Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Podcasterin übers Scheitern: „Wut und Mut hängen zusammen“
> Martina Leisten ging mit einem Café pleite. Sie schrieb ein Buch über
> ihren Misserfolg. Heute macht sie einen Podcast – und coacht andere.
Bild: Martina Leisten sagt, sie sei ein authentisches Role-Model – weil sie s…
wochentaz: Frau Leisten, Sie sind Autorin, Coach für
Persönlichkeitsentwicklung und Mutmacherin von Beruf, zumindest wenn man
den Titel Ihres Podcasts, „Mutig, Mutig!“, wörtlich nimmt. Wie definieren
Sie für sich Mut?
Martina Leisten: Für mich bedeutet Mut in erster Linie, einfach mal zu
machen, etwas neu oder anders zu machen. Das klingt leichter, als es
tatsächlich für viele ist. Mutig sein bedeutet manchmal, störende Gedanken
beiseitezuschieben: Das schaffe ich nicht! Was denken die anderen darüber?
– Da hilft es, bei sich zu bleiben und zu sagen: Wenn ich auf etwas Bock
habe, dann will ich das umsetzen.
Das geht so einfach?
Über die Risiken kann und muss man auch nachdenken, aber eben erst später.
Meinen Podcast zum Beispiel habe ich in diesem Frühjahr einfach ins Leben
gerufen, zu Hause in meinem Wohnzimmer mit einem Mikro, das gerade so
taugt, ohne Wahnsinnsequipment oder Erfahrung. Ich lade verschiedene
Gäste zum Gespräch ein oder spreche selbst über Themen, die helfen sollen,
meine Hörer:innen zu ermutigen. Dabei probiere ich mich selbst aus und
gebe mir den Raum, mich zu verbessern.
Waren Sie schon immer so zupackend?
Ich habe mich selber nie für mutig gehalten. Große Pläne hatte ich, aber
aus denen wurde nichts. Als Kind wollte ich Tierärztin werden, aber nach
dem Abi dachte ich: Ich war immer schlecht in Bio, lieber nicht! Ein Jahr
in den USA oder studieren in den Niederlanden, das wollte ich auch, aber
die Umsetzung hat mich überfordert. Eher im Kleinen habe ich mich
Herausforderungen gestellt, ich war als 14-Jährige deutsche Meisterin im
Kugelstoßen. Dass ich mutig bin, habe ich erst durch mein Scheitern
gelernt. Darüber zu reden und dadurch andere zu ermutigen, das war für mich
eine Sache, die ich als mutig bezeichnen würde.
In Ihrem Buch „Voll verkackt!“ schildern Sie, wie Sie gleich zwei Mal mit
einem Café gescheitert sind. Wie kam das?
Nach dem Studium bin ich nach Berlin gezogen. Da ich leidenschaftlich gerne
gebacken habe und sich die Gelegenheit bot, habe ich mit wenig Geld und
großen Hoffnungen ein Café am Boxhagener Platz eröffnet. Das ging
gründlich in die Hosen. Nach einem Jahr musste ich Frollein Palisander
schließen und hatte 40.000 Euro Schulden.
Was ging schief, kam keiner?
Es kamen zu wenige. Vor allem aber hatte ich zu wenig Rücklagen. Obwohl ich
schon ein bisschen Gastronomieerfahrung hatte, habe ich völlig
unterschätzt, wie lange es dauert, einen Laden von null aufzubauen. Es
hätte mir eine Warnung sein müssen, dass sich in diesem Objekt keiner
halten konnte. Da ging jedes Jahr ein anderer pleite. Aber ich dachte, ich
mach das schon, ich habe schließlich einen Businessplan und kann mit Zahlen
umgehen. Nach und nach kam die Ernüchterung, aber ich war weiter
optimistisch: Na ja, machst du halt einen Mindestumsatz und kommst bei null
raus.
Aber das hat nicht hingehauen …
Selbst dafür hat es nicht gereicht. Ich verschuldete mich, um den Betrieb
aufrechterhalten zu können. Ich stand in diesem leeren Laden wie ein Tiger
im Käfig, und im Kopf tickte die Schuldenuhr. Nichts tun zu können, war das
Schlimmste. Als nach einem Jahr endlich ein bisschen Stammpublikum da war,
ging mir die Luft aus.
Das heißt?
Ich konnte die Kreditraten nicht mehr zahlen, der Gerichtsvollzieher stand
vor der Tür. Ich musste Privatinsolvenz beantragen, meine Konten wurden
gepfändet, das volle Programm. 1.073 Euro zum Leben durfte ich behalten;
wenn ich irgendetwas buchen oder mieten wollte, mussten meine Eltern für
mich bürgen. Das Gefühl, auf ganzer Linie versagt zu haben, machte mich
krank. Ich verkroch mich zu Hause, entwickelte eine Depression.
