# taz.de -- Debatte Gauck: Freut euch auf Gauck | |
> Der designierte Staatschef verkörpert eine Tugend, die in einer | |
> Demokratie gar nicht hoch genug geschätzt werden kann. Joachim Gauck kann | |
> streiten. | |
Bild: Gauck sagt, was er denkt. Und das ist auch gut so. | |
Es geht ein Gespenst um in Deutschland - das Gespenst eines ostdeutschen | |
Pfarrers, der gewagt hat zu sagen, was er denkt. Und das waren | |
Ungeheuerlichkeiten: Joachim Gauck findet, dass ein Bahnhofsneubau | |
möglicherweise eine gute Idee ist. Zwar hat er an anderer Stelle die | |
Bewegung gegen Stuttgart 21 auch gelobt, aber das ist irgendwie verloren | |
gegangen. Deshalb: Stuttgarter, demonstriert gegen Gauck! | |
Gauck hat die Frechheit besessen, die Occupy-Bewegung als "albern" zu | |
bezeichnen. Zwar meinte er damit in Wahrheit die Antikapitalismus-Debatte, | |
aber was soll's: Attac-Freunde, das könnt ihr euch nicht bieten lassen! | |
Gauck sagte weiterhin, die Montagsdemos gegen Sozialkürzungen seien nicht | |
mit der Freiheitsbewegung in der DDR zu vergleichen. Hartz-IVler, jetzt | |
erst recht auf die Straße! Gauck bezeichnete gar Thilo Sarrazins Bestseller | |
als "mutig". Allerdings hat er sich auch von dessen rassistischen Thesen | |
deutlich distanziert. Dennoch: Antirassistische Initiativen, protestiert! | |
Kaum also ist Joachim Gauck für das höchste Staatsamt gekürt, tut die linke | |
Szene das, was sie am besten kann: Sie ist beleidigt. Wie kann ein Mann es | |
nur wagen, ihre menschheitsbeglückenden Pläne infrage zu stellen? Das muss | |
doch ein gefährlicher Reaktionär sein! | |
## Gauck ist kein Sprechautomat | |
Ja, Joachim Gauck hat gewagt zu sagen, was er gerade denkt. Und zweifellos | |
sind dabei seinem Kopf dabei auch einige Gedanken entsprungen, die man | |
überhaupt nicht teilen muss. Joachim Gauck hat übrigens noch vieles andere | |
gesagt, aber darüber mag man sich nicht recht aufregen, und deshalb muss | |
man sich darüber auch keinen Gedanken machen. | |
Wünschen Sie sich lieber einen dieser angepassten Politjunkies mit | |
15-jähriger Erfahrung als Unterbezirksvorsitzender? Einen Sprechautomaten, | |
der garantiert nicht aneckt, weil er gar nichts sagt, was anecken könnte, | |
weil er nämlich überhaupt nichts sagen kann, was in irgendeiner Form auch | |
nur anecken könnte, weil sein Schädel von jedwedem krummen Gedanken befreit | |
ist? So ein richtig schöner angepasster Langweiler vom Schlage Wulff, nur | |
ohne Freundschaftsdienste? | |
Der Autor dieser Zeilen ist weit davon entfernt, Stuttgarter | |
Bahnhofsneubauten zu begrüßen, Hartz IV zu lieben oder gar an Sarrazins | |
wirren Thesen irgendetwas Positives zu entdecken. Aber darum geht es gar | |
nicht. Das Amt des Bundespräsidenten beinhaltet nämlich keine | |
Entscheidungsbefugnisse über Bahnhofsneubauten. Der Amtsinhaber hat | |
überhaupt keine Entscheidungsbefugnisse. Seine einzige Aufgabe besteht | |
darin, in diesem Land die Demokratie zu fördern. | |
Und dazu gehört vor allen Dingen eins: Streit. | |
## Unterentwickelte Tugend | |
Mit Joachim Gauck kommt da ein Mann, der genau für diese, in Deutschland | |
leider stark unterentwickelte Tugend steht. Er stellt vermeintliche | |
Wahrheiten in Frage. Er redet nicht um den heißen Brei herum, beglückt | |
nicht jeden und keinen mit nichtssagenden Allerweltsweisheiten, auf dass | |
