# taz.de -- Ekliges Berlin: Fresst euren Müll selbst | |
> Mit höheren Bußgeldern will die Berliner Landesregierung Müllsündern an | |
> den Kragen. Hilft das? Was der Müll über eine Stadt und ihre Menschen | |
> sagt. | |
Bild: Illegaler Müll gefährdet nicht nur die Umwelt, sondern auch die Tiere | |
Man soll ja, wie es gern heißt, vor der eigenen Haustür kehren. Vor der | |
eigenen Haustür heißt in diesem Fall beim Müllplatz der Wohnungsanlage | |
einer landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft. In der Tonne für Biomüll | |
finden sich regelmäßig Plastiktüten mit Restmüll. Haben die noch alle | |
Tassen im Schrank? | |
Manchmal ist der Müllplatz auch außerhalb der Tonnen vermüllt. Öffentlich | |
zugänglich ist er nicht. Es sind also die Bewohnerinnen und Bewohner, die | |
verantwortlich für all das sind. Sie kehren nicht vor der eigenen Haustür. | |
Sie vermüllen sie. | |
Müll ist ein Aufregerthema, das scheinbar viel aussagt über den Zustand | |
einer zunehmend egoistisch werdenden Gesellschaft. Die einen feuern eine | |
Chipstüte in die Gegend, als ob nach ihnen nur die Sintflut kommen könnte. | |
Andere feiern und lassen alles liegen, weil sie ohnehin woanders wohnen und | |
die Karawane gleich weiterzieht. Und dann gibt es noch die, die Abfall | |
freiwillig aufsammeln, weil sie die Müllflut nicht mit ansehen können und | |
für eine lebenswerte Umgebung kämpfen. | |
Ich selbst habe manchmal Gewaltfantasien, wenn ich mit dem Fahrrad Slalom | |
um zerbrochene Bierflaschen fahren muss. Wenn ich einen von denen erwische, | |
denke ich dann, werde ich ihn zwingen, die Scherben mit bloßen Händen | |
wegzuräumen. Oder den eigenen Müll zu fressen. Zu viel Emotionalität, weise | |
ich mich danach wieder zurecht, ist auch keine Lösung. | |
Müll ist aber auch ein politisches Thema. „Berlin ist vermüllt, und der | |
Müll muss weg“, sagt Linken-Landeschefin Kerstin Wolter. Denn Müll sei auch | |
eine soziale Frage. Immer mehr Menschen in Berlin hätten „das Gefühl, dass | |
sie zu Gästen werden in der Stadt, die ihr Zuhause sein müsste“. | |
Mit diesem Satz macht selbst die Linke deutlich, dass das Thema Vermüllung | |
nicht mehr ignoriert werden kann. Neben Hamburg ist Berlin die schmutzigste | |
Stadt Deutschlands. Zugleich macht Wolter aber auch die vermeintlich | |
Schuldigen aus. Die Touristen vermüllen Berlin, die Einheimischen sind die | |
Leidtragenden. Wenn ich Zeit habe, lade ich die Linken-Chefin gern mal zu | |
unserem Müllplatz ein. | |
## Helfen höhere Bußgelder? | |
In dieser Woche nun hat auch der schwarz-rote Senat auf das Problem | |
reagiert – und [1][den Bußgeldkatalog für das illegale Entsorgen von Müll | |
drastisch erhöht]. Wer seine Zigarettenkippe achtlos auf den Bürgersteig | |
schnippt, muss künftig 250 Euro bezahlen. Bislang waren es 80 bis 120 Euro. | |
Richtig teuer wird es bei der illegalen Entsorgung von Sperrmüll. | |
Mindestens 1.000 Euro werden nun fällig, bei größeren Mengen sogar 10.000 | |
Euro. Freundlich weist die Senatsverwaltung für Umwelt darauf hin, dass | |
auch „Zu verschenken“-Hinweise eine „bußgeldbewährte Ordnungswidrigkeit… | |
