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# taz.de -- Dezentrales Mahnmal in Berlin: „Verlegung ist eine Trauerfeier“
> 30 neue Stolpersteine werden in Berlin verlegt. Eingeladen ist jeder,
> auch Nachbarn und Angehörige. Einige von ihnen haben Angst vor rechten
> Gegnern.
Bild: Putzen gegen das Vergessen und für die Sichtbarkeit der Opfer
taz: Die Stolperstein-Initiative Stierstraße Berlin-Friedenau lässt am
Freitag und Samstag so wie am kommenden Dienstag 30 neue Stolpersteine in
Friedenau und Mitte verlegen. Wie regelmäßig kommt das vor?
Sigrun Marks: In Berlin sind circa 7.500 Steine verlegt worden. Unsere
ehrenamtliche Gruppe hat seit 2007 etwa 120 Steine für Friedenau und 60
Steine für ganz Berlin initiiert. Es gibt sehr lange Wartezeiten für die
Verlegung von Stolpersteinen, da der Künstler nur viermal im Jahr nach
Berlin zum Verlegen kommt. Einige Bezirke, wie Charlottenburg, haben eine
Warteliste für über 500 Stolpersteine.
Helmuth Pohren-Hartmann: Da das Ganze ein Kunstprojekt ist, verlegt der
Künstler Gunter Demnig die Steine selbst. Wir als Gruppe recherchieren die
Biografien der Opfer und beantragen die Verlegung. Wir richten zusätzlich
noch die Gedenkfeiern aus, oft auch in engem Kontakt mit den Angehörigen
der Opfer.
Am 29. Dezember 2019 verlegte Demnig in Memmingen den 75.000. Stolperstein
in ganz Europa.
Pohren-Hartmann: Das Projekt ist das größte dezentrale Mahnmal Europas. Der
Künstler verlegt Steine in den von den Nazis besetzten Ländern wie Polen,
Ukraine, Russland, Frankreich, Holland oder Dänemark.
Marks: Die Steine werden alle einzeln in Buch, Berlin-Pankow, aus Messing
und Beton hergestellt und reisen dann mit dem Künstler durch ganz Europa.
Es ist wichtig, dass es keine Massenproduktion ist, anders als bei der
Massenermordung – es soll das Schicksal jedes Einzelnen nachvollzogen
werden.
Für wen wird verlegt?
Pohren-Hartmann: Viele der ermordeten Juden kamen aus Berlin. Einfach weil
es hier eine große Gemeinde gab. Deshalb widmen sich die meisten Steine
jüdischen Opfern. Aber generell werden die Stolpersteine für alle Opfer des
Nationalsozialismus verlegt. Dazu zählen zum Beispiel auch Homosexuelle,
Kommunisten, Zeugen Jehovas, Sozialdemokraten, Oppositionelle aus der
Kirche, psychisch Kranke oder Gewerkschaftler.
Marks: Seit etwa fünf Jahren werden auch Stolpersteine für die Überlebenden
verlegt, die sich damals ins Ausland retten konnten, zum Beispiel nach
Dänemark oder England. Für einen von ihnen, Henry Pheil, verlegen wir am
Freitag einen Stein. Er konnte damals als 19-Jähriger nach Schottland
fliehen, seine Eltern wurden deportiert und ermordet. Für sie liegen
bereits Steine am Perelsplatz, er soll nach seinem Tod dort mit ihnen
wieder vereint werden. Aber auch für noch Lebende verlegen wir Steine.
Wie kam die Idee auf, auch der Überlebenden zu gedenken?
Marks: Das kam vom Künstler, aber ist innerhalb des Stolpersteinprojekts
immer noch umstritten, einige Teilnehmer sagen, das entspreche nicht der
ursprünglichen Idee Stolpersteine für die ermordeten Opfer zu verlegen.
Ein Stolperstein kostet 120 Euro. Wer bezahlt das denn?