Trotzdem traten Sie in der TV-Show „Das große Backen“ an mit einer
Mopstorte in 3-D.
Das Preisgeld hätte ich zur Entschuldung gebrauchen können. Aber es kam
anders. Bei der Probe zu Hause sah die Torte super aus mit in Ahornsirup
getränkten Bananenböden, Karamellfrosting und dunkler Schokolade – ein
Hingucker. Aber im Studio war ich so nervös und unter Zeitdruck, dass ich
ein verformtes Monster gebacken habe und vor laufender Kamera in Tränen
ausgebrochen bin. Ein Desaster! Dann machte sich auch noch Stefan Raab in
seiner Sendung über mich lustig, was ich zum Glück aber erst verspätet
mitbekommen habe. Fürs Selbstbewusstsein war das alles nicht förderlich.
Und doch taten Sie es wieder – Sie machten sich nach Ihrer Entschuldung
noch einmal mit einem Café selbstständig. Ist das noch Mut oder schon
Sturheit?
Ich jobbte damals in diesem Minicafé, das war nur so 18 Quadratmeter groß.
Die Inhaberin fragte mich, ob ich es nicht übernehmen wolle. Da dachte ich:
Okay, ich probiere es nochmal. Es gab praktisch kein Risiko, ich war nur
Pächterin. Es ging auch nicht pleite wie das erste Café, aber ich merkte,
dass es wenig abwirft und wenig Steigerungspotenzial hat. Da habe ich es
bleiben lassen. Für mein Selbstwertgefühl war es gut, dass ich ohne
Schulden und freiwillig den Schauplatz verlassen habe. Die Erkenntnis war,
dass das Scheitern mir nicht für immer anklebt oder mich zu einem
schlechten Menschen macht. Leider wird das aber oft so betrachtet, wenn
jemand pleitegeht, gerade in Deutschland.
Für eine bessere Fehlerkultur wirbt das Bühnenformat der „[1][Fuckup
Nights“]. Auf diesen Veranstaltungen, die in vielen Großstädten weltweit
stattfinden, erzählen Menschen vor Publikum von ihrem Scheitern. Auch Sie
sind dort aufgetreten, in Leipzig.
Es war eine spontane Idee. Freunde erzählten mir von den „Fuckup Nights“,
und ich dachte: Scheitern, dazu kann ich auch was sagen! Ein bisschen Angst
hatte ich zwar, dass man mich auslacht oder beschimpft. Aber im Saal waren
dann hundert Leute, die mir zuhörten, es gab viel Applaus und Zuspruch. Es
hat gutgetan zu wissen: Ich bin nicht allein, auch andere machen Fehler.
Von den anderen zu hören, welche Träume und Projekte sie in den Sand
gesetzt haben, hat mir auch geholfen, meine eigene Pleite besser
einzuordnen.
Inwiefern?
Ich stand mit Leuten auf der Bühne, die ganz locker davon erzählten, wie
sie mit ihrem Start-up drei Millionen in den Sand gesetzt hatten. Dann fand
sich ein neuer Investor, alles prima. Die haben Leute entlassen – und ich
fühle mich schlecht wegen 40.000 Euro! Was mir auch gesagt wurde: Nicht
meine Idee war schlecht, ich hatte einfach zu wenig Eigenkapital. Hätte ich
reiche Eltern oder einen vermögenden Partner gehabt, die im ersten Jahr
meine Cafémiete übernommen hätten, hätte ich das Jahr überlebt. Da konnte
ich zum ersten Mal so was wie Wut zulassen.
Wut auf die Verhältnisse?
Ach nee, ich hätte keine verbitterte AfD-Wählerin werden können, die dem
Staat oder den Flüchtlingen die Schuld gibt, dass es bei ihr nicht läuft.
Es liegt mir fern, die Schuld bei anderen zu suchen. Trotzdem hängen Wut
und Mut für mich sehr eng zusammen. Denn erst aus einer gewissen Aggression
oder Grundunzufriedenheit heraus entsteht der Wunsch, etwas zu verändern.
In Ihrem Podcast haben Sie den Satz formuliert: „Du bist wütender, als du
denkst.“ Mögen Sie Aggression?
