# taz.de -- Die Ära Merkel: Die gelassene Kanzlerin | |
> Angela Merkel hat über ihre Ost-Biografie lange geschwiegen. Das war | |
> keine Anpassung aus Machtkalkül, sondern kluges Rollenverständnis. | |
[1][Angela Merkel] sitzt in der ersten Reihe im Bundeskanzleramt und blickt | |
auf ihr Redemanuskript. Gefeiert werden 60 Jahre | |
Gastarbeiteranwerbeabkommen. Ich sitze hinter ihr und beobachte sie eine | |
Spur zu durchdringend, als ob man, nur weil man direkt hinter einem | |
Menschen sitzt, den man sonst aus der Ferne und den Medien kennt, ihn | |
besser verstehen könnte. Merkel zu durchdringen, das ist mir in sechzehn | |
Jahren nicht gelungen. | |
Merkel geht ans Pult und hält ihre Rede über das deutsche | |
Wirtschaftswunder, [2][über die Wichtigkeit der Gastarbeiter] für dieses | |
Wunder. In meinem Kopf hallt der Konsenssatz, Merkel könne nicht mitreißend | |
reden, und doch sehe ich eine Kanzlerin, die es an jenem Tag unbedingt | |
versuchen will. Das war im Dezember 2015, das Jahr, in dem Merkel sicher | |
war: [3][„Wir schaffen das!“] Und viele schrien: „Nein, das schaffen wir | |
nicht!“ | |
Merkel redete also über Kontinuität und Erfolg des Einwanderungslands | |
Deutschland. Sie brauchte diese Erfolgsgeschichte. Ihre humanistische | |
Entscheidung wurde ihr schon zum Vorwurf gemacht. Ein historischer Fehler | |
soll es gewesen sein, als sie die Grenzen nicht schließen ließ. Dabei sind | |
fast zehn Millionen Ehrenamtliche Merkels „Wir schaffen das“ gefolgt. | |
Selten wird 2015 aus der Sicht der Helfenden erzählt. | |
Mir war damals im Kanzleramt klar, sie hängt sich auch aus Eigennutz an | |
diesem Tag so rein. Wir, die Millionen Einwanderer von damals und ihre | |
Nachfahren sollten jetzt endlich zur Erfolgsgeschichte erklärt werden, | |
damit die Schlussfolgerung nahe liegt: die eine Million Geflüchteter | |
schaffen wir erst recht. Aber Eigennutz und Altruismus schließen sich nicht | |
immer aus. | |
## Subtile Arten der Machtdemonstration | |
Sie hat mich berührt an jenem Tag. Sie wollte die alten Gastarbeiterinnen | |
und Gastarbeiter ohne deutschen Pass an jenem Tag davon überzeugen, dass | |
sie auch ihre Kanzlerin ist. Zu uns Jüngeren sagte sie: „Lassen Sie sich | |
nicht einschüchtern, die anderen kochen auch nur mit Wasser.“ Ich schluckte | |
kurz, das lag nicht an diesem schlichten Satz, sondern an der Körperkraft, | |
mit der sie diese Worte sprach. Sie weiß, was es heißt, unterschätzt zu | |
werden. Alle, die an diesem Tag im Kanzleramt waren, wissen das. | |
Als sie fertig ist, sitzt sie für ein paar Minuten wieder an ihrem Platz. | |
Unvermittelt steht sie auf und verlässt den Saal, Sicherheitskräfte rennen | |
ihr hastig nach. Es waren diese subtilen Arten der Machtdemonstration, | |
diese kleinen Inszenierungen, die mich auf Veranstaltungen mit ihr immer | |
wieder beeindruckt haben. Sie beherrscht das. | |
Eine alte kroatische Dame im Saal war mit ihrer Familie angereist. Um | |
Merkel zu danken, hatte sie ein Paar auf traditionelle Art gestrickte | |
Wollsocken dabei. Sie hielt sie in ihren alten Händen, in einen | |
Gefrierbeutel gepackt. Nachdem ich auf dem Panel war, kam sie zu mir und | |
legte die Wollsocken in meine Hände: „Die habe ich für Frau Merkel gemacht, | |
aber sie musste schon weg. Darf ich sie Ihnen geben, sie haben auch gut | |
gesprochen.“ Die Familie machte das Erinnerungsfoto vom Tag im Kanzleramt | |
dann mit mir statt mit Frau Merkel. | |
## Sie spielte die Gesellschaft nicht gegeneinander aus | |
Für Menschen, die als Ausländer hier leben oder die Kinder von | |
Gastarbeitern sind, wurde Merkel die Kanzlerin der Erlösung. Es war vorbei | |
mit der Drastik, mit der Kohl gegen uns Stimmung machte. Aus Merkels Mund | |
haben die alten Gastarbeiter kein schlechtes Wort über Ausländer gehört, | |
keine Demütigungen. | |
Sie spielte Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten nicht gegeneinander aus. | |
Helmut Kohl beleidigte die Familie Genç noch in ihrer Trauer, als er nach | |
dem Brandanschlag nicht nach Solingen fuhr, weil er ja keinen | |
Beileidstourismus betreiben wollte. Merkel ließ für die Opfer des NSU eine | |
Trauerfeier ausrichten. | |
