| # taz.de -- Dnipro nach dem russischen Raketenangriff: Eine Stadt voller Trauer… | |
| > Die Attacke auf ein Hochhaus forderte Dutzende Tote. Die Überlebenden | |
| > trauern an einem improvisierten Gedenkort – und demonstrieren für mehr | |
| > Waffen. | |
| Bild: Das nach dem russischen Raketenangriff zerstörte Wohnhaus in Dnipro | |
| Dnipro taz | Ein zerstörtes Wohnhaus am Ufer eines Flusses, eine | |
| improvisierte Gedenkstätte mit Blumen, Spielzeug und Kerzen an einer | |
| Bushaltestelle. Und eine Kundgebung, auf der weinende Kinder und Frauen die | |
| Unterstützer der Ukraine um schwere Waffen bitten. Das sind die Bilder aus | |
| der Stadt Dnipro, drei Tage nach dem schweren russischen Raketenangriff auf | |
| ein neunstöckiges Wohnhaus | |
| Der Eingangsbereich des halb eingestürzten Gebäudes ist fast ganz in sich | |
| zusammengefallen. Rettungskräfte bergen mehrere Leichen. Mit Hilfe eines | |
| Krans werden sie aus dem dritten Stock auf eine Trage gehoben. Bei dem | |
| Raketenangriff auf die [1][zentralukrainische Stadt] starben am vorigen | |
| Wochenende 45 Menschen – 6 davon Kinder. Auch unter den 79 Verletzten sind | |
| 16 Kinder. Etwa 20 Menschen werden noch vermisst. Es ist möglich, dass ihre | |
| Körper bei der gewaltigen Explosion vollständig zerrissen wurden. Der | |
| Sprengkopf der russischen Rakete vom Typ Raduga Ch-22 wog fast eine Tonne. | |
| „Wir sind hierher gekommen, um mehr [2][Luftverteidigungssysteme] zu | |
| fordern, damit unsere Kinder nicht sterben, damit wir nicht sterben“, sagt | |
| die 39-jährige Olga Bojko bei der Kundgebung. Eine Freundin von ihr und | |
| deren zwei Kinder wurden beim Angriff auf das Hochhaus getötet. | |
| Zu der Veranstaltung sind etwa 50 Menschen gekommen – hauptsächlich junge | |
| Frauen und Kinder, die in der Gegend leben. Sie haben ukrainische Flaggen | |
| und Plakate mit Aufschriften wie „Russland ist ein terroristisches Land“ | |
| und „Schließt unseren Luftraum“ dabei. Die Demonstrant:innen | |
| appellieren an führende Politiker der EU-Länder und der USA, die Ukraine so | |
| schnell wie möglich mit modernen Luftverteidigungssystemen und | |
| Langstreckenraketen auszustatten, um russische Trägerraketen und Flugzeuge | |
| zerstören zu können. | |
| ## Wie durch ein Wunder unverletzt | |
| An der Aktion nehmen auch Bewohner:innen des Wohnkomplexes teil, die | |
| ihre Wohnungen verloren haben. Eine von ihnen ist Natalja Rudenko, wie | |
| durch ein Wunder ist sie unverletzt geblieben. „Da wir kein Licht hatten, | |
| habe ich nicht gearbeitet und saß nicht am Schreibtisch, der am Fenster | |
| steht. Sonst weiß ich nicht, was passiert wäre. Stattdessen war ich hinten | |
| in einem Raum ohne Fenster. Unsere Türen waren blockiert und mussten von | |
| Rettungskräften aufgebrochen werden. Bei unseren Nachbarn wurde alles | |
| zerstört“, erzählt sie unter Tränen. | |
| Juri Wasetzki, der 39-jährige ukrainische Nationaltrainer für Kampfsport, | |
| hielt sich zum Zeitpunkt des Raketenangriffs ganz in der Nähe des | |
| Hochhauses auf. Er rettete drei Menschen, noch bevor Polizei und | |
| Rettungsdienste eintrafen. | |
| Wasetzki berichtet von Unmengen an Staub, Rauch und Betonsplittern, die | |
| unmittelbar nach der Explosion umherwirbelten. Er rannte zum Haus und sah | |
| in der Nähe des Aufgangs eine Frau, die verwundet und mit Glassplittern | |
| übersät war. Der Eingangsbereich war vollständig zerstört. „Da erblickte | |
| ich eine Mutter mit einem Kind – voller Blut, wahrscheinlich durch | |
| Glassplitter verletzt. Sie konnte nicht alleine zum Ausgang gehen, denn | |
| dort war alles zusammengebrochen“, erinnert sich Wasetzki. Über den Eingang | |
| einer benachbarten Klinik stieg er zuerst in den zweiten Stock, wo er die | |
| Frau mit dem Kind retten konnte. | |
| Dann klammerte er sich an die Klimaanlage und ein Fenstergitter, kletterte | |