darstellen. Wer tatsächlich etwas zu verschenken hat, soll sich stattdessen | |
an das Gebrauchtwarenkaufhaus in der bedingt zentral gelegenen | |
Auguste-Viktoria-Allee in Reinickendorf wenden. | |
Nun könnte man einwenden, ein Toaster auf dem Gehweg mit der Aufschrift „Zu | |
verschenken“ sei ein erster Schritt in Richtung Kreislaufwirtschaft – und | |
damit ein wichtiger Beitrag zur Müllvermeidung. Doch das, was am | |
Straßenrand abgestellt wird, ist meist Schrott, sagt [2][Christian Berg vom | |
Bezirksamt Neukölln in einer Reportage des Deutschlandfunks]. | |
Die Neuköllner Erfahrungen sind auch ein Gegenargument an die, die meinen, | |
Bußgelderhöhungen seien sinnlos, weil eh nicht kontrolliert werde. Neukölln | |
zeigt, dass es geht. Regelmäßig gehen die Leute vom Ordnungsamt auf Streife | |
– auch in Zivil. Als eine der ersten Behörden in Deutschland hat Neukölln | |
ein Müllermittlerteam, die Soko Müll, eingerichtet. Für die, die die Soko | |
Müll demnächst erwischt, wird es richtig teuer. Gut so. | |
Beim Reden über Müll und Neukölln droht freilich sogleich die | |
Klischeefalle. Trifft es nicht die falschen? Wie soll einer ohne Auto | |
seinen Sperrmüll zum [3][Recyclinghof der Berliner Stadtreinigung (BSR)] | |
bringen? Stimmt das nicht mit der sozialen Frage, die Kerstin Wolter | |
aufwirft? | |
Tatsächlich ist der Toaster am Gehweg nicht das größte Problem in der | |
Waste-City Berlin. Viel problematischer ist die zunehmende Flut an | |
Verpackungsmüll. Kaffeebecher, Einwegteller, Plastikflaschen, | |
Bambusbesteck, Alu-Grillschalen finden sich überall, wo gefeiert wird, in | |
Parks, auf Brücken wie der Kreuzberger Admiralbrücke, überhaupt in den | |
Touristenbezirken [4][Friedrichshain-Kreuzberg, Neukölln und Mitte, wo die | |
BSR mehr Müll entsorgen muss als in anderen Bezirken]. | |
## Die neue Wohlstandsvermüllung | |
In ihrer [5][Studie „Müll als Strukturfaktor gesellschaftlicher | |
Ungleichheitsbeziehungen“] zitiert Laura Moisi aus dem 1984 erschienenen | |
Buch „Pesthauch und Blütenduft“ von Alain Corbin. Darin habe der Autor | |
darauf hingewiesen, „dass die Angst vor Schmutz und Bakterien seit der | |
Entstehung der Hygienebewegung im 19. Jahrhundert nicht nur gegen Objekte | |
gerichtet war, sondern ebenso gegen Gruppen von Menschen“. Abfall, | |
argumentiert Corbin, „ist historisch wie gegenwärtig zentral für die | |
Aufrechterhaltung einer bürgerlichen Ordnung auf Kosten einer Gruppe davon | |
Ausgeschlossener“. | |
Was aber, wenn diese Form der bürgerlichen Selbstvergewisserung durch | |
„Othering“ gar nicht mehr das Thema ist? Wenn die bürgerliche Ordnung nicht | |
durch Arme und Rebellen bedroht wird, sondern sich aus sich selbst heraus | |
auflöst? Wenn die auf Exklusion gerichtete Klage über „Armutsverwahrlosung�… | |
abgelöst wird vom Befund einer zunehmenden „Wohlstandsverwahrlosung“? Wür… | |
das nicht auch bedeuten, dass die Kritik an Law and Order in diesem Fall | |
nur noch linke Folklore ist? | |
Zumindest wäre es an der Zeit, das Verursacherprinzip konsequenter | |
anzuwenden. Höhere Bußgelder treffen, falls die Verursacher erwischt | |
