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# taz.de -- Frankfurter Uni-Hochhaus wird gesprengt: Die Dialektik des Turms
> Am Sonntag wird der Frankfurter Uni-Turm nach 41 Jahren gesprengt. Er ist
> ein hässlicher Riese. Aber auch ein Symbol, dem viele bereits
> nachtrauern.
Bild: Höhere Bildung: 116 Meter ragt der Turm in den Himmel. Ab Sonntag nicht …
FRANKFURT/MAIN taz | Betonbrocken werden zu Boden prasseln, Stahlsplitter
die Luft zerschneiden. Der Koloss wird in sich zusammensinken, zerfetzt von
950 Kilogramm Sprengstoff, er wird zu Boden gleiten auf dem Weg in die
Geschichte. Eine Staubwolke verbirgt kurz, was übrig bleibt vom Turm.
50.000 Tonnen Schutt. Es wird das Ende eines Symbols sein. Das Ende des
AfE-Turms auf dem alten Frankfurter Uni-Campus Bockenheim.
116 Meter hoch wird der Turm gewesen sein, der 41 Jahre lang die
Fachbereiche Gesellschaftswissenschaften, Erziehungswissenschaften und
Psychologie an der Goethe-Universität beheimatete. „AfE“ – der Name steht
für etwas, das es schon nicht mehr gab, als der Turm fertig war: die
„Abteilung für Erziehungswissenschaften“.
Bei Generationen von Studierenden galt der Turm als hässlich und
dysfunktional. Ein mausgraues Monster, wie die Kulisse für ein
postapokalyptisches Drama. Und doch wird um ihn getrauert. Denn am Sonntag
um 10 Uhr fällt nicht einfach ein Turm. Die Sprengung bedeutet auch das
Ende einer Zeitenwende, jedenfalls an der Frankfurter Uni. Mit dem Trumm
verschwindet das Wahrzeichen einer bereits vergangenen Ära.
1972 war der AfE-Turm gegenüber dem berühmten Institut für Sozialforschung
bezugsfertig, in räumlicher wie ideeller Spucknähe zur Frankfurter Schule.
Obwohl deren bekanntester Vertreter, der Kritiker Theodor W. Adorno, schon
drei Jahre tot war, war die Kritische Theorie en vogue. Dass ausgerechnet
Soziologen, Pädagogen und Politologen das damals höchste Gebäude der Stadt
bezogen, hatte Symbolcharakter. Es unterstrich den Einfluss, den die
kritischen Wissenschaften zu dieser Zeit hatten. Und den sie in ihrem
„Elfenbeinturm“ bis zuletzt konservierten.
## „Wer das Kapital liest, hat keins“
Zwischen Trägern aus Stahlbeton, ewig provisorischen Kunststoffwänden,
neongefluteten Fluren, zwischen Zigarettenqualm, Sperrmüllsofas und
muffigem Teppichboden wurde die Frankfurter Schule durch ihre zweite und
dritte Generation weitergeführt. Aber kritische Theorie stand nicht nur auf
dem Lehrplan, sondern auch an den Wänden, stille Zeugen kontroverser
Auseinandersetzungen: „Lest mehr Marx“ stand dort geschrieben. „Wer das
Kapital liest, hat keins“ direkt daneben. Und für alle galt: „Still not
lovin’ Hausmeisterism!“
Das Hochhaus war manifestierte Dialektik. Die unzähligen Farbschichten
verbargen Weisheiten und Graffitis – und ließen die überfüllten Fahrstühle
über die Jahre in ihrem Volumen schrumpfen. Keine Wand blieb lange weiß,
mit jedem neuen Anstrich brach der dialektische Kampf um Raumaneignung und
Paradigmen aufs Neue aus.
Das Foyer, das auch einer Art Gartenlaube für die Hausmeister Platz bot,
war mit seinen hohen Decken einer der wenigen Räume, in denen man kein
beklemmendes Gefühl bekam. In den Seminarräumen musste man sich den
Quadratmeter häufig mit mehr als drei Personen teilen. Auf junge Studenten
konnte der Turm einschüchternd wirken mit all seiner Wucht von
Meinungsstärke und Freiheit.
Es ist ein Gegenentwurf zu den glasverkleideten Bankenhochhäusern
Frankfurts – das im Stil des Brutalismus erbaute Ungetüm aus Stahlbeton.
Der rohe, schnörkellose Beton – der „béton brut“ – steht für eine Ä…
der Askese, für Sein statt Schein. Und doch war der Blick aus diesem
schmucklosen Bau erhaben, bis zum Taunus reichte er, das bürgerliche
Frankfurter Westend lag dem Betrachter zu Füßen.
## Das am häufigsten besetzte Uni-Gebäude Deutschlands
Für alle, die dem Turm seinen besonderen Geist einhauchten, zählte der
Inhalt. Kritische Seminare und autonome Tutorien, Graffitis, das
selbstverwaltete Turm-Café. Hier wurden Proteste geplant – oder gleich der
ganze Turm besetzt, der sich für diesen Akt studentischen Widerstands
besonders gut eignete. Die Anleitung zur Besetzung war simpel und effektiv:
„Die Aufzüge nach oben fahren lassen, die Türen mit Tischen blockieren und
dann die Treppenhäuser in den ersten zwei, drei Stockwerken mit Stühlen
auffüllen.“ Angeblich ist der Turm das am häufigsten besetzte Uni-Gebäude
Deutschlands.