Doch wie häufig während Merkels Regierungszeit fehlen zu den vorbildlichen | |
Worten die für die Politik entscheidenden Taten. Die Familien der Mordopfer | |
des NSU wissen bis heute nicht genug über die Mordserie: Die Akten werden | |
nicht freigegeben. | |
Das ist nur ein Beispiel für die Schattenseiten der Kanzlerin Merkel: Es | |
fehlten in ihrer Regierungszeit einige politische Maßnahmen, um diese | |
Verbrechen lückenlos aufzuklären. Ich weiß nicht, wie viele sich vor Augen | |
führen, was es für türkeistämmige Deutsche bedeutet, wenn die Namen der | |
Menschen, die für die Normalisierung des Einwanderungslands Deutschland | |
hätten stehen können, die Namen sind, die wie ein Mahnmal vor der Gewalt | |
des Rechtsextremismus waren. Die türkeistämmigen Mitbürgerinnen sind die | |
größte Minderheit in diesem Land. | |
## Viel Richtiges, trotzdem zu wenig | |
So ist das mit Frau Merkel: Sie steht für das Richtige und dennoch wünscht | |
man sich oft, sie würde es noch deutlicher umsetzen. Merkel wurde 2015 als | |
Mensch sichtbar. Ihr Satz „Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt | |
anfangen, uns entschuldigen zu müssen, dass wir in Notsituationen ein | |
freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mehr mein Land!“ erzählt | |
mehr über ihren Wertekompass als vieles, das man die Jahre zuvor von ihr | |
gehört hatte. | |
Doch statt diese Haltungen politisch umzusetzen, überließ sie das Feld den | |
schwachen CSU-Männern um sie herum, ließ sich demütigen von Horst Seehofer | |
und das Asylrecht wurde weiter ausgehöhlt. Seehofer konnte immer wieder auf | |
der Hassklaviatur gegen Einwanderer spielen. | |
Dieser ungehobelte Bayer hat die mächtigste Frau der Welt mit gesenktem | |
Kopf dastehen lassen, weil er sie für ihre Flüchtlingspolitik demütigen | |
wollte. Merkel, deren Augenrollen über Putin in den sozialen Medien | |
Meme-Geschichte geschrieben hat. Die bei ihrem Besuch im Weißen Haus mit | |
ihrem lässigen Schulterzucken Trump zum trotzigen Jungen im Sessel machen | |
konnte. | |
Manchmal war Deutschland zu provinziell für Merkel, die Weltpolitikerin. | |
Nicht, weil sie abgehoben wäre, sondern weil sie global denkt. Das ist den | |
auf Innenpolitik fokussierten Deutschen nur schwer zu vermitteln. Wenn man | |
sieht, mit wie viel Achtung Barack Obama oder [4][Emmanuel Macron von | |
Merkel Abschied] nehmen, so muss man anerkennen: Es ist auch eines ihrer | |
Verdienste, den deutschen Provinzialismus überwunden zu haben. Sie wusste | |
internationale Freundschaften zu pflegen. Kohl wird gefeiert als Kanzler | |
der Wiedervereinigung, als Kanzler, der Europa im Blick hatte. Merkel muss | |
man anders bewerten. Barack Obama bezeichnete sie als „the leader of the | |
free world.“ | |
## Die Konsens-Kanzlerin | |
Diese Freiheit hat sie vor allem in den letzten Amtsjahren für jene, die | |
spüren wollten, spürbar gemacht. Auch die Kehrseiten dieser Freiheit: Ohne | |
Mehrheiten ist in einer Demokratie nicht zu regieren. Man kann in einer | |
Demokratie das Gute und Richtige nicht autoritär herunterregieren. Während | |
um Deutschland herum immer mehr Männer autoritäre Herrschaft ausbauten, | |
[5][betonte Merkel konsequent den Konsens,] das mühselige Beschaffen von | |
Mehrheiten. Es reicht eben nicht, dass man Recht hat oder das Handeln | |
moralisch-ethisch gerechtfertigt wäre. Was zählt, ist, ob man die Mehrheit | |
gewinnen kann. | |
Ihre Gelassenheit im Umgang mit Mitgliedern der AfD kam immer auch von | |
dieser Merkel’schen Haltung: Sie haben vielleicht eine Meinung, aber mit | |
dieser kriegen Sie keine Mehrheit. Statt zu widersprechen und | |
Demokratiefeinde aufzuwerten, präsentierte Merkel lieber eine Position, die | |
sie für mehrheitsfähig hielt. | |
Diese Mehrheiten zielgerichteter und schneller zu erkämpfen, das hätte es | |
vor allem beim Klima gebraucht, im Gesundheitswesen und in der Pflege, in | |
Bildung und Kultur etwa ebenfalls, weil hier in Merkels Amtszeit zunehmend | |
neoliberale Gesetze galten. Merkel vertraute zu oft und zu sehr auf die | |
regulative Kraft des Marktes, wo der Mensch zu Recht dem Markt misstraut, | |
