| # taz.de -- Debatte um rassistische Sprache: Höllen der Väter | |
| > Wolfang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ ist eine Zumutung. Aber mit | |
| > semantischen Schonzonen lassen sich andere Realitäten nicht durchdringen. | |
| Bild: München nach dem Zweiten Weltkrieg im Juli 1948: Wir leben in einer ande… | |
| „Tauben im Gras“ – [1][Wolfgang Koeppens Buch aus dem Jahr 1951 ist eine | |
| Zumutung]. Ein düsteres Panorama aus dem München der Aufbaujahre. Im | |
| Zentrum zwei Paare: ein antriebsloser Schriftsteller und seine | |
| alkoholsüchtige Frau aus zerbombtem guten Haus, die vom Verkauf der | |
| geerbten Antiquitäten leben. Eine alleinerziehende Kriegswitwe, die vom | |
| Wehrmachtsbüro zur US-Transporttruppe gewechselt ist und – in einer | |
| unklärbaren Mischung aus Not und Zuneigung – mit dem schwarzen Sergeant | |
| Washington Price zusammenlebt. | |
| Um sie herum ein paar Dutzend weitere Akteure: ein Obermusikdirektor, der | |
| in Kaschemmen Jazz versucht, Nazis, ein Abtreibungsarzt, ein bigottfrommes | |
| Kindermädchen, ein abgetakelter Filmstar, amerikanische Lehrerinnen und | |
| viele mehr. Es gibt Liebe in allen Varianten: der rührenden, der | |
| unschuldigen, der berechnenden, der schmutzigen; es gibt Gemeinheit aus Not | |
| oder aus Neid, einen Weltstar des europäischen Geistes und mordlustige | |
| Kinderbanden. Sie alle kämpfen ums Überleben, für ein wenig Brot, für eine | |
| kleine Lust, schleppen Vergangenheit in sich herum in einer „Atempause auf | |
| einem verdammten Schlachtfeld“. | |
| Und da ist der Koeppen-Sound, die gehetzte Fahrt von Schauplatz zu | |
| Schauplatz, von den Ruinen ins verpisste Brauhaus, die Kasernen, die | |
| Kuchencafés, das Amerikahaus, dazu die O-Töne: verblasene Geistigkeit, | |
| kalkulierende Bosheit, verdeckte Geilheit, Nazisprüche, Radionachrichten, | |
| Gossensprache, alles vermengt mit dem Assoziationsschatz eines mit allen | |
| Motiven der europäischen Geistesgeschichte ausgestatteten Autors und seinem | |
| an Sinn und Moral verzweifelten Blick. | |
| Am Ende schmeißt der Mob mit Steinen, es gibt Tote und es bleibt der Traum | |
| des „positiven Helden“ Washington Price von einer „Welt, in der niemand | |
| unerwünscht ist“. Der Roman ist eine atemlose wie präzise Verdichtung einer | |
| Epoche auf einen Tag, ein existentialistisches Welttheater. | |
| Eine Zumutung, dieser Roman, mit seinem nur mit Spurenelementen von | |
| Positivem durchsetzten, präzisen Blick auf Elend – selbstverschuldetes und | |
| zugefügtes. Und mit seiner aus der Wirklichkeit jener Jahre destillierten | |
| und deshalb mit antisemitischen Klischees und jeder Menge N-Wörtern | |
| durchsetzten Sprache. Wegen dieser Wörter kämpft eine Ulmer Lehrerin mit | |
| einer Petition dafür, „Tauben im Gras“ vom Lektüreplan der Gymnasien in | |
| Baden-Württemberg zu streichen. Auf den 230 Seiten des Buches komme das | |
| abwertende N-Wort etwa hundert Mal vor, dies sei ein „brutaler Angriff“ auf | |
| ihre Menschenwürde und die ihrer Schüler, die ein Recht auf eine | |
| diskriminierungsfreie Lernatmosphäre hätten. Während sich mehrere | |
| Hochschuldidaktiker dieser Sichtweise anschlossen, will die | |
| Kultusministerin, Theresa Schopper, am Status der Pflichtlektüre des Romans | |
| festhalten. Die Feuilletons verteidigten das Buch mehrheitlich, [2][aber es | |
