# taz.de -- Fehlendes Talent beim DFB-Team: Die Reform der Reform, bitte! | |
> Bundestrainer Joachim Löw beklagt seit Langem strukturelle Mängel in der | |
> Nachwuchsarbeit. Jetzt ist er auch Opfer dieser Misere. | |
Bild: Deutscher Ausnahmespieler: Dortmunds Moukoko wird mit großen Erwartungen… | |
Ginter! Warum lässt Jogi Löw Ginter als Außenverteidiger spielen? Diese | |
Frage wurde nach dem 0:6-Debakel gegen Spanien wiederholt gestellt. Ginter | |
war dort auch schon beim 3:1-Sieg über die Ukraine zu finden, ohne dass | |
dies problematisiert wurde. | |
Warum Matthias Ginter, der in Gladbach als Innenverteidiger brilliert, in | |
der DFB-Elf nach außen rücken musste, ist einfach zu erklären. Die | |
etatmäßigen Außenverteidiger Lukas Klostermann und Marcel Halstenberg | |
fielen aus. Die Alternative Joshua Kimmich ebenso. Wobei Kimmich ein | |
gelernter Mittelfeldspieler ist. Wie auch Emre Can, der ebenfalls nicht | |
verfügbar war. Blieb noch Nico Schulz, der in aktuellen Bundesligasaison | |
bei seinem Verein bislang nur einen Einsatz verbuchen kann. | |
Von den hier aufgeführten Spielern besitzt aktuell nur Kimmich | |
internationale Klasse – als „Sechser“, nicht als Außenverteidiger. Das | |
Arsenal an für den Bundestrainer verfügbaren Außenverteidigern ist | |
bescheiden. Bei den Topklubs der Liga spielen auf dieser Position in der | |
Regel Ausländer – bei den Bayern Davies, Pavard, Hernandez, beim BVB | |
Meunier, Morey, Guerreiro, Pisczek. | |
Das Problem ist nicht neu. Bei der WM 2014 besaß Bundestrainer Löw nur | |
Philipp Lahm als Außenverteidiger von internationaler Klasse. Auf der | |
linken Seite verteidigte mit Benedikt Höwedes ein gelernter | |
Innenverteidiger. Bei der EM 2016 spielte die DFB-Elf mit Kimmich und Jonas | |
Hector auf der Außenposition. Auch Hector war kein gelernter | |
Außenverteidiger. Wenn der Gegner tief und eng stand und die Deutschen das | |
Spiel verlagerten, waren die Außenverteidiger die Zielspieler. Die | |
ausgebildeten „Sechser“ Kimmich und Hector waren keine Dribbler. Damit | |
entfiel schon mal die Option des offensiven Eins-gegen-eins. | |
## Mangel an Außenspielern und Dribblern | |
[1][Das Fehlen von Eins-gegen-eins-Spielern] hatte Jogi Löw bereits nach | |
der WM 2014 thematisiert. Man ahnte nämlich, dass sich in Zukunft viele | |
Mannschaften gegen die Deutschen tiefer positionieren würden. Aber woher | |
kommt der Mangel an Außenspielern und mutigen Dribblern? Wenn Reformbedarf | |
besteht, entdeckt man stets gewisse Defizite, im deutschen Fußball waren es | |
zu Beginn des Jahrtausends die Spielphilosophie, die Taktik und das | |
Passspiel. Dies wurde korrigiert, mit dem WM-Titel als Krönung. Mit der | |
Folge, dass man in der Zeit andere Dinge vernachlässigt hat und neue | |
Defizite aufploppten. Schon 2014 wurde deutlich, dass die reformierte | |
Ausbildung einer weiteren Reform bedurfte. | |
Ein weiteres Problem besteht in einer manchmal zu starken | |
„Verwissenschaftlichung“ des Fußballs. Als Hansi Flick noch | |
DFB-Sportdirektor war, bemängelte er, dass sich die Spieler zu stark auf | |
das System verließen. Was vielleicht auch daher rührt, dass | |
Nachwuchsspieler zu früh und zu stark in bestimmte Systeme gepresst werden | |
– mit negativen Folgen für das eigenständige Denken und Handeln. Von | |
Absolventen der Trainerausbildung des DFB hört man manchmal, ihre Ausbilder | |
würden sich wie Halbgötter gerieren. Wer eigenständig denke und kritisch | |
hinterfrage, würde heruntergeputzt. Für den ehemaligen Nationalspieler | |
Mehmed Scholl muss Löw ausbaden, [2][was in der Trainerausbildung und im | |
Nachwuchs falsch laufe.] | |
Und in den Vereinen? Hier machten sich Angst und Ergebnisdruck breit. Nicht | |
nur in der Juniorenbundesliga, wo der U19-Trainer eines Profivereins zum | |
Sportdirektor bestellt wird, um über seine Zukunft zu sprechen. Man redet | |
nicht über die Entwicklung einzelner Spieler. Grundlage des Gesprächs ist | |
die vom Sportdirektor frisch ausgedruckte Tabelle. Im Dorfverein, wo die | |
Eltern die Rolle des Boulevards übernehmen, sieht es nicht viel anders aus. | |
Auch hier haben die Ergebnisse Vorrang. | |
Wer als Nachwuchstrainer nach oben will, muss Titel holen. Wenn der Trainer | |
unter Ergebnisdruck arbeitet, ist es unwahrscheinlich, dass er sich der | |
individuellen Entwicklung von Spielern widmet und von diesen Mut zum Risiko | |
fordert. Bloß kein „überflüssiges“ Dribbling, denn dem Ballverlust könn… | |
ein tödlicher Konter folgen. | |
Für den Bundestrainer kommt erschwerend hinzu, dass der Spielermarkt auch | |
beim Nachwuchs längst ein internationaler ist. Innenverteidiger Tanguay | |
Nianzou (19) kam von Paris St. Germain zum FC Bayern, Chris Richards (20), | |
ebenfalls Innenverteidiger, vom FC Dallas, Außenverteidiger Alphonso Davis | |
(20) aus Vancouver. Bei ihrer Ankunft waren die Spieler noch A-Junioren. | |
[3][Der BVB holte das 17-jährige Talent Jude Bellingham von Birmigham | |
City.] Die Bundesligisten interessiert es herzlich wenig, ob das Talent | |
„aus dem eigenen Nachwuchs“ für den DFB spielberechtigt ist. Für junge | |
deutsche Talente bietet die Liga wenig Platz. | |
Auch deshalb scheint es in den Medien dieser Tage kaum ein anderes Thema zu | |
geben als das mögliche Debüt von Youssoufa Moukoko in Berlin für Borussia | |
Dortmund. Weil Moukoko am Freitag seinen 16. Geburtstag feierte, ist er | |
erstmals spielberechtigt. Wie gering seine Optionen sind, illustrierte | |
dieser Tage Stefan Kuntz, Trainer der U21 des DFB: „Bei uns sind es nur | |
noch neun Jungs, die überhaupt zum Kader eines Erstligisten zählen – davon | |
haben am letzten Spieltag nur zwei von Beginn an gespielt. Drei meiner | |
Jungs blieben sogar in der Zweiten Liga ohne Spielminute.“ | |
Dietrich Schulze-Marmeling ist Autor des Buches „Ausgespielt? Die Krise des | |
deutschen Fußballs“ (Verlag Die Werkstatt) | |
20 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Dietrich Schulze-Marmeling | |
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