werden, nicht die Falschen. Sie treffen Touristinnen und Touristen, die ihr | |
Reiseziel zur Müllhalde machen, Gewerbetreibende, die zu faul oder zu | |
knausrig sind, ihren Müll bei der BSR zu entsorgen, Kriminelle, die ihre | |
giftigen Abfälle mit dem Hänger an irgendein Waldstück am Stadtrand fahren | |
und dort abkippen. | |
Das Verursacherprinzip konsequent anzuwenden, hieße aber auch, dass Berlin, | |
ähnlich wie Tübingen, endlich eine Verpackungssteuer einführt. Wenn weniger | |
Verpackungsmüll in den Umlauf kommt, werden auch die Müllhalden kleiner. | |
Diejenigen, die nun fürchten, Berlin drohe eine sterile Stadt zu werden, in | |
der alles Bunte und Widerborstige verschwindet, können beruhigt sein: | |
Berlin wird nie ein zweites Singapur und auch kein gelecktes München. | |
Zwischen Müllhaufen und hochgeklapptem Bürgersteig gibt es genügend | |
Zwischenräume. | |
Eher hilft der Kampf gegen den Müll, dass sich die Menschen ihre Stadt | |
zurückerobern. Sich mit ihrem Kiez, ihrem Park, ihrer Straße | |
identifizieren. Und dafür sorgen, dass Stadt und Kieze wieder lebenswert | |
werden. Dazu gehört übrigens auch, dass Straßenraum und Parkplätze begrünt | |
werden, Schrottfahrräder verschwinden, Blechlawinen reduziert werden. | |
Reclaim the Streets, war da nicht was? | |
Wie es aussieht, wenn eine solche Rückeroberung scheitert, kann man in | |
anderen Metropolen sehen. Die Theorie der Broken Windows, die besagt, dass | |
sich dort, wo ein Karton herumliegt, bald der Müll stapelt, ist auch im | |
größer skalierten Stadtraum gültig. | |
Noch hat Berlin die Chance, diese Negativspirale zu stoppen. Mit der BSR, | |
mit drastischen Strafen, vielleicht mit einem 24-Stunden-Ordnungsamt, mit | |
Prävention wie im Müllmuseum in Wedding, mit mehr Verantwortung für die | |
eigene Umgebung. | |
Auch am Müllplatz. | |
22 Aug 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Muell-Bussgelder-in-Berlin/!6105038 | |
[2] https://www.deutschlandfunk.de/wegschmeissen-oder-recyclen-wie-berlin-gegen… | |
[3] https://www.bsr.de/recyclinghoefe-berlin | |
[4] https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2024/01/berlin-bsr-illegaler-muell-fr… | |
[5] https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/281505/muell-als-strukturfaktor-… | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
## TAGS | |
Schwarz-rote Koalition in Berlin | |
Müll | |
BSR | |
Wochenkommentar | |
Social-Auswahl | |
Reden wir darüber | |
BSR | |
Plastikmüll | |
wochentaz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Müll-Bußgelder in Berlin: Sauber! | |
Wer Berlin vermüllt, soll mehr Bußgeld bezahlen. Aber hilft das wirklich, | |
damit die Stadt nicht im Dreck versinkt? Ein kommentierter Bericht. | |
Steuer auf Einweg-Verpackungen in Berlin: BUND will mehr Tübingen wagen | |
Angesichts der globalen Plastikflut fordert die Umweltorganisation den | |
Senat auf, endlich eine Verpackungssteuer einzuführen. Doch die CDU mauert. | |
Vorbild Tübingen: Kampf dem Wegwerfmüll | |
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer hat eine Steuer auf | |
Einwegverpackungen eingeführt – andere Städte wollen nun nachziehen. |