Nicht dass es Missverständnisse gibt: Ich meine nicht körperliche Gewalt
oder zerstörerisches Verhalten anderen gegenüber. Diese Art von Aggression
ist zu Recht negativ besetzt. Die Wut, die ich meine, ist ein Motor. Ich
möchte nicht weiter insolvent sein, wie komme ich da raus? Oder: Ich bin in
einer Beziehung unzufrieden, wie kann ich mich besser abgrenzen oder
durchsetzen? Daran arbeite ich mit meinen Kund:innen. Besonders Frauen
haben oft damit zu kämpfen, diese aggressive Seite als etwas Konstruktives
anzunehmen. Anpassungsfähigkeit dagegen wird meiner Meinung nach
überbewertet. Viele finden es toll, mit ihrem Chef gut klarzukommen. Aber
manchmal verleugnen sie dabei ihre eigenen Bedürfnisse. Das kann es nicht
sein!
Sie haben ein Buch über Ihr Scheitern geschrieben und eine Ausbildung zum
Coach gemacht. Seither beraten Sie Menschen in beruflichen Krisen. Was
qualifiziert ausgerechnet Sie dazu, anderen zum Erfolg zu verhelfen?
Nachdem „Voll verkackt!“ erschienen war, wurde ich viel um Rat gefragt,
aber ich konnte den nur auf menschlicher Ebene geben, für ein echtes
Coaching fehlte mir das Handwerkszeug. Also habe ich die Ausbildung
gemacht. Aber ich bin keine Erfolgsmanagerin: Buchen Sie mein Seminar, und
dann machen Sie Karriere und werden reich! Dafür wäre ich ja auch wohl die
Falsche.
Sondern?
Ich sehe mich eher wie ein Streetworker, der früher selber auf der Straße
gelebt hat. Als eine, die immer auf der Suche war und sich öfter mal
verirrt hat auf dem Weg, bin ich ein authentisches Role-Model. Ich weiß,
wovon ich rede. So vieles wollte ich werden, Tierärztin, Konditorin,
Fotografin. Jetzt bin ich Autorin und Coach. Hätte ich früher auch nicht
gedacht. Träume und Ziele können sich verändern. Es ist nicht wichtig, dass
es immer gradlinig zugeht, es sollte nur passen.
In Ihrem Podcast sprechen Sie mit Menschen, die etwas verändern wollen oder
verändert haben. Unzufriedenheit ist ein großes Thema.
Ja, die Menschen, die zu mir kommen, verspüren einen Leidensdruck, die
haben [2][Burn-out], sind deprimiert. Da geht es nicht um berufliche
Erfolgsgeschichten, das große eigene Business, die nächsten Schritte auf
der Karriereleiter. Diese Coachingnische bedienen andere. Mir geht es
zunächst um realistische Ziele. Wie finde ich heraus, was mir am meisten
liegt? Wie kann ich das erreichen? Denen, die im Arbeitsverhältnis sind,
geht es oft nicht mal um einen Jobwechsel, sondern darum, sich besser
abzugrenzen, Nein sagen zu lernen, sich nicht die Arbeit von anderen
aufzuhalsen, um sich Bestätigung zu holen. Aber natürlich kann so ein
Prozess auch zu großen Veränderungen führen.
Zum Beispiel?
Eine Frau, mit der ich in meinem Podcast gesprochen habe, hat sich von Job,
Partner und den meisten Freunden getrennt und lebt jetzt mit ihrem Hund
alleine am Meer. Jetzt geht es ihr besser als zuvor, aber sie hat auch noch
einen Weg vor sich.
Das klingt ehrlich gesagt wie ein Coachingklischee: Lebe deinen Traum! Geht
’s auch eine Nummer kleiner?
Absolut, es sind oft die kleineren Dinge und nur selten die großen. Meine
Aufgabe ist es, Menschen zu stärken. Viele wissen oft gar nicht, was sie
spüren oder was sie wollen, weil sie gelernt haben, sich zu verbiegen.
Einer meiner Glaubenssätze ist: Nicht das Leben für andere leben.
Wie meinen Sie das?
Oft sind es Frauen, die Dinge sagen wie: Mein Mann will, dass ich in einer
Firma arbeite, ich selber wäre aber gerne Künstlerin. Klar kann es eine
Zeit lang oberste Priorität sein, dass eine Familienkonstellation
funktioniert, vor allem finanziell. Aber vielleicht gibt es Spielräume. Die
versuche ich zusammen mit den Klientinnen zu finden: Kann sie nicht
gleichzeitig trotzdem Künstlerin sein? Vor drei Wochen war ich auf der
Vernissage einer Klientin. Sie hat seit Jahren gemalt, sich aber nie
getraut, ihre Arbeiten zu zeigen. Dann hat sie sich überwunden, und es war
schön! Für solche Momente mache ich das. Ich unterstütze Menschen darin,
ihr Leben zu leben, wie sie es wollen.
