# taz.de -- Der Hype um die Durchsichtigkeit: Transparency International | |
> Die Augen der anderen sollen sehen, vielleicht auch begehren: | |
> Durchscheinende Kleider sind ein anhaltender Trend. | |
Bild: Ein Dress von Mugler bei einer Schau in New York 2023 | |
Ich fürchte mich vor dem Frühling. Vor dem Sommer erst recht. Die Leute | |
ziehen sich aus, zeigen ungefragt ihre Körper. Sie werden wahnsinnig aktiv, | |
wetteifern darum, wer den meisten Spaß hat. Das habe mit Lebenslust zu tun, | |
sagen sie, mit der Sehnsucht nach Leichtigkeit. Warum verstehe ich das | |
nicht? Leichtigkeit, das wäre doch schön, oder? Wenigstens für ein paar | |
Momente. | |
So ähnlich denkt es sich offensichtlich [1][auch die Mode]. Seit zwei, drei | |
Jahren hantiert sie manisch mit transparenten Stoffen herum. Der Körper | |
soll tanzen, im Karnevals-Tutu hineinwehen in die Krisenzeit, sich von | |
allem Schweren lösen, das mittlerweile ja ununterbrochen da ist. | |
Ich gebe zu, ich bin unsicher, wie ich den Transparenztrend finden soll. | |
Die Dinge sind zu kompliziert, um mit einer Meinung auszukommen. An einem | |
ratlosen Dienstag gehe ich also ins Museum, genauer gesagt in die | |
Gemäldegalerie in Berlin. Ein guter Ort, um sich die Geschichte | |
transparenter Mode anzuschauen. | |
Die Leute glauben, sie liefen auf den Zehenspitzen der Gegenwart, dabei | |
könnten sie ihren Auftritt genauso gut in einem Gemälde aus dem 17. | |
Jahrhundert haben. Eine Bacchantin auf einem Werk von Jan Brueghel d. J. | |
(1601–1678) etwa trägt ein Naked-Dress, das auch Kendall Jennar oder Emily | |
Ratajkowski problemlos auf der Met-Gala im Mai vorführen könnten. | |
Ähnliches gilt für das transparente Oberteil, das die auf Gartenarbeit | |
versessene römische Göttin Pomona bei Fancesco Melzi (1491–1570) anhat. Es | |
könnte aus der Prada-Frühlingskollektion des vergangenen Jahres (Look 25) | |
sein. | |
## Sich zeigen und dabei fremd bleiben | |
Im Winter fing es an, dass ich dachte, mit der Transparenz wird es jetzt | |
richtig spannend. Ich stand vor dem Schaufenster [2][eines Berliner | |
Kaufhauses] und starrte auf ein Frühlingskostüm, ebenfalls von Prada. Ein | |
transparenter Rock aus feinem Organza mit einem ausgesprochen blickdichten | |
Blazer. Die Kombination wirkte ungewöhnlich und erfrischend trotzig. | |
Blickdichte gegen Transparenz. Jede beansprucht eine Körperhälfte für sich. | |
Wer so etwas noch nicht gesehen hat, kann sich an dem alten, in den 1920er | |
Jahren in England erfundenen Zaubertrick „Die zersägte Jungfrau“ | |
orientieren: Der Kopf ragt aus der einen Kiste heraus, die Füße aus der | |
andern. Der Effekt des geteilten Frühlingskostüms ist ähnlich. Man braucht | |
nur einen Restauranttisch als Säge dafür. Oben der Tagesschick, unten die | |
Verführung. Erst beim Verlassen oder Wechseln der Plätze fliegt der | |
Schwindel auf. | |
Wie gesagt, die Transparenz der Stoffe ist seit einiger Zeit im Umlauf. Von | |
einem Trend zu sprechen, ist da fast zu wenig. [3][Die Vogue] hatte 2022 | |
zum Jahr des transparenten Kleides ausgerufen. Doch das Magazin View | |
attestiert auch für 2024 eine deutliche Zunahme körperenthüllender Mode. | |
In der pathetischen Sprache des Marketings klingt das ganz schön | |
martialisch. Der in Transparenz gehüllte Körper soll verschlingen | |
(„devore“), soll sich nehmen, was er will. Vom Körperstolz ist die Rede. | |
Die Bewegungen der Body- und Sex-Positivity treiben den Trend vor sich her. | |
Wobei die [4][Generation Z], die für die Modeindustrie bis auf Weiteres | |
ausschlaggebende Zielgruppe, den offiziellen Sinn diktiert. Sie sei es, | |
heißt es in der View, die die eigene Sexualität mit nie gesehener | |
Selbstverständlichkeit ausdrücke – und zwar ohne sich durch den sexuellen | |
Appeal ihrer Garderobe auch nur im Entferntesten dem Objektstatus zu | |
beugen. | |
Sich zeigen und dabei fremd bleiben. Das wäre das Beste, was die | |
Transparenz für die Mode erreichen kann. Einen Triumph über das | |
Schaufensterprinzip. Schau, was du haben könntest. Nun wird die Macht neu | |
verteilt. Die Augen der anderen sollen sehen, vielleicht auch begehren. Die | |
Deutungshoheit, geschweige denn ein Recht daraus abzuleiten haben sie | |
nicht. | |
## Den Körper bewusst als Beute ausstellen | |
Auf einem Foto [5][im Magazin Numéro (Ausgabe 243)] erkennt man diese | |
Machtumkehr gut. Zu sehen ist das Model Tanya Churbanova in einem | |
Mousseline-Kleid von Anthony Vaccarello (Saint-Laurent). Das lange, | |
ausgestellte Gewand ist mit Schmetterlingen verziert. Oder sind es dunkle | |
Vögel? Fotografiert wurde aus der Untersicht. Sodass die androgyne | |
