| # taz.de -- Fotografie-Ausstellung in Hannover: Ich bin, was du willst | |
| > Andrzej Steinbach porträtierte zwei junge Frauen im neutralen Raum. Das | |
| > Sprengel Museum zeigt seine 186-teilige fotografische Serie. | |
| Bild: Andrzej Steinbach, „Ohne Titel“, aus Figur I, Figur II, 2013/2014, 18… | |
| Gloria Gaynor sang 1983: „I am what I am.” Ursprünglich wurden Text und | |
| Musik für das Musical ein „Käfig voller Narren” vom Komponisten Jerry | |
| Herman geschrieben. Hermans Song war ein Bekenntnis: Schwule, Lesben und | |
| Transsexuelle sollten sich trotz aller gesellschaftlicher Repressionen zu | |
| ihrer sozialen Identität bekennen. | |
| Gut 30 Jahre später nutzte ein großer Sportartikelhersteller den Songtitel | |
| als Slogan für eine Werbekampagne. Jetzt durften Stars aus Sport, Musik | |
| oder Film stolz verkünden, warum sie so sind, wie sie sind. Der Titel | |
| mutierte zur Phrase. Die Werbeversion verwandelte die soziopolitische | |
| Dimension des Songs in eine egozentrische Botschaft: „Ich bin, was ich bin“ | |
| bedeutete nun nichts anderes, als dass die Subjekte vereinzelt sind und sie | |
| ausschließlich ihre eigenen Ziele verfolgen. | |
| Die unwirtlichen sozialen, psychologischen oder ökonomischen Härten der | |
| Identitätsfindung wurden durch eine Erfolgsgeschichte ersetzt. | |
| Unvollendete, gebrochene oder gar kollektive Biografien waren von dieser | |
| Botschaft ausgenommen. | |
| ## Der Begriff des Porträts | |
| Für seine 186-teilige fotografische Bildserie [1][porträtierte Andrzej | |
| Steinbach] (geb. 1983) zwei junge Frauen in einem neutralen Raum aus | |
| wechselnden Perspektiven. Aber schon der Begriff Porträt verzerrt die | |
| Vorstellung von der umfangreichen Arbeit in großformatigen | |
| Schwarz-Weiß-Bildern. Denn eine psychologische Interpretation von Person | |
| und Situation erscheint nahezu unmöglich. Zu konstruiert und zu distanziert | |
| erscheint das Setting, um als Betrachter mit herkömmlichen Mustern der | |
| Lesart von Fotografien weiterzukommen. Daher ist auch der nüchterne Titel | |
| „Figur I, Figur II” die beste Beschreibung der Anordnung. | |
| Steinbach umkreist seine Modelle mit der Kamera. Die erste Figur wechselt | |
| innerhalb der Serie häufig die Kleidung und die Position. Die junge Frau | |
| erscheint androgyn, ist sie doch sehr schlank und hat sich den Schädel | |
| komplett rasiert. Auch der Gesichtsausdruck wirkt neutral. Die Kleidung | |
| besteht aus verschiedenen Variationen von aktueller Streetwear wie | |
| Collegejacke, Hoody, Cargo-Hose oder Basecap. Steinbachs Bilder lassen sich | |
| nicht eindeutig zuordnen: folgt er mit seiner Arbeit einer analytischen | |
| Typologie der urbanen Mode oder sind die Bilder für ein Modeshooting | |
| entstanden, bei dem die vermeintlich künstlerische Ästhetik ganz | |
| selbstverständlich angewendet wurde? | |
| Steinbach hält seine Bilder bewusst indifferent, um die wechselnden | |
| Bedeutungen von Stilen, Moden oder Typen sowohl auf der Ebene persönlicher | |
| Identifikation wie auch der Bedeutung von Bildern deutlich zu machen. Die | |
| Arbeit wirft Fragen auf zum Verhältnis von Gesellschaft und individueller | |
| Identität, von Mode und Mimesis, von Subkultur und Mainstream und verweist | |
| auf Formen der Selbstinszenierung aller Individuen, die sich in einer | |
| westlichen Industriegesellschaft definieren müssen. | |
