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# taz.de -- Die Geiseln der Hamas: „Ich will nur meine Familie zurück“
> Unter den von der Hamas entführten Geiseln sind auch 19 Deutsche. Ihre
> Angehörigen hoffen auf die Bundesregierung. Ein Treffen in Berlin.
Bild: Lior Katz (rechts) und ihre Cousine Mai Asraf, in einem Berliner Hotel
Berlin taz | Fotos, die an ein früheres Leben erinnern, liegen verstreut
auf dem Tisch in der Lobby eines Berliner Hotels. Ein Mädchen mit
Schwimmflügeln und Badeanzug lacht neben seiner Mutter in die Kamera. Auf
dem Foto daneben umarmt das Mädchen seine Schwester auf einem weiten Feld.
Am Himmel hängen weiße Schäfchenwolken.
Das Leben, das auf den Bildern festgehalten ist, gibt es so heute nicht
mehr. Der Kibbutz Nir Oz nahe der Grenze zum Gazastreifen war einer der
ersten, [1][die am 7. Oktober von Terroristen der radikalislamischen Hamas
angegriffen wurden]. Sie brannten Häuser nieder, vergewaltigten und
massakrierten die Bewohner*innen – und nahmen Geiseln. Die israelischen
Behörden gehen von über 240 in den Gazastreifen verschleppten Geiseln aus.
Unter ihnen auch das Mädchen mit Schwimmflügeln, seine Schwester und die
Mutter: Aviv, Ras und Doron Katz Asher.
Seitdem wartet Dorons Schwester Lior Katz auf Schlaf. Wenige Stunden nach
dem Terrorangriff erzählte ihr Schwager ihr von einem Video, auf dem zu
sehen ist, wie ihre Schwester und ihre Nichten auf einem Truck von
Hamas-Kämpfern in den Gazastreifen abtransportiert werden. Aviv und Ras
kauern sich aneinander. Dorons Kleid ist auf Hüfthöhe blutgetränkt.
Etwas später erfährt Katz, dass ihre Mutter getötet wurde. Auch ihr Bruder
wurde als Geisel genommen. Sein Handy wurde kurz nach der Entführung im
Gazastreifen geortet.
„Es ist jetzt mehr als einen Monat her und wir wissen immer noch nichts“,
sagt Katz in dem Berliner Hotel: „Die Zeit wird knapp.“
## Keine Zeit, innezuhalten
Vor einem Tag ist sie als Teil einer sechzehnköpfigen Delegation in Berlin
gelandet. Sie alle haben Familienmitglieder als Geiseln in Gaza, die neben
der israelischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Insgesamt
weiß die Gruppe von bislang 19 deutschen unter den Geiseln.
Ofir Weinberg lehnt sich mit den Ellenbogen auf dem Tisch nach vorne: „Wir
brauchen internationale Unterstützung.“ Weinberg ist 24 Jahre alt, doch sie
beherrscht die Sprache der Diplomatie, als hätte sie nie etwas anderes
getan: „Israel pflegt keine direkten diplomatischen Beziehungen zu Katar.
Wir brauchen also die mächtigsten Länder, um Stellung zu beziehen und sich
an den Verhandlungen zu beteiligen. Deshalb strecken wir die Hand nach
Deutschland und den USA aus.“ Am 7. Oktober wurde ihr Cousin entführt.
Seitdem widmet sie ihre Zeit nur einer Sache: die Geiseln zu befreien.
