt, am heutigen Donnerstag zum
sechsten Mal in Berlin, und, tja: Dieser Loser-Slam, der ursprünglich aus
Mexiko kommt, ist ein riesiger Erfolg.
Das Rainmaking Loft in Kreuzberg, eine der einschlägigen Adressen für die
Berliner Start-up-Szene, ist bei der fünften Ausgabe der Berliner FuckUp
Night dann auch gut gefüllt. Viele junge Leute sitzen mit ihrer Bierflasche
in der Hand und hören interessiert zu, wie Martina Leisten mutig und
detailliert davon erzählt, wie sie ihre Bar in Friedrichshain in den Sand
gesetzt hat. Am Ende blieben ihr 40.000 Euro Schulden, Depressionen und die
Gewissheit, als Pleitier in der gesellschaftlichen Hierarchie ganz unten
angekommen zu sein. So tief unten, dass sie wohl nicht mal mehr einen
Handyvertrag bekommen würde. Dieser Zustand, erfährt man, sei so ähnlich,
wie wenn man in den Knast weggesperrt würde.
„Wer von euch ist schon mal pleitegegangen?“, fragt Patrick Wagner, noch
leicht ergriffen von Martina Leistens Geschichte, aber auch mehr damit
beschäftigt, seine alten Rockstarqualitäten wieder hervorzukramen und
wenigstens ein kleines bisschen an seine „gaG“-Zeiten anzuknüpfen. „75
Prozent aller Selbstständigen sind schon einmal pleitegegangen“,
beantwortet er seine eigene Frage letztlich selbst. Und ist sichtlich
zufrieden. Genau da will er hin: Er will den Leuten klarmachen, dass
Scheitern nicht verwerflich ist, sondern normal. Nur wer fliegen will, kann
auch auf die Schnauze fallen.
So wie Wagner früher immer allen erzählte, dass die wahren Helden gar nicht
die Erfolgreichen, sondern die Gefallenen seien und dass die Bands seines
Labels und erst recht seine eigene einfach nur megagigantisch seien, so
bläut er nun, wie ein Prediger im Gospel-Gottesdienst, seinem Publikum ein,
dass die wahren Helden eben die Verlierer seien. Noch leben sie im
Schattenreich der Gesellschaft, aber die FuckUp Nights holen sie endlich
ans Licht. So wie ihn selbst, der jetzt sogar ein Buch über sein Scheitern
schreiben will.
## Eine Art Selbsttherapie
Diese FuckUp Nights sind zum Teil selbsttherapeutische Sitzungen vor
Publikum, vor allem aber Erziehungshilfen für die deutsche Mentalität, die
in Wirtschaftsdingen viel zu sehr auf Sicherheit bedacht sei und deswegen
den Boom der neuen digitalen Welt verschlafen würde. Patrick Wagner hat
immer ein paar Zahlen parat, um diese Wahrnehmung zu unterstreichen: In
Deutschland würde jährlich Risikokapital in Höhe von 26 Millionen US-Dollar
in die hiesige Start-up-Szene gepumpt, sagt er irgendwann, in den USA seien
es dagegen satte 27 Milliarden Dollar. 80 Prozent dieses Geldes gehe dabei
verloren, aber: Hey, fuck that! Mit dem Rest werden Facebook, Google und
deren potenzielle Nachfolger hochgezogen.
Säulenheilige der FuckUp Nights sind dann auch Leute wie Max Levchin. Der
hat erst ein, zwei, drei, vier Start-ups gegründet, die allesamt eher
schlecht als recht liefen. Dann gründete er Paypal. Und wurde Milliardär,
noch bevor er 30 Jahre alt war.
Maximilian Vogel, der nach Martina Leisten seine Geschichte des Scheiterns
erzählt, ist zwar noch kein deutscher Levchin, aber anders als bei seiner
Vorrednerin gibt es bei ihm ein Happy End. Ja, er ist im großen Stil
gescheitert, aber, und das betont er dauernd, „es war eine tolle Zeit“. Und
vor allem habe er heute wieder eine eigene Firma und die würde auch laufen.
Vogel zeigt mit seinem Vortrag, was so eine FuckUp Night letztlich auch
sein kann: ein riesengroßer Spaß. Vorausgesetzt, man kann so brillant und
kurzweilig die eigene Biografie vor Publikum ausbreiten wie er.
Gut gelaunt erzählt er davon, wie er damals Fördergelder verbrannt hat,
sich bei Start-up-Partys durch Buffets gefuttert und immer weiter daran
geglaubt hat, dass aus der eigenen Firma doch noch etwas würde. Sein
Lebensgefühl sei eine Mischung aus „Kindergeburtstag und Kinderkreuzzug“
gewesen, sagt er. Und als es dann endlich vorbei und er pleite war, sei das
so schlimm auch wieder nicht gewesen. „Tief in den Schmerz hineinatmen,
Hosen runterlassen, Unternehmen auflösen, weitermachen“ – das rät er,
gestählt durch die eigene Insolvenz, auch seinem Publikum.
Klingt wirklich gar nicht so schlimm, denkt sich da wohl mancher und macht
sich noch ein Bier auf.
## ■ FuckUp Night Nummer 6, heute Abend ab 19 Uhr in der Aperto AG,
Chausseestraße 5. Mehr Infos:
21 May 2015
## AUTOREN
Andreas Hartmann
## TAGS
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