Marks: Die Angehörigen der Opfer sollen keinen Pfennig zahlen.
Pohren-Hartmann: Jeder kann Pate werden. Unsere Gruppe hat ein finanzielles
Polster, da wir mehrfach hohe Spenden von Privatpersonen bekommen haben und
immer wieder Stolpersteinpaten gewinnen können.
In welcher Form beteiligen sich die Bezirke am Stolpersteinprojekt?
Marks: In Berlin gibt es Stolpersteinbeauftragte, die zusammen mit der vom
Senat finanzierten Koordinierungsstelle die Verlegungen planen.
Pohren-Hartmann: Die Koordinierungsstelle kennt die Baupläne und weiß, wo
der Stein verlegt werden kann. Historiker prüfen die Biografien.
Kommen die Angehörigen auf Sie zu oder recherchieren Sie die Namen?
Pohren-Hartmann: Für viele ist der Stolperstein die einzige öffentliche
Stelle, wo ihrer Angehörigen gedacht wird. In der Stierstraße in Schöneberg
gab es einen Mann aus Kanada, der vor dem Stein stand, fürchterlich weinte
und sagte: „Jetzt habe ich endlich einen Ort, wo ich meinen Eltern gedenken
kann.“
Marks: Nicht immer kommen Angehörige. Wir betrachten die politischen
Entwicklungen mit großer Sorge, weil einige dadurch Angst bekommen.
Durch rechten Terror?
Marks: Zu der Verlegung von Henry Pheils Stein am Freitag wollten jüdische
Angehörige aus Israel und den USA kommen. Nach dem Anschlag in Halle haben
sie abgesagt, sie trauen sich nicht. Es war eine große Erschütterung für
uns.
Werden viele der Stolpersteine geschändet?
Pohren-Hartmann: Der letzte Anschlag war vor einigen Jahren in Schöneberg.
Wir haben Anzeige erstattet, aber nie etwas vom Staatsschutz gehört.
Rechtsextreme haben die Steine in der Nacht nach der Verlegung mit
schwarzem Lack besprüht. Es kam auch schon vor, dass Steine ausgegraben und
gestohlen wurden. In solchen Fällen macht der Künstler sie sofort neu, als
Zeichen gegen Rechtsextremismus.
Wie sehr nimmt diese Aufgabe Sie beide emotional mit?
Marks: Um den Kontakt zu den Angehörigen zu finden und aufrechtzuerhalten
erfordert es Engagement und auch viel Herzblut. All die Recherchen in den
Archiven gehen uns nah. Wir betrachten die Verlegung als Trauerfeier, da
wird es sehr emotional.
Im Stadtbild haben sich manche vielleicht schon an den Anblick gewöhnt.
Stolpern die Leute noch über die Steine?
Pohren-Hartmann: Im Alltag bleiben viele Leute stehen. Indem sie sich
herunterbeugen müssen, um den Stein zu lesen, verbeugen sie sich so vor den
Opfern. Das war auch die ursprüngliche Idee des Künstlers. Es geht weniger
ums Stolpern. Zu den Feiern kommen meist 20 bis 100 Leute.
Zu den Gedenkfeiern laden Sie auch die Nachbarn aus dem Haus ein.
Marks: Ja, viele wissen nicht, dass in den Häusern Menschen gelebt haben,
die deportiert wurden. Wir laden auch benachbarte Schulen und Kindergärten
ein, die dann mit einem Chor singen oder Gedichte vortragen. Den Kindern
berichten wir von unserer Arbeit. Uns ist wichtig dass die Steine im Kiez
verankert sind.
Sonja Stabenow, Ko-Autorin,14, ist Schülerpraktikantin der taz
21 Feb 2020
## AUTOREN
Laura Binder
Sonja Stabenow
## TAGS
Stolpersteine
Mahnmal
Ehrenamt
NS-Gedenken
Stolpersteine
Holocaust
Stolpersteine
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