| gab auch Stimmen, vor allem aus der Pädagogik, die sich die Petition zu | |
| eigen machten]. | |
| Als Mitglied der Wolfgang-Koeppen-Stiftung, die von Günter Grass und Peter | |
| Rühmkorff gegründet wurde, bin ich Partei. Aber die Frage, wie umzugehen | |
| ist mit der durch Literatur vermittelten Vergegenwärtigung von Ideologien, | |
| Sprechweisen, Unmoral – ist komplizierter. Der Streit wird bleiben. Selbst | |
| im Vorstand der Koeppen-Stiftung konnten wir uns nicht auf eine | |
| Presserklärung einigen. Wie kommt es, dass der Streit so oft – wie der in | |
| der Genderfrage – unversöhnlich wird? Dass das bloße Auftauchen des | |
| diskriminierenden Wortes, auch als Zitat, als realer Angriff empfunden | |
| wird, dass selbst die unbezweifelbare Integrität des Autors nicht als | |
| Argument zählt? | |
| Ich kann schlecht argumentieren gegen jemanden, der verletzt ist. Ich muss | |
| das respektieren. Aber ich frage mich, ob diese Sensibilität nicht auch | |
| eine Verarmung nach sich zieht: den Verzicht auch der Verletzten, sich über | |
| die Empfindung hinaus auf eine durchwachsene Realität einzulassen und die | |
| Gründe für unakzeptable Haltungen zu durchdringen. Rassismus, | |
| Antisemitismus, Diskriminierung dürfen nicht geduldet werden – aber wie | |
| soll das gelingen, wenn schon ihre Darstellungen tabuisiert werden. Müssen | |
| wir uns nicht an die „Höllen der Väter“ (Graham Nash, „Teach your | |
| Children“) erinnern, um zu wissen und zu fühlen, auf welchem Weg wir sind | |
| und immer noch nicht angekommen sind? Machen semantische Schonzonen nicht | |
| wehrloser? | |
| ## Buch aus einer anderen Zeit | |
| Wir leben in einer anderen Zeit, sagen die Sprachreformer. Das stimmt, aber | |
| es geht nicht um die Frage, ob man noch „Lustig ist das Zigeunerleben“ oder | |
| „Negeraufstand ist in Kuba“ in Jugendgruppen singen soll. Es geht in der | |
| Auseinandersetzung mit dem Koeppen-Buch um Literatur als Form der | |
| Erkenntnis. Und unter diesem Aspekt sind die „Tauben im Gras“ vielleicht | |
| wirklich ein Buch aus einer anderen Zeit, nicht geeignet für | |
| Abiturklausuren. Nicht wegen des N-Wortes, sondern weil der mit | |
| literarischen, mythischen und historischen Bezügen gesprenkelte und | |
| durchsetzte Text für heutige Abiturienten einfach zu komplex ist, weil auf | |
| jeder Seite ein paar Fußnoten stehen müssten. | |
| Und weiter: Weil wir in einer Einwanderungsgesellschaft leben, in der ein | |
| gutes Viertel (Tendenz zunehmend) der Jugendlichen nicht mehr über Eltern, | |
| Großeltern, Familiengeschichten mit der deutschen Geschichte verbunden ist. | |
| Und weil deren Traditionen und der mit ihnen verbundene Wissenskanon mit | |
| dem Schrumpfen der alten Bildungsschichten verblasst sind – auch für die | |
| Kinder der lange Ansässigen. | |
| „Tauben im Gras“ ist ein großartiges Buch, es gehört in jedes | |
| Universitätsseminar zur deutschen Literatur. Und der kleine Skandal führt | |
| ihm hoffentlich ein paar Tausend neue Leser zu, aber die Frage, was in | |
| Schulen gelesen werden sollte, nachdem wir die „Leitkultur“ freudig | |
| verabschiedet haben, verdient ein publizistisches Dauergespräch und viele | |
| mutige Experimente. | |
| 20 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Mathias Greffrath | |
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