| „I am what I am“ war wohl immer eine fragwürdige Aussage, die im Kontext | |
| des alten Diktums vom Arthur Rimbaud (“Ich ist ein anderer”) und der | |
| neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaft und einer dezidierten | |
| Kapitalismuskritik fast albern erscheint. Dennoch: Auch eine komplexe | |
| Theorie zum Subjekt befreit niemanden von der Fragestellung: „Wer bin ich?” | |
| Ein wesentlicher Impuls der Subkultur begründete sich in einem massiven | |
| Widerspruch gegenüber der Logik des Elternhauses, der Schule und sonstiger | |
| Institutionen, die Konformität einforderten. | |
| ## Eindeutige Uneindeutigkeit | |
| In Steinbachs Arbeit ist schlecht mit diesem Begriff zu hantieren. Ist die | |
| junge Frau ein Skinhead- oder Rudegirl? Nutzt sie ihre androgyne | |
| Erscheinung als Mittel der Provokation, um erstarrte Geschlechterrollen zu | |
| demaskieren, oder geht es um rassistische Stereotype, wenn das zweite, | |
| dunkelhäutige Model explizit die Posen der hellhäutigen und kahl rasierten | |
| Figur aufnimmt und weiterführt? Wir sehen in der zweiten Bildfolge, wie | |
| sich diese weitere Figur zu vermummen beginnt: mit einem Halstuch, einer | |
| Sturmhaube oder mit einem T-Shirt. Aus Streetwear wird Radical Chic und aus | |
| Mode ein Outfit für den Straßenkampf, denn die Verhüllung des Gesichts | |
| würde gegen das Vermummungsverbot bei Demonstrationen verstoßen. | |
| Steinbachs Arbeit lässt sich am besten mit eindeutiger Uneindeutigkeit | |
| beschreiben. Die klare Bildsprache verspricht Nähe und Authentizität, | |
| hinterlässt aber eher ein Gefühl von Distanz und Irritation. Damit | |
| thematisiert er auch bewusst die Grenzen und Sehnsüchte, die nach wie vor | |
| an die Fotografie als Medium der Information, der Exotik, der Erotik, des | |
| Schocks oder der kommerziellen Faszination herangetragen werden. Die | |
| neueste Mode und die aktuelle Kritik an Formen mimetischer Identifikation | |
| werden von ihm in einer geradezu klassischen Anordnung zwischen weiblichem | |
| Model und männlichem Fotografen konterkariert. | |
| Damit bleibt das Ganze in einem produktiven Sinne in der Schwebe. Form und | |
| Inhalt sind variabel, dennoch bleiben bestimmte Aussagen sinnvoller als | |
| andere. Gleichzeitig erscheinen die Genauigkeit des Fotografen, das | |
| Selbstbewusstsein der Modelle und die Vielschichtigkeit der Aussage fast | |
| als Utopie. | |
| 7 Jul 2015 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.andrzejsteinbach.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Maik Schlüter | |
| ## TAGS | |
| Fotografie | |
| Berlinische Galerie | |
| Hannover | |
| Ausstellung | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Heidi Specker in der Berlinischen Galerie: Intelligenz und Intuition | |
| Mit „In Front Of“ setzt sich Heidi Specker erstmals mit dem Menschen und | |
| seinem Bild auseinander. Ihre 70-teilige Porträtarbeit überzeugt. | |
| Ausstellung in Hannover: Einfach mal innehalten | |
| Was tun wir, wenn wir nichts tun? Und warum tun wir das so selten? Gekonnt | |
| widmet sich eine Ausstellung in Hannover dem Nichtstun und dem Faulenzen. | |
| In der Tradition der tschechischen Avantgarde: Die düstere Schönheit Ostravas | |
| Das Hannoversche Sprengel-Museum zeigt mit dem dokumentarischen | |
| Surrealisten Viktor Kolář einen hierzulande völlig zu Unrecht unbekannten | |
| Fotografen. |