| in den dritten Stock und rettete seinen Pflegesohn Rostislaw. Der | |
| 12-Jährige war zum Zeitpunkt des Beschusses allein, seine Mutter war bei | |
| der Arbeit. Der Pflegesohn war in der Küche, er hörte, wie jemand seinen | |
| Namen rief, aber wegen des ganzen Staubs, den er geschluckt hatte, konnte | |
| er nicht antworten. „Ich habe ihn schnell gepackt und ließ ihn herunter. | |
| Kurz danach ist der Plattenbau zusammengebrochen“, sagt Juri Wasetzki. „Ich | |
| halte mich nicht für einen Superhelden. Das war lediglich die Evakuierung | |
| eines verletzten Kindes.“ | |
| Der Kampfsportler ist sich sicher, dass Putin mit solchen Angriffen die | |
| Ukraine zu Verhandlungen zwingen will. „Die ganze Nation ist wütend, es | |
| gibt so viele Leichen! Das einfach ungestraft zu lassen ist unmöglich“, | |
| sagt er. „Ich verstehe, dass unsere Partner keine Konfliktpartei sein | |
| wollen, aber de facto betrifft dieser Krieg alle. Alle Ukrainer haben | |
| aufgehört, Angst zu haben. Mütter, die ihre Söhne im Krieg verloren haben, | |
| haben sich schon ihre Augen ausgeweint.“ | |
| ## Blumen und Spielzeug am Mahnmal | |
| Gegenüber den zerstörten Eingängen des Hochhauses liegt die Bushaltestelle, | |
| die jetzt ein improvisiertes Mahnmal ist. Viele Bewohner Dnipros bringen | |
| Blumen und Kinderspielzeug dorthin. Der 64-jährige Juri wohnt in einem Haus | |
| ganz in der Nähe. Behutsam legt der Mann ein Spielzeug nieder. Er versucht, | |
| keine Gefühle zu zeigen, aber eine Träne fließt über sein erstarrtes | |
| Gesicht. „Ich war zwei Tage nicht hier, es ist schwer, das anzusehen“, sagt | |
| der Mann, der seine ganze Kindheit in diesen Höfen verbracht hat. Juri | |
| zeigt auf den Eingang der Kinderpoliklinik, die eine Rakete zerstört hat. | |
| Dort haben er und seine Enkelin sich im vergangenen Sommer impfen lassen. | |
| Diese Tragödie lässt in Dnipro niemanden kalt. Gegenüber dem Hochhaus wurde | |
| spontan ein Kleider- und Lebensmittellager errichtet, für schnelle Hilfe. | |
| Menschen aus verschiedenen Regionen haben begonnen, Kisten mit | |
| Winterjacken, Schuhen und anderen notwendigen Dingen dorthin zu bringen. | |
| Denn die Opfer des Raketenangriffs besitzen buchstäblich nicht einmal mehr | |
| etwas zum Anziehen. | |
| Olga, eine junge Frau, ist mit heißen Piroggen und Gebäck gekommen. Sie | |
| will den Rettungskräften helfen, die bereits den dritten Tag ohne Pause | |
| Schutt durchsuchen. In einem fünfstöckigen Nachbarhaus, das inzwischen kein | |
| einziges unbeschädigtes Fenster mehr hat, wohnt ihre Freundin mit Familie. | |
| „Natürlich ist dies ein Terroranschlag. Menschen gezielt töten – was soll | |
| das sein?! Es gibt überhaupt keine Militär- oder Energieanlagen in der | |
| Nähe. Das vergeben wir nicht“, sagt sie. | |
| Hochrangige ukrainische Beamte haben ein Briefing vor Ort abgehalten. Nach | |
| Angaben des stellvertretenden Leiters des Büros von Kirill Timoschenko, dem | |
| stellvertretenden Chef des Präsidialamts, werden alle Opfer, die bei dem | |
| Raketenangriff ihr Zuhause verloren haben, umgesiedelt. 72 Wohnungen wurden | |
| komplett zerstört, etwa 200 weitere beschädigt. Der Generalstaatsanwalt der | |
| Ukraine, Andrij Kostin, versichert, dass die Strafverfolgungsbehörden die | |
| Beteiligten finden werden. Und er fordert die Partner und Verbündeten der | |
| Ukraine auf, ein Sondertribunal gegen die Führung Russlands zu schaffen. | |
| „Jeder Tag des Zögerns bei ihrer Entscheidung, die Ukraine weiter zu | |
| unterstützen, kostet Menschenleben“, sagte Kostin. | |
| Am Dienstag, dem vierten Tag seit dem Angriff, wurde die [3][Suche nach | |
| Toten und Verletzten eingestellt.] In Dnipro wird nun damit begonnen, die | |
| Opfer zu bestatten. | |
| Aus dem Russischen: Barbara Oertel | |
| 21 Jan 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Juri Larin | |
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