Schönheit wie eine strenge Priesterin erscheint, deren Herablassung jede | |
Anzüglichkeit unter sich begräbt. | |
Ein ganz anderes Bild, das mir wichtig ist, weil es ein paar Körner Salz in | |
die Selbstsicherheit streut: Madison Square Garden, 19. Mai 1962. In einem | |
glitzernden und in letzter Sekunde auf den Leib genähten Naked-Dress von | |
Jean Louis bringt Marilyn Monroe dem Präsidenten J. F. Kennedy vor 15.000 | |
Zuschauern ein Geburtstagsständchen. Gefeiert wird dieser Auftritt bis | |
heute. Als Beginn und erster Höhepunkt transparenter Mode, als Moment | |
ewigen Glamours. | |
Die Deutungskämpfe um diese Szene reißen trotzdem nicht ab. Vielleicht war | |
es so: Marilyn Monroe feiert einen Triumph über die Männer, die sie, wie | |
man so sagt, mit Blicken ausziehen. Sie stellt ihren Körper bewusst als | |
Beute aus, als Geschenk für den Präsidenten und macht ihn gerade dadurch | |
unangreifbar. Ein Akt der Revanche. Woher dann aber diese zentnerschwere | |
Traurigkeit, die über der Szene liegt, woher die Ahnung, dass es wieder | |
nicht gelungen ist, diesen Körper zu beschützen, dass sich die Beschämung | |
wiederholt? | |
Frei davon sind nur die Götter und ihr Hofstaat. Ist zum Beispiel die | |
Bacchantin der Malerin Angelica Kauffmann (1741 –1807). Lorbeeren im | |
gelockten Haar, ein leicht verrutschtes Hemdchen, durch das hindurch man | |
ihre Brüste sieht. Heiter lächelt die junge Mänade an ihrem Gegenüber | |
vorbei. Kauffmann inszeniert sie als Einzelperson, nicht als Teil einer | |
Gruppe, nicht als eine der Begleiterinnen des Dionysos, Gott des Rausches | |
und der Ekstase. Sie könnte eine Liebhaberin sein, eine immer etwas zu | |
hastige Fee, eine Künstlerin des Rokoko. Tatsächlich ist dieses Bild ein | |
Selbstporträt. | |
## Der Körper ist umkämpft | |
Es erzählt von der Sinnlichkeit, von der eigenen Lust. Der transparente | |
Stoff bringt diese Möglichkeit von Anfang an mit. Bereits der kleinste | |
Selbstversuch schenkt eine Ahnung davon. Den eigenen Arm durch ein | |
Stückchen Gazestoff hindurch betrachten und spüren, wie er sich in ein | |
Geheimnis verwandelt. In solchen Momenten fängt Mode an. Man sieht alles | |
und doch wieder nicht. Ein Körper in transparenten Kleidern ist niemals | |
nackt. Er trägt, wenn man so will, ein Kleid aus Gedanken. | |
In Zukunft und Stolz ist dieser Körper gehüllt. Persönlich finde ich das | |
eher ziemlich schlicht. Aber was soll’s, die Transparenz meint nicht mich, | |
die ich ihr viel zu weit weg bin, von allem, was verschlingen kann. In den | |
1960er Jahren war sie bei André Courrèges ein Ausdruck von Optimismus. | |
Heute denkt die Transparenz eher die Bedrohung mit. | |
Transparente, computergenerierte 3-D-Oberflächen, spinnenfeine | |
Ganzkörpertrikots von Casey Cadwallader (Mugler) feiern einen Körper, der | |
die Vergangenheit, sogar die Gegenwart hinter sich lässt. Der so leicht | |
wird, dass er weder trauern noch Angst haben muss, vermutlich noch nicht | |
einmal mehr sterben. | |
Ist das die Leichtigkeit, nach der die Frühlingsbesessenen streben? | |
Vermutlich nicht. Denn ohne Trauer und Angst wird es einsam. Ohne den Tanz | |
der Bacchantin, ohne die Widersprüche der Transparenz, ohne ihre manchmal | |
zarte Melancholie. Nicht nur die Lust, auch die Keuschheit ist im Spiel, | |
wenn die Mode durchsichtig wird. Und weil ich gerade im Museum bin: Ein | |
transparenter Schleier umhüllt das Jesuskind bei Jan Gossaert (Maria mit | |
dem Kind, 1478). Maria selbst wird seit der Renaissance häufig mit | |
durchsichtigem Schleier gezeigt. Er legt sich als Zeichen der Unberührtheit | |
um ihre Stirn. Brautschleier sind aus ebendiesem Stoff gewebt. Die | |
Transparenz ist eine Zuspitzung, jedes Mal aufs Neue. | |
Denn was sieht man durch den Stoff hindurch? Den Körper, ja. Die Probleme | |
fangen damit erst an. Der Körper ist umkämpft. Seine Freiheit, seine | |
Sinnlichkeit. Wer darf ihn deuten? Die Transparenz liebt solche Fragen. Sie | |
formuliert radikaler als andere, ist paradox, anmutig, aufdringlich, | |
verliebt in die Illusion, die Wahrheit heißt. Ich weiß immer noch nicht, ob | |
ich sie direkt ansprechen soll. Aber ich bewundere sie für ihre | |
Tollkühnheit und ihren Charme, und ganz sicher beneide ich sie um das | |
schwarz-weiße Kleid von Ann Demeulemeester, das sie seit dem Herbst 2013 im | |
Schrank hat und das so leicht ist wie ein Blatt im Wind. Ach, der Herbst. | |
17 Mar 2024 | |
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[5] https://anneofcarversville.com/fashion/2023/12/21/txema-yeste-numero-243-vo… | |
## AUTOREN | |
Elisabeth Wagner | |
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