# taz.de -- Crowdworker in Deutschland: Digitale Geister-Arbeiter | |
> Michael Neundorf arbeitet in seiner Freizeit und muss sich verstecken. | |
> Adrian P. mag die Freiheit im Job, aber eine Altersvorsorge hat er nicht