# taz.de -- Erste Obdachlosenzählung in Berlin: Ingwertee und eine blaue Weste | |
> .. und Angst vor der eigenen Courage: Unsere Autorin hat in der „Nacht | |
> der Solidarität“ Obdachlose gezählt und neue Einsichten gewonnen. | |
Bild: Hilfe für die ehrenamtlichen Helfer*innen bei der „Nacht der Solidarit… | |
Es regnet, als ich mich auf den Weg zur ersten Berliner Obdachlosenzählung | |
mache. Im Dezember hatte ich mich spontan angemeldet. Jetzt ist es soweit, | |
ich bin nervös. | |
In der Nacht davor war ich hustend aufgewacht. Kurz darauf stand ich mit | |
einem Ingwertee am Fenster und starrte in die regnerische Nacht. Wie es | |
jetzt wohl da draußen ist? | |
Jeden Tag komme ich auf dem Weg zur Arbeit an Matratzenlagern unter Brücken | |
vorbei, sehe Menschen, die auf einem Stück Pappe in einem dünnen Schlafsack | |
liege oder aus billigen Zelten kriechen, während ich warm angezogen an | |
ihnen vorbeiradle. Es macht mich wütend und traurig und fühlt sich | |
entsetzlich falsch an. Deswegen wollte ich bei dieser Zählung mitmachen. Um | |
irgendetwas tun zu können. Aber jetzt habe ich Angst vor meiner eigenen | |
Courage. | |
In der Kantine einer sozialen Werkstätte, meinem „Zählbüro“, bekomme ich | |
eine blaue Weste und sitze kurz darauf mit drei fremden Menschen an einem | |
Tisch: zwei Männer und eine Frau, alle drei in der Wohnungslosenhilfe | |
tätig. Das beruhigt mich gleich ein bisschen. | |
Denn in den letzten Tage habe ich viel darüber nachgedacht, wie das sein | |
wird, Menschen anzusprechen, um die ich sonst eher einen großen Bogen | |
mache. Aus Angst, Unsicherheit oder Scham. Und wie ich mich selbst fühlen | |
würde, wenn jemand zu meiner Parkbank käme, um mir persönliche Fragen zu | |
stellen. Und dann einfach weiterginge. | |
Und dann geht es endlich los. | |
Es fühlt sich etwas komisch an, weil ich durch meinen eigenen Pankower | |
Wohnbezirk laufe. Wo hier in den Sommermonaten Menschen schlafen, weiß ich | |
ganz genau. Aber ob wir auch im kalten Januar jemanden finden? | |
Mitten in unserem Zählbezirk liegt das Franziskanerkloster Pankow, in dem | |
seit fast dreißig Jahren Bedürftige essen und duschen können, ihre Kleidung | |
waschen und auch soziale Beratung erhalten. Wir vermuten, hier im Umkreis | |
vielleicht Wohnungslose zu finden. Tagsüber stehen viele von ihnen am | |
S-Bahnhof Wollankstraße und vor dem benachbarten Supermarkt. Doch heute | |
Abend ist niemand hier. | |
Oder doch? Im Grünstreifen neben der S-Bahn steht ein Mann. Er hat ein Bier | |
in der Hand und eine Plastiktüte neben sich. Ob er wohnungslos ist? „Nee, | |
seh ick so aus?“, fragt er sofort. Und ob wir von der Polizei wären. Er | |
schlafe nicht auf der Straße, sondern werde sich noch „ein warmes | |
Plätzchen“ suchen, erklärt er. Eigentlich habe er aber drei Häuser, eins | |
davon in Frankreich. Die Frage nach seiner Nationalität beantwortet er mit | |
„Russe“, wiegelt dann aber sofort ab, als ich ihn auf Russisch anspreche. | |
Und ja, er sei allein, „sieht man doch“. Wir füllen unseren ersten | |
Zählbogen aus. | |
Kurze Zeit später kommt uns eine Frau entgegen, ärmlich gekleidet, mit | |
einer Plastiktüte in der Hand. Während wir noch diskutieren, ob wir sie | |
ansprechen sollen, ist sie schon im Park verschwunden. | |
Auf einem verlassenen Friedhof finden wir neben einer Bank zahlreiche leere | |
Flaschen – aber keine Menschen. Doch plötzlich leuchtet etwas im Dunkeln, | |
mein Herz setzt kurz aus. Tröstlich leuchten zwei Grabkerzen in der Nacht. | |
Kurz darauf noch ein Schreckmoment: Auf einer Freifläche kommen zwei große | |
Hunde kläffend auf uns zu. Wenig später tauchen zwei Männer und eine Frau | |
mit weiteren Hunden auf, schnell verschwinden sie wieder in der Nacht. | |
Was sind das für Leute, die kurz vor Mitternacht mit fünf unangeleinten | |
Hunden über eine matschige, unbeleuchtete Brachfläche laufen? Hätten wir | |
sie fragen sollen? | |
Am Ende sprechen wir dann doch noch jemanden an: zwei Männer mit | |
Bierflaschen in der Hand, wieder auf der Grünfläche neben der S-Bahn. Sie | |
haben Kapuzen auf und unterhalten sich leise. „Nein, sie seien nicht | |
wohnungslos“, erklären sie, zwei türkische Männer im mittleren Alter. | |
Nachdem wir unsere Bögen abgegeben haben, gehe ich mit den drei anderen aus | |
meinem Zählteam noch in eine Kneipe. Sie erzählen von Übergangswohnheimen, | |
versteckter Wohnungslosigkeit von Frauen und der „Wohnfähigkeit“, die sie | |
Menschen bescheinigen müssen, bevor diese eine Wohnung erhalten. Und ich | |
merke, wie komplex dieses Thema „Obdachlosigkeit“ wirklich ist. Und wie | |
froh ich bin, als ich um zwei Uhr morgens in meinem warmen Bett liege. | |
1 Feb 2020 | |
## AUTOREN | |
Gaby Coldewey | |
## TAGS | |
Elke Breitenbach | |
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