# taz.de -- European Games in Minsk: Die Spiele, die keiner wollte | |
> In Minsk finden derzeit die Europaspiele statt. Nur bekommt das kaum | |
> jemand mit, dabei hat sich die Stadt so viel Mühe gegeben. | |
Bild: Die Tischtennis-Wettkämpfe finden in dieser Sporthalle statt | |
MINSK taz | Ein paar Tage ist es gerade her, da trennten den Oktoberplatz | |
und die Oktoberstraße in Minsk Welten. Auf dem Platz herrschte Leere, | |
verirrten sich nur ein paar Spaziergänger und über allem thronte der | |
grau-monolithische Palast der Republik Weißrusslands. | |
In der alten Oktjabarskaja hingegen hatte sich die urbane Minsker Jugend | |
ihre eigene, neue Welt geschaffen: Aus einer Straße, auf der noch vor fünf | |
Jahren Arbeiter mit düsteren Gesichtern über den brüchigen Asphalt früh auf | |
Arbeit gingen, ist mittlerweile die, so nennen sie es hier, „angesagteste | |
und demokratischste Jugendstraße“ der Stadt geworden. Gewaltige Graffiti | |
zieren einstmals graue Fabrikmauern, in den Industriegebäuden haben sich | |
Galerien, IT-Start-ups und Techno-Clubs eingenistet. | |
Die Mieter und urbanen Aktivisten der Oktjabrskaja hier und das Minsk der | |
staatlichen Verordnungen dort waren bisher zwei parallel verlaufende | |
Linien, die sich nicht in die Quere kamen. Doch das hat sich mit dem Beginn | |
der European Games am vergangenen Freitag geändert. Nur wenige Stunden vor | |
der Eröffnungsfeier im nahe gelegenen Dynamo-Stadion machten die | |
Organisatoren auch auf den stillgelegten Straßenbahnschienen der | |
Oktjabarskaja ihren Einfluss klar. Über Nacht wurde der hippen Jugend das | |
staatlich verordnete Bild Weißrussland anlässlich des Großereignisses vor | |
die Nase gesetzt. | |
In einer langen Schlange von Imbissständen liegen nun statt Veggie-Burgern | |
Schaschlik-Spieße auf den Grills, an den Souvenir-Shops gibt es | |
Strickstrümpfe, Bastschuhe und Matroschkas: Für die eigentlichen Bewohner | |
der Straße durchweg Symbole des verstaubten Denkens der staatlichen | |
Behörden. | |
## Sportexperten warnten vorab vor zu viel Folklore | |
Und genau das Gegenteil davon, was der Experte für Sport-PR, Iwan Karaichew | |
in einem Blog der Zeitung Tribuna.by meinte, als er den Organisatoren der | |
Europaspiele einige Wochen vor Beginn empfahl, der Welt endlich das Bild | |
eines modernen Landes zu vermitteln. „Es wird großes Gähnen hervorrufen, | |
wenn wir uns wie immer nur mit dem ländlichen Weißrussland, mit den | |
Feldern, den Draniki (die Kartoffelpuffer gelten als Nationalspeise) und | |
den hervorragenden Milchprodukten in Szene setzen, statt mit unseren | |
Erfolgen in den Bereichen IT, Sport und Kultur.“ | |
Den Blick auf das junge, urbane und privatwirtschaftliche Minsk des Jahres | |
2019 verstellen nun die offiziellen Stände der Alivaria-Brauerei. Deren | |
meist leere Bierbänke werden von den Bloggern der Straße mit Schadenfreude | |
bedacht – ebenso wie das laue Echo in der internationalen Presse zu den | |
Europaspielen. Ob Le Monde, The Times oder Gazeta Wyborcza – keines dieser | |
angesehen Blätter hat dem Event nach der auch von den größten Kritikern | |
gelobten Eröffnungsfeier einen Artikel gewidmet. | |
Mit Weißrussland hatten sich westliche Medien in der Vergangenheit | |
allerdings noch nie viel Mühe gegeben. Das Stereotyp der „letzten Diktatur | |
Europas“ mit Todesstrafe und [1][zweifelhaften Menschenrechten] blieb auch | |
im Vorfeld der Europaspiele [2][bestehen]. Der weißrussische Künstler, | |
Architekt und Publizist Artur Klinau hatte in seinem Buch „Minsk – | |
Sonnenstadt der Träume“ 2006 gar vom „Verschwinden Europas in der | |
Dämmerzone Weißrussland“ gesprochen. Ein „Multisportevent mit olympischen | |
Charakter“ wie die Europaspiele schien da gerade recht zu kommen, um ein | |
bisschen Imagepolitur zu betreiben und sich von einer weltoffenen, | |
sympathischen Seite zu präsentieren. | |
Allein, auf die Mitwirkung der Kreativen und Privatwirtschaftler wollte man | |
dabei allerdings verzichten und ging lieber auf Nummer sicher. Im Land von | |
Präsident Aljaksandr Lukaschenka heißt das immer noch ganz offiziell: | |
„freiwillig vorgeschrieben“. Wer in Weißrussland auf irgendeine Weise vom | |
Staat abhängig ist (und das sind in einer Planwirtschaft viele), hat ihm | |
auch „freiwillig vorgeschrieben“ zu dienen. Besonders anschaulich machen | |
das die geschätzt 8.000 Volunteers, denen man in ihren | |
Polyester-Trainingsanzügen im Minsk dieser Tage selbst in den Stadtvierteln | |
begegnet, die ansonsten von den Spielen völlig unberührt bleiben. | |
Die „Freiwilligen“ | |
Die „Freiwilligen“ sind vor allem Studierende an staatlichen Universitäten. | |