Zur besonderen Geschichte des AfE-Turms gehört auch, dass die im
Brutalismus angestrebte Funktionalität nie erreicht wurde. Aufgrund
baulicher Mängel und des allmählichen Verfalls funktionierte vieles nicht:
Im Winter war es zu kalt, im Sommer zu heiß, der Brandschutz war
ungenügend. Obwohl man die Fenster nicht öffnen konnte, zog der Wind mit
einem Furcht einflößenden Pfeifen durch den Turm, besonders in den Fluren
der oberen Stockwerke.
Häufig fielen die Fahrstühle aus, und man musste Dutzende Stockwerke zu Fuß
zurücklegen. Beliebt waren dann die Nottreppen, die an Feuerleitern
erinnerten: In einem schmalen Treppenhaus führten sie von ganz unten bis in
den 37. Stock. In den letzten Jahren wurde ein Aufzug komplett stillgelegt,
um als Ersatzteillager für die anderen zu dienen.
Vor knapp einem Jahr wurde der Turm geschlossen und verriegelt, das Foyer
ist mit Bauzäunen und Natodraht gesichert – aus Angst vor Besetzungen.
Dort, wo bis Sonntagmorgen der graue Riese in den Himmel ragt, sollen nun
neue Türme gebaut werden. Die Hochhäuser sollen Teil eines „Kulturcampus“
werden, einer Mischung aus Hotels, Wohnen, Arbeiten und Kultur. So wünscht
sich das die städtische Wohnungsbaugesellschaft ABG, die das Gelände in
Bockenheim 2011 erworben hat.
## Prestigebauten für 500 Millionen Euro
Das studentische Leben spielt sich indes längst auf dem neuem Campus
Westend ab, der rund um das geschichtsträchtige I.G.-Farben-Haus errichtet
wurde. Das in den 1920er Jahren vom Meisterarchitekten Hans Poelzig
entworfene Gebäude war der Sitz des größten Chemiekonzerns der Welt, der
später von den Nationalsozialisten vereinnahmt wurde.
Heute steht dort ein Campus, der wie das Gegenteil des Turms anmutet:
teurer Naturkalkstein statt roher Beton, monumentale Prestigebauten statt
asketischer Architektur. 500 Millionen Euro hat das gekostet. „Ein echter
Qualitätsgewinn“, befindet der Sprecher der Universität stolz. Deren
ehemaliger Präsident hält den neuen Campus für den „schönsten des
Kontinents“. Alles scheint reibungslos zu funktionieren.
Doch genau daran stören sich Turm-Nostalgiker. Anfang letzten Jahres sind
10.000 Studierende und 1.000 Uni-Mitarbeiter aus dem alten Hochhaus auf das
neue Gelände umgezogen. Und gleich gab es Ärger: Parolen jeglicher Art
gehören dort nicht an die Wände – und werden unter Hochdruck entfernt.
Nicht nur Graffitis sucht man im Westend vergeblich. Studierende beklagen
das Fehlen selbstverwalteter Räume. Auch das Biotop aus fliegenden
Buchhändlern, Obdachlosen und Kneipen, das rund um das Bockenheimer
Unigelände entstanden war, wird im Westend wohl kein Zuhause finden.
Für die einen ist all dies das kapitalistische Übel. Für die anderen: ein
Segen. Für alle Beteiligten jedenfalls bedeutet es eine Veränderung – und
zwar in mehrfacher Hinsicht. Denn die Transformation an der Frankfurter Uni
ist total.
## Kaum noch Zeit für Protest
Mit der Jahrtausendwende wurde im Zuge der Bologna-Reform an europäischen
Hochschulen sukzessive das Bachelor- und Mastersystem eingeführt. Das Ziel:
ein schnelleres und effizientes Studium. Wie ein gallisches Dorf, das der
Übermacht aus Bologna trotzt, feierten die Gesellschaftswissenschaften im
Turm noch vor wenigen Jahren das 50-jährige Jubiläum der alten
Diplomstudiengänge. Inzwischen sind auch sie auf dem neuen Campus
angekommen – und im neuen System, in dem kaum noch Zeit bleibt für Protest.
Im Schatten dieser Veränderungen hat sich die Frankfurter
Goethe-Universität vor sechs Jahren außerdem die Rechtsform einer
Stiftungsuniversität gegeben. Dies vergrößerte ihre Autonomie – auch in
finanziellen Fragen – und bescherte der Hochschule zusätzliches Geld,
gestiftete Lehrstühle und eine nie dagewesene Nähe zur Frankfurter
Finanzindustrie. Es gibt jetzt einen „Deutsche Bank Hörsaal“. Im
videoüberwachten „House of Finance“. Es ist so sehr die Antithese von dem,
was der Turm war. Es ist, als hätte es den Turm nie gegeben.
Es gibt polierte Hörsäle. Es gibt eine Forschung, die exzellent genannt
wird. Moderne Arbeitsplätze. Doch es fehlen Möglichkeiten zur
Selbstgestaltung, es fehlen Räume, es fehlt Zeit. „ ’Die Universität ist
einer der letzten Orte in dieser Gesellschaft, an denen diese Freiheit
eingeübt werden kann!‘ Horkheimer“ – das hatte jemand auf eine der
Betonmauern des Turms gekritzelt.
Ein Teil dieser Freiheit wird am Sonntagmorgen in Frankfurt gesprengt.
1 Feb 2014
## AUTOREN
Timo Reuter
Michael Englert
## TAGS
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