# taz.de -- Ex-Staatsanwalt auf der Anklagebank: Kindesmissbrauch im Schlaf? | |
> Vor dem Landgericht Lübeck wird einem Ex-Staatsanwalt ein sexueller | |
> Übergriff auf seinen Sohn vorgeworfen. Er will die Tat im Schlaf begangen | |
> haben. | |
Bild: Prozessauftakt Ende Januar in Lübeck: Richterin Helga von Lukowicz hat m… | |
LÜBECK taz | Vor dem Landgericht in Lübeck dämmert es schon, als das Video | |
startet. Detailliert und mit aufgeweckter Stimme erzählt ein achtjähriger | |
Junge in einer Videoaussage vom Morgen des 27. März 2019. Er sei von einer | |
Berührung aufgewacht, sagte er, dann habe ihn sein Vater, in dessen Bett er | |
schlief, zu sexuellen Handlungen aufgefordert. Als er sich wehrte, habe | |
sein Vater ihn festgehalten. „Ich hatte richtig Angst“, sagt er in dem | |
Video. Danach sei der Vater ins Bad gegangen. „Ich weiß, dass es kein Traum | |
war“, ergänzt der Junge, „weil mein Hund im Zimmer war. Ich sagte dem Hund, | |
er soll dableiben.“ | |
Im Gerichtssaal herrscht konzentrierte Stille. Der Vater des damals | |
Achtjährigen sitzt neben seinen zwei Anwälten und weint. Er ist wegen | |
schweren sexuellen Kindesmissbrauchs angeklagt. „Er fasste in die | |
Pyjamahose des Jungen, berührte dessen Geschlechtsteil und auch den Anus | |
des Jungen“, heißt es in der Anklage. Er sitzt das erste Mal auf der | |
Anklagebank, vor Gericht war er schon oft: Der 52-jährige Angeklagte war | |
Staatsanwalt. | |
Der Prozess, der zurzeit bundesweit Aufsehen erregt, ist aus mehreren | |
Gründen ungewöhnlich. Vor Gericht will der Angeklagte sich zu den Vorwürfen | |
nicht äußern, aber er sagte im Laufe der Ermittlungen aus, er könne sich an | |
die Tat, die sein Sohn schildert, nicht erinnern. | |
Am Morgen habe der Junge seiner Mutter davon erzählt, die ihren Mann damit | |
konfrontierte: „Was hast du mit meinem Kind gemacht?“ Er habe ungläubig und | |
geschockt gewirkt, sagte die Mutter dem Gericht. Gleichzeitig habe er | |
seinem Sohn geglaubt: „Der Junge lügt nicht.“ Er sprach noch am gleichen | |
Tag mit seinem Vorgesetzten und zeigte sich kurz darauf selber an. Seine | |
Frau reichte die Scheidung ein. | |
Seinen Blackout erklärte er sich zuerst damit, dass er am Abend viel | |
Alkohol getrunken hatte. Mitte April, berichtete seine Frau, habe er | |
allerdings eine andere Erklärung gehabt. Er habe ihr einen Link auf eine | |
Seite über „[1][Sexsomnia]“ geschickt, das ist eine Erkrankung, bei der | |
Menschen schlafwandeln und währenddessen Sex haben. | |
Grundsätzlich sei es durchaus möglich, beim [2][Schlafwandeln] Dinge zu | |
tun, die im wachen Zustand nicht dem eigenen moralischen Kompass | |
entsprechen, sagte Thomas Pollmächer, Direktor des schlafmedizinischen | |
Zentrums im Klinikum Ingolstadt, der Deutschen Presse-Agentur. In dem | |
Gerichtsverfahren, das Ende Januar gestartet ist, geht es nun darum, zu | |
klären, ob es sein kann, dass der Angeklagte seinen Sohn möglicherweise | |
misshandelt hat, während er schlief. Das würde bedeuten, dass er zur | |
Tatzeit nicht schuldfähig war – und straffrei bliebe. | |
Nicht nur für das mutmaßliche Opfer, seinen Sohn, ist das von Bedeutung. Es | |