Zuweilen äußern sie sich auch ganz unverblümt. Vorausgesetzt natürlich, der | |
eigene Name erscheint nicht in der Zeitung. Es sei auch ohne Ansage klar | |
gewesen, dass, wer seinen Dienst an den Spielen verweigere, mit seiner | |
Exmatrikulation rechnen müsse, heißt es da. Oder: Ein unentschuldigter | |
Fehltag könne schnell eine Geldstrafe von bis zu 800 Weißrussischer Rubel | |
(rund 350 Euro) – in Minsk fast schon ein Monatslohn – nach sich ziehen. | |
Die Europaspiele waren in den vergangenen Wochen so sehr gesellschaftliches | |
Gesamtprojekt geworden, dass sich der weißrussische Geschäftsmann Maxim | |
Syadura via Instagram beschwerte, jeder noch so kleine Unternehmer sei dazu | |
verdonnert worden, nicht nur die Fassaden seiner Bürogebäude zu polieren | |
und Blumenbeete anzulegen, sondern gleich noch ein paar nagelneue | |
Mülltonnen aus Edelstahl zu kaufen. | |
Wie ökonomisch irrational das planwirtschaftliche Wirtschaftssystem in | |
Lukaschenka-Land manchmal ist, zeigt de Tatsache, dass allein für die | |
Bepflanzung von einjährigen Blumenbeeten im Vorfeld der European Games nach | |
Schätzungen von unabhängigen Umweltschutzvereinen etwa 5 Millionen Dollar | |
ausgegeben wurden. Nach Igor Korzun, Aktivist der Kampagne „Urban | |
Forester“, sei es zwar nicht möglich, Privatunternehmen zum Pflanzen von | |
Blumen zu zwingen. Aber sich den Unmut des Staates zuziehen, dass riskiert | |
in Weißrussland auch keiner. | |
All das sind jedoch Details, die dem ausländischen Besucher verborgen | |
bleiben dürften. Und die auf der anderen Seite auch nichts an der Tatsache | |
ändern, dass die Organisatoren und die Bewohner von Minsk [3][diese | |
seltsamen Spiele], die keiner wollte und die eigentlich eine Art Ladenhüter | |
des Europäischen Olympischen Komitees (EOK) sind, in den letzten Tagen | |
irgendwie doch zum Leben erweckt haben. | |
## Begeisterung in den Stadien | |
Im Sport-Palast mitten im Zentrum sahen 1.000 begeisterte Zuschauer die | |
Wettkämpfe im Sambo, einer im Westen nahezu unbekannten | |
russisch-sowjetischen Kampfsportart. Gleich nebenan, in der zeltartigen | |
Pavlov-Arena, kochte die Stimmung auf den Tribünen nahezu über, als sowohl | |
das Männer- wie auch das Frauenteam Bronze im 3x3-Basketball (einer Art | |
Streetball-Variante) gewann. Und weiter im Nordwesten, in der Minsk-Arena, | |
wo normalerweise der KHL Eishockeyclub Dynamo seine Heimspiele austrägt, | |
wollten 15.000 Menschen die Finals im Trampolin- und Aerobicturnen sehen. | |
Berufsklatscher oder mit Soldaten aufgefüllte Tribünen, die man bei weniger | |
natürlicher Begeisterung hätte erwarten können, sah man selten. „Die | |
Zuschauerränge waren hier eigentlich überall so gut gefüllt, dass selbst | |
unsere Athleten für den Besuch der anderen Disziplinen kaum an Karten | |
kamen“, so Jörg Stratmann, Chefredakteur für Digitale Kommunikation beim | |
Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB). | |
Matthias Weber, „Disziplinchef“ des Deutschen Basketball Bundes (DBB) für | |
den Bereich 3x3, zeigt sich erstaunt darüber, wie „modern, sauber und | |
sicher Minsk ist. Ich spreche hier, glaube ich, für viele Ausländer, die | |
überrascht sind, wie gut die Infrastruktur funktioniert und wie freundlich | |
die Bewohner sind.“ Für die Athleten seien alle Hebel in Bewegung gesetzt | |
worden, Wettkampfstätten, Unterkünfte und Verpflegung seien absolut ohne | |
Makel. „Wenn die European Games hier nicht ihren Herzschrittmacher bekommen | |
haben, dann weiß ich ehrlich gesagt auch nicht, was ihnen noch helfen | |
soll.“ | |
Für Präsident Aljaksandr Lukaschenka ist die Mission „Imagepolitur“ damit | |
schon jetzt completed: Die Europaspiele haben die Einheimischen stolz | |
gemacht, die Fremden beeindruckt und die Sportenthusiasten auch ästhetisch | |
ein bisschen umschmeichelt. | |
## Nächstes Highlight: der Unabhängigkeitstag | |
Zeit für den nächsten Programmpunkt, denn zwischen die üppige, aber wert- | |
und symbolfreie Festbeleuchtung an eigentlich jeder Minsker Straßenlaterne | |
haben sich in den vergangenen Tagen schon wieder die ersten roten Sterne | |
gemischt. Noch ist die Abschlussfeier der European Games am Sonntag ein | |
paar Tage entfernt, doch am Prospekt Pobeditelej, an dem auch ein Großteil | |
der Wettkampfstätten liegen, werden schon die Tribünen für die | |
Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag am 3. Juli errichtet. | |
Die Parade wird dann wieder die Bilder liefern, die man aus Minsk so | |
gewöhnt ist: stilecht, mit Panzern und Düsenjägern. | |
30 Jun 2019 | |
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## AUTOREN | |
Christian Henkel | |
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