Ist es schwerer geworden, sich nicht zu verlieren? Auf [3][Social Media]
sind alle immer schön, erfolgreich und haben eine gute Zeit, nur ich nicht
…
Absolut! Die dopamingesteuerte Gier nach Anerkennung von außen führt dazu,
dass man sich die Anerkennung selbst nicht gut geben kann ud in einen
Selbstoptimierungswahn rutscht. Wenn ich für einen Post nur drei Likes
kriege und irgendein Influencer 10.000, dann sagt das gar nichts über
meinen Wert aus, aber es wird so empfunden. Ich will dazu anregen zu
unterscheiden: Wo mache ich mir Druck, wo reagiere ich auf Druck von außen?
Wenn der Chef sagt: Mach eine Stunde länger, und wenn mich das belastet,
aber ich denke, ich darf nicht Nein sagen – was steckt dahinter? Es ist der
Wunsch, es allen recht zu machen, Konflikte zu vermeiden. Wir können
Druck und Stress nicht vermeiden, aber wir können besser damit umgehen
und uns nicht allem aussetzen.
Sie sitzen in einem mit Bildern behangenen hellen Raum mit einer alten
Küchenanrichte. Hinter Ihnen lächelt eine Buddhastatue, an der Wand ein
Widderkopf, zu Ihren Füßen schläft ein Mops im Körbchen. Ist das Ihre
Praxis?
Nee, das ist meine neue Wohnung! Mein Partner und ich sind hier kürzlich
eingezogen. Was Sie hinter mir sehen, ist der Retrostyle, den ich mag: eine
Mischung aus Flohmarktmöbeln und Kram, die Farbharmonien müssen passen, das
ist mein persönlicher Tick. Ich ordne sogar die Teller und Schüsseln im
Schrank nach Farbe! Vor diesem Bildschirmhintergrund halte ich meine
Onlinecoachings ab, hier nehme ich auch meinen Podcast auf. Ansonsten
arbeite ich nicht in der Wohnung, ich halte das getrennt. Meine
Präsenzkurse finden in den Büroräumen meiner Auftraggeber statt. Ich gebe
vor allem Jobcoachings für das Arbeitsamt. Das zahlt der Staat, ich bin
dankbar, dass es das gibt für Menschen, die kein Geld haben, sich ein
Privatcoaching zu leisten.
Kommen die Leute freiwillig zu Ihnen?
Die Freiwilligkeit kläre ich immer als Erstes ab, die ist mir wichtig. Die
Leute kriegen teilweise 40 bis 80 Stunden bezahlt, das ist mehr als eine
Langzeittherapie. Ich begleite eine Person einzeln über drei, vier Monate.
Manchmal gehen wir raus in die Natur mit Molly Mops, ich nenne das „Walk
and Talk“. Von Molly kann man lernen, was Langsamkeit ist. Mit ihr braucht
man schon mal eine halbe Stunde für 50 Meter! Vor allem aber sprechen wir.
Ich wende keine fancy Spezialtricks an, meine Methode ist das Gespräch. 30
bis 40 Leute habe ich dieses Jahr begleitet.
Sie haben über sich gesagt, Ihr Traum sei ein Leben mit Mann und Mops in
einem Haus am Meer. Fehlt nur noch das Haus, oder?
In meinem Fall wäre es wohl eher eine Plattenbaumietwohnung. Aber auch das
dauert noch. Ich bin aus der Insolvenz raus, kann aber gerade froh sein,
mal was für die Altersvorsorge beiseitelegen zu können. Wenn bis dahin die
Niederlande noch nicht unter Wasser sind, dann möchte ich eines Tages dort
an der Küste leben. Da bin ich als Kind schon oft hingefahren, das ist
meine allerliebste Gegend.
7 Jan 2024
## LINKS
[1] /FuckUp-Nights-in-Berlin/!5200640
[2] /Frauenpolitik-und-Personalmangel/!5973679
[3] /Soziale-Netzwerke/!t5011103
## AUTOREN
Nina Apin
## TAGS
wochentaz
Scheitern
Erfolg
Coach
Café
Scheitern
Sozialer Abstieg
Berlin
## ARTIKEL ZUM THEMA
Berliner Erfolgsevent: Scheitern könnte so schön sein
Die Berliner Fuckup Night ist auf Tournee und findet erstmals ohne
Zuschauer und nur im Livestream statt. Sie ist kein Loser-Slam mehr.
Kolumne Einfach gesagt: Tief im Schlamassel
Das Scheitern wird gern als Chance verkauft. Aber Scheitern ist keine
Chance, scheitern ist anstrengend und nichts für jeden.
FuckUp-Nights in Berlin: Schulden, Depressionen – klingt toll!
Auf den FuckUp Nights erzählen Menschen, wie sie ihr Unternehmen in den
Sand gesetzt haben. Heute findet die nächste Runde statt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.