schließen sich auch weitere Fragen an: Welche öffentliche Wirkung hätte ein | |
Freispruch in diesem Fall? Wäre er eine Art Freifahrtschein für künftige | |
Straftaten? | |
Fälle, in denen Menschen unter dem Einfluss von Schlafstörungen, | |
sogenannten Parasomnien, Verbrechen begehen, sind extrem selten. 1987 | |
beispielsweise wurde ein Kanadier freigesprochen, nachdem er seine | |
Schwiegermutter getötet hatte. Er war schon vorher schlafgewandelt und | |
konnte durch Gutachten nachweisen, dass er während der Tat nicht wach war. | |
Hat auch der ehemalige Staatsanwalt eine Parasomnie? Eine Ex-Freundin, die | |
vor 20 Jahren mit ihm zusammen war, sagte aus, dass er damals mehrfach | |
nachts Sex mit ihr begonnen habe, den er dann plötzlich abbrach. Am Morgen | |
habe er sich nicht erinnern können. | |
Auch seine spätere Frau fand ihn eines Nachts beim Schlafwandeln im Haus, | |
aber in den 14 gemeinsamen Jahren nur dieses eine Mal. | |
## Zwei Gutachten zur Urteilsfindung | |
Zwischen den Aussagen der ZeugInnen vor Gericht gibt es Widersprüche. | |
Anders als die Mutter sagte ein gemeinsamer Freund aus, der Vater habe den | |
sexuellen Übergriff bestritten und sogar überlegt, den Kontakt zu seinem | |
Sohn abzubrechen. Mitte August 2019 traf ihn seine Ex-Freundin und | |
berichtete ihm von den Schlafwandler-Episoden in ihrer Beziehung. Er habe | |
erschüttert gewirkt: „Das kann also doch sein!“ Über das Phänomen Sexsom… | |
habe er offenbar nicht viel gewusst. Aber kann das sein, sollte er seiner | |
Frau bereits vier Monate vorher einen Link genau zu dem Thema geschickt | |
haben? | |
Zwei Gutachter begleiten den Prozess, ihre Einschätzung ist wichtig für die | |
Urteilsfindung. Ein erstes Gutachten bezeichnet die Schilderung der | |
Ex-Freundin als typisch für Sexsomnia, die des Jungen dagegen nicht: Der | |
Angeklagte handelte mehrstufig, „war orientiert, reagierte“. Dass der | |
damalige Staatsanwalt in der Nacht des 27. März 2019 schlafwandelte, lässt | |
sich demnach „nicht mit Sicherheit feststellen, aber auch nicht | |
ausschließen“, so der Gutachter. | |
Der Angeklagte stand als Staatsanwalt bei der Arbeit unter Dauerdruck: Er | |
hatte regelmäßig Gespräche mit Vorgesetzten, weil sich unerledigte Fälle in | |
seinem Büro stapelten. Vor diesem Hintergrund hat der forensische | |
Psychiater eine weitere mögliche Erklärung für den Übergriff: Eine | |
„dysfunktionale Coping-Störung“. Dabei versuchen Menschen, durch Macht in | |
einer anderen Situation Stress zu bewältigen. So könne [3][sexueller | |
Missbrauch] „kurzzeitig Macht herstellen“. Der Angeklagte sei nicht | |
[4][pädophil], und „die meisten pädophilen Delikte“, sagte der Gutachter, | |
„werden nicht von Pädophilen begangen“. | |
Das Urteil soll am 14. Februar gesprochen werden. | |
5 Feb 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Sexsomnia | |
[2] /Interview-mit-Schlafforscher-Ingo-Fietze/!5668430 | |
[3] /sexueller-Missbrauch/!t5007560 | |
[4] /Geschichte-der-Paedophilie/!5825701 | |
## AUTOREN | |
Friederike Grabitz | |
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