# taz.de -- Die Wahrheit: Das gläserne Genital | |
> Dickpics zu bekommen, ist auch für einen Mann nicht gerade die Erfüllung | |
> aller Träume im weiten Reich der Sexualität. | |
Bild: Eine von 12 Personen ist in ihrem Leben einmal von digitaler sexualisiert… | |
Beim routinemäßigen Checken meiner Privilegien ist mir neulich aufgefallen, | |
dass ich ein Mann und keine Frau bin. Die „gläserne Decke“ beispielsweise | |
kümmert mich nicht. Männer wie Frauen haben es heute schwer genug, | |
einkommenstechnisch überhaupt nur auf Hüfthöhe zu kommen, geschweige denn | |
eine Decke zu erreichen. | |
Wenn diese Decke aus Glas sein sollte, so sei das gern weiterhin die Sorge | |
von Immobilienfondsmanagerinnen, Chefredakteurinnen oder der Soziologin | |
Prof. Dr. h. c. Jutta Allmendinger. Eine Bäckereifachverkäuferin | |
jedenfalls, ich habe mich erkundigt, verdient keinen Cent weniger als der | |
Bäckereifachverkäufer. | |
Anders sieht es mit sexueller Belästigung aus. Meine Kindheit verlief in | |
dieser Hinsicht glimpflich. Später war ich einmal als Student nachts in | |
München unterwegs zu einer Themenparty. Das Thema lautete „Porno!“. Also | |
zog ich Kleid und Strumpfhosen an, flocht mein damals noch langes Haar zu | |
Zöpfen und machte mich als Rotkäppchen mit Kuchen und Wein in meinem | |
Körbchen auf den Weg. Unterwegs, es war in Bogenhausen, wurde ich aus | |
fahrenden Autos angeschnalzt und mit hochachtungsvollen Rufen bedacht. Mir | |
schmeichelte das. Ich war, wie oben bereits angedeutet, ja keine Frau. | |
Andermals schlenderte ich, ebenfalls nachts, durchschnittsmännlich gewandet | |
durch Haidhausen, als neben mir ein weißer Rolls-Royce ins Schritttempo | |
verfiel. Der Fahrer wollte wissen, ob ich nicht einsteigen und ihm den Weg | |
zum Gasteig zeigen könne. „Nicht nötig“, versetzte ich fröhlich, „es g… | |
immer geradeaus, da vorne ist es schon!“ Enttäuscht fuhr Rudolph Moshammer | |
weiter. Ein paar Jahre später gabelte er dann einen Iraker auf. Eine | |
tödliche Begegnung. | |
Es folgte Jahrzehnt auf Jahrzehnt, das ich unbehelligt von sexuellen | |
Avancen verbringen durfte und, wenn ich das sagen darf, auch selbst keine | |
machte. Bis es mich gestern ereilte, da schickte mir ein alter Freund auf | |
Facebook ein Foto seines … na ja, ja, genau. Der Fachbegriff lautet | |
„Dickpic“. In der Frauenzeitschrift Cosmopolitan steht zwar, was man als | |
Mann machen muss, „damit das Foto gut ankommt“. | |
Mein Freund liest aber lieber Metal Hammer statt Cosmopolitan. Er ist nicht | |
schwul, hat aber ein Problem mit Alkohol und Speed. Hat er beides | |
gleichzeitig intus, verschickt er „Dickpics“. An Fremde wie Freunde, Männer | |
wie Frauen. Ich war weder erschrocken noch schockiert, eher profund | |
verdutzt und auf eine melancholische Weise unterwältigt von so viel | |
trotteliger Erbärmlichkeit und toxischem Turbonarzissmus. | |
Keineswegs hege ich phallophobe Ressentiments. Ich käme, würden mir | |
„Pussypics“ von fremden oder bekannten Frauen geschickt, vermutlich zu | |
ähnlichen Schlüssen. Worauf wollte ich hinaus? Ach ja: Als Kulturpessimist | |
hege ich Zweifel, ob sich das Genital-Selfie außerhalb des Rahmens | |
übertrieben sinnlicher Fernbeziehungen durchsetzen wird. | |
30 Oct 2020 | |
## AUTOREN | |
Arno Frank | |
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