Der Terminkalender in Deutschland ist eng. Sie treffen den grünen
Wirtschaftsminister Robert Habeck, die Vorsitzende des
Verteidigungsausschusses Marie Agnes Strack-Zimmermann, den FDP-Politiker
Rainer Semet. Die Zeiträume zwischen den Treffen sind für die Presse
vorgesehen. Zeit innezuhalten gibt es nicht. Wozu auch, wenn sie seit dem
7. Oktober sowieso keine Ruhe finden.
Lior Katz war an dem Tag, der ihr den Boden unter den Füßen wegriss, nicht
Zuhause in ihrem Kibbutz Nir Oz. Über die Feiertage war sie mit ihren
Kindern und ihrem Mann zu ihren Schwiegereltern nach Be’erot Yitzhak
gefahren, einem Kibbutz im Zentrum Israels. Sie war Raketenalarm gewöhnt,
so wie alle Menschen, die in der Nähe des Gazastreifens leben, und so war
sie nicht besonders beunruhigt, als sie um halb sieben morgens im Zentrum
Israels vom Heulen der Sirenen geweckt wurde. Auch ein Foto, das ihre
Mutter ihr schickte, suggerierte: Es war alles in Ordnung. Auf dem Bild
frühstücken ihre zwei kleinen Nichten im Sicherheitsraum der Wohnung, der
Raketen standhält.
## Immer mehr Details des Massakers werden bekannt
Doch kurze Zeit später wurde klar: Nichts war in Ordnung. Im
Kommunikationskanal von Nir Oz gehen Nachrichten um, Hamas-Leute seien im
Kibbutz, dringen in Häuser ein und schießen.
Über Whatsapp drängt sie ihre Schwester und die zwei Nichten, ihre Mutter
und ihren Freund, im Sicherheitsraum der Wohnung zu bleiben. Die Tür zu
verschließen. Nicht rauszugehen. Es kommen Nachrichten, dass die
Terroristen mithilfe der Gasleitungen Häuser in Brand setzen. Schließlich
dringen sie auch in das Haus der Katz ein, der Freund ihrer Mutter verlässt
den Sicherheitsraum.
Er spricht ein bisschen Arabisch, will die Hamas-Kämpfer ablenken und davon
abhalten, zum Rest der Familie vorzudringen. Er kommt nicht zurück. Ihre
Mutter und ihre Schwester schreiben ihrer Schwester weiter, beschreiben,
was sie von ihrem Versteck aus hören und sehen. Die brennenden Häuser, die
Schreie, die Allahu-Akbar-Rufe. Zehn Stunden lang sind sie in Kontakt. Bis
irgendwann keine Antwort mehr kommt.
Noch heute sucht Lior Katz nach Puzzlestücken, die ein ganzes Bild davon
abgeben können, was ihre Familie in Nir Oz durchgemacht hat. Bergungskräfte
sind auch einen Monat später noch dabei, verbrannte Tote über DNA-Tests zu
identifizieren.
Doch gleichzeitig sind die Massaker vom 7. Oktober die wohl am besten
dokumentierten Untaten der Menschheitsgeschichte. Videos von
Überwachungskameras und Smartphones der Opfer geben Zeugnis davon ab – und
dann sind da noch die Körperkameras und Mobiltelefone von getöteten
Terroristen. Sie filmten alles mit, was sie taten.
## Das Gefühl der Sicherheit, verloren
Die israelische Botschaft zeigt Journalist*innen in New York, London
und Berlin in diesen Tagen eine Zusammenstellung davon: Hamas-Terroristen
stechen einem Junge ein Auge aus und töten seinen Vater, während er
zuschauen muss. Zwei andere rufen „Allahu akbar“, während sie mit einer
Gartenhacke versuchen, einen anderen Mann zu enthaupten. In einem anderen
Haus steckt ein Bewaffneter die Mündung seines Gewehrs in einen Raum, in
dem eine Familie sitzt. Kurz darauf ist alles rot.
Je mehr über die Geschehnisse des 7. Oktobers an die Weltöffentlichkeit
gelangt, desto größer ist auch der Schock. Doch es gibt auch diejenigen,
die den Terrorangriff auf Israel als Ausbruch aus der Belagerung bejubeln
oder die Augen verschließen vor dem, was passiert ist.
Die Welt muss wissen, was passiert ist, sagen Weinberg, Katz und die
anderen in der Berliner Hotellobby. Die Sprache, die sie benutzen, erinnert
an die Art und Weise, in der an den Holocaust erinnert wird – und es ist
kein Zufall. „So etwas wie den 7. Oktober haben wir seit dem Holocaust
nicht erlebt.“
Auch dafür sind sie hier. Um Fake News entgegenzuwirken. Um aufzuklären.
Katz hat ihr Gefühl für Sicherheit an diesem Tag verloren. Und jetzt, da
sie in Berlin sitzt, am Vorabend des 9. November, dem Jahrestags der
Reichspogromnacht, kommt sie nicht umhin, den Bogen zu ihrer Großmutter zu
schlagen – zu dem Tag, an dem diese ihr Gefühl für Sicherheit verlor. Sie
wurde in den 1920er Jahren in München geboren, in der Reichspogromnacht
wurde ihr Vater deportiert. Sie floh nach Palästina.
„Ich bin froh, dass sie das nicht erleben musste“, sagt Katz. Ihre
Großmutter starb im Januar. Jetzt sitzt ihre Enkelin hier und baut auf
deutsche Unterstützung.
## Sie bleiben diplomatisch
Schon bei Olaf Scholz’ Besuch in Israel Mitte Oktober sprach sie mit ihm.
Er habe allen Familienangehörigen von Geiseln in der Runde aufmerksam
zugehört. Doch Auskunft über den Stand der Verhandlungen gibt ihnen keiner.
Es könnte die Verhandlungen torpedieren. Katz versteht das. Schwer
erträglich findet sie es trotzdem.
Ab und zu berichten Medien über mögliche Deals zum Gefangenenaustausch mit
Hamas und Islamischem Dschihad, in erster Linie laufen die Verhandlungen
über den Golfstaat Katar. Doch bislang, davon sind sie überzeugt, habe es
kein substanzielles Angebot von der Hamas gegeben.
In Israel kommt von den Familienangehörigen der Geiseln mitunter heftige
Kritik an der Regierung. Viele von ihnen fühlen sich im Stich gelassen.
Doch in den meisten Fällen bleibt die Kritik verhalten.
Heftige Zerwürfnisse können sich die Angehörigen nicht erlauben, nicht in
diesem Moment. Einige von ihnen fordern einen sofortigen Waffenstillstand,
sie befürchten, ihre Liebsten könnten bei den Bombardierungen der
israelischen Armee getötet werden. Andere drängen darauf, keine humanitäre
Hilfe zuzulassen, bis die Geiseln freigelassen werden.
Die Delegation in Deutschland bleibt durchweg diplomatisch. Kritik an der
israelischen Regierung üben sie hier nicht. Es könnte daran liegen, dass
sie in dieser Zeit nicht schlecht über ihr Land sprechen wollen. Und
vielleicht auch vor allem nicht hier, in Deutschland. Nur zu einem Satz
lässt sich Ofir Weinberg, die 24-Jährige, die so früh die Regeln der
Diplomatie erlernt hat, hinreißen: „Wenn all das vorbei ist, dann werden
wir uns alle hinsetzen und die Rechnung machen.“
## Sie kann sich nicht erlauben, zusammenzubrechen
„Ich will nur meine Familie zurück“, sagt Lior Katz. Wenn sie die Augen
schließt, erzählt sie, dann fangen die Fragen an: Ob sie frieren, ob sie
Hunger oder Durst haben? Ob die kleine Aviv ihren Schnuller hat? Und auch
die: Ob sie leben?
Die Delegation muss zum nächsten Treffen. Sie greifen nach den Fotos ihrer
Angehörigen, die über den Tisch verstreut sind.
„Uns läuft die Zeit ab“, sagt Katz noch einmal. Dann lächelt sie zum
Abschied. Es ist das Lächeln einer, die weitermachen muss, bis ihre Mission
erfüllt ist. Erst dann kann sie es sich erlauben zusammenzubrechen.
Lost in Nahost: Der Krieg in Israel und Gaza zerreißt die internationale
Linke. Wie kann eine vernünftige linke Position zu diesem Konflikt
aussehen? Hören Sie dazu die neue Folge des Bundestalk, dem Podcast der
taz: [2][taz.de/bundestalk]
10 Nov 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Judith Poppe
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