weil er etwa mit seiner Gesundheit nicht wirtschaften lassen will. | |
Angela Merkel war in vielem die Erste. Sie war die erste Frau an der Spitze | |
der Bundesrepublik. Sie war die erste Ostdeutsche. Beides hat sie nicht zum | |
Thema gemacht. Manche meinen, sie hätte über ihr Frausein und ihre | |
Ostbiografie geschwiegen, weil es für ihre politische Karriere von Nachteil | |
gewesen wäre. Auch ich dachte das lange. | |
## Sie war nicht die Kanzlerin der Ostdeutschen | |
Doch jetzt, da sie geht und wir in Zeiten leben, in denen solche | |
Herkunftsmarkierungen zunehmend unsere Debatten bestimmen, vermute ich | |
etwas anderes: Sie wollte eine Kanzlerin für alle sein. Das gelingt nicht, | |
wenn man die eigene Biografie in den Mittelpunkt stellt. Demokratisches | |
Regieren ist ein Dienen. Indem sie sich von ihren Herkunftszuschreibungen | |
befreite, zeigte sie allen: Ihr könnt das auch. | |
Es geht in einer Demokratie nicht darum, ob die Kanzlerin eine Frau oder | |
eine Ostdeutsche ist. Natürlich geht es für die Menschen, die sich darin | |
wiederfinden, immer auch darum, ob ihre Kanzlerin eine Frau und Ostdeutsche | |
ist; aber die Frau und Ostdeutsche im Amt muss für ihr Amt diese Herkunft | |
abstreifen wie alte Haut. Sie wollte die Kanzlerin aller sein, so wie | |
Barack Obama sagte: „I am not the president of Black America.“ Erst seit | |
Trump verstehe ich diese Zurückhaltung, weil man an Trump sehen konnte, was | |
mit einem Land geschieht, in dem ein Präsident sich einem Lager zuzählt, | |
wenn sich der Präsident selbst die Kämpfe einer Mehr- oder Minderheit zu | |
eigen macht. | |
Angela Merkels Ziel war, ein Land zu regieren, in dem die unterschiedlichen | |
Menschen friedlich zusammenleben. Nicht alles ist ihr gelungen, einiges kam | |
zu kurz. Merkel hat jedoch, das würde die Mehrheit der Bundesbürgerinnen | |
unterschreiben, ihr Bestes gegeben. So unpathetisch würde sie es wohl | |
selbst formulieren. Ich ergänze nur eines: Sie hat, um diesem Land zu | |
dienen, sechzehn Jahre große Teile ihres Menschseins zurückgestellt. | |
Als Macron sie diese Woche verabschiedete, blitzte etwas von diesem | |
Menschsein auf: Eine Frau, die geschmeichelt errötet, weil sie für ihr Tun | |
wertgeschätzt wird. Man wünscht ihr für ihre Zeit als Ex-Kanzlerin noch | |
viele solcher Momente, in denen es menschelt. Sie hat es verdient. | |
6 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Schwerpunkt-Angela-Merkel/!t5007702 | |
[2] /Gastarbeiter/!t5018523 | |
[3] https://www.tagesschau.de/inland/merkel-wir-schaffen-das-109.html | |
[4] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/merkel-frankreich-besuch-abschied-… | |
[5] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/merkel-regierungsstil-101.html | |
## AUTOREN | |
Jagoda Marinić | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Angela Merkel | |
DDR | |
Schwerpunkt Flucht | |
CDU | |
Gastarbeiter | |
Schwerpunkt Ostdeutschland | |
Schwerpunkt Angela Merkel | |
CDU-Parteivorsitzende | |
IG | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Bildband über die scheidende Kanzlerin: Schon 1998 mit Raute | |
Erst fand Angela Merkel die Idee Quatsch. Die Fotografin Herlinde Koelbl | |
begleitete sie dennoch durch ihre Karriere. Ein Bildband zeigt nun das | |
Ergebnis. | |
Erste Frau wagt sich aus der Deckung: Karin Prien will CDU-Vize-Vorsitz | |
Die Politikerin aus Schleswig-Holstein will einen der fünf Vizeposten | |
übernehmen. Ihre Kandidatur sei unabhängig und mehr als „Garnitur“ eines | |
männlichen Vorsitzenden. | |
Angela Merkel wird bei der COP gefeiert: Klimakanzlerin für die Welt | |
Angela Merkel macht in Glasgow ihren Abschiedsbesuch bei einer | |
Weltklimakonferenz. Dort wird sie von vielen als eine Vorkämpferin | |
bewundert. | |
Bundestagswahl 2021: Weltstar Merkel | |
Die erste deutsche Bundeskanzlerin hat auch international 16 Jahre lang | |
Politik geprägt. Welches Bild wird in anderen Ländern von ihr gezeichnet? | |
Thomas de Maizière über Konservatismus: „Eher Haltung als Position“ | |
Hat die Union kein konservatives Profil mehr? Doch, sagt Ex-Minister Thomas | |
de Maizière. Es gehe um Verlässlichkeit und die Integration vieler | |
Strömungen. |