niemand aus den Reden irgendwelche Konsequenzen zu ziehen glauben muss. | |
Gauck provoziert. | |
Nun ist der kommende Bundespräsident zweifellos ein Konservativer, der von | |
manchen Dingen keine Ahnung haben mag, aber dennoch seine Meinung gerne zum | |
Besten gibt (es soll Linke geben, die ganz ähnlich veranlagt sind). Einer, | |
der, geprägt von der Diktatur in der DDR, individuelle Freiheiten besonders | |
wertschätzt, dafür aber im Gegenteil eher selten von Solidarität und | |
alltäglicher Armut in diesem Land gesprochen hat. Auch kann ihm keine | |
besondere Affinität zu Migranten nachgesagt werden, ebenso wenig wie | |
tiefere Kenntnisse in Fragen der Atommüllendlagerung. Und schließlich ist | |
Gauck eine gewisse Eitelkeit nicht abzusprechen. | |
Aber die Reaktion mancher Kritiker, Gauck aufgrund seiner persönlichen | |
Geschichte vom Bürgerrechtler zu einem Antidemokraten umzudefinieren, ist | |
nicht nur falsch - sie wirft auch ein bezeichnendes Licht auf die Urheber | |
dieser Behauptung. Ein Mann, der gegen den Spießer-Sozialismus angekämpft | |
hat, dessen Leben von der Stasi ausgehorcht wurde und dem man seinen | |
Berufswunsch vereitelt hat, der wird nicht zum Freund linksautoritärer | |
Staatsgläubiger. | |
Wenn seine Kritiker nun unzusammenhängende Schnipsel seiner Ansichten | |
aufsammeln, ist es offenbar ihr Ziel, Gauck zum platten Antikommunisten und | |
Wendehals zu dämonisieren. Der Verdacht liegt nahe, dass dies auch deshalb | |
geschieht, weil er ein ostdeutscher Pfarrer war. Eine intellektuelle | |
Auseinandersetzung sieht jedenfalls anders aus. Oder haben diese Kritiker | |
etwa Angst davor, diese Auseinandersetzung zu verlieren? | |
## Salz in der Harmoniesoße | |
Gauck kann streiten. Das sollte man nicht mit Spalten verwechseln. Anstatt | |
den Mann zu fürchten und ihn schon vor seiner Amtseinführung zum Beelzebub | |
im Priesterrock zu erklären, sollten wir uns auf diesen Streit freuen. | |
Gauck ist befähigt, etwas weniger schnarchsackschlafmützige Reden zu halten | |
als diverse seiner Vorgänger. Das wäre schon ein großer Fortschritt in | |
einem Land, das am liebsten in Harmoniesoße kocht. Vielleicht ist er nicht | |
ganz so langweilig wie erschreckend viele Vertreter der | |
Berufspolitikerkaste. | |
Das könnten wahrlich interessante Zeiten werden. Und möglicherweise werden | |
sich schon bald manche konservative Politiker, denen Gauck scheinbar so ans | |
Herz gewachsen ist, zu wundern beginnen. Denn Gauck, so viel ist sicher, | |
redet keinem nach dem Mund. Übrigens ist es auch nicht völlig | |
auszuschließen, dass er seine Meinung zur Occupy-Bewegung gelegentlich | |
ändern könnte. | |
Nein, Joachim Gauck ist kein Heilsbringer, wie manche seiner Fans zu | |
glauben scheinen, aber genauso wenig ist er ein furchteinflößender | |
Gottseibeiuns. Das kann er auch gar nicht werden, einfach deshalb, weil das | |
Amt des Bundespräsidenten ziemlich unwichtig ist. Es geht um zwei, | |
höchstens drei Reden im Jahr, von denen wir erwarten dürfen, dass sie den | |
intellektuellen Diskurs befördern, statt gestanzte Lehren zu verbreiten. | |
Im Übrigen wäre die Wahl einer vernünftigen Frau zur nächsten | |
Bundespräsidentin natürlich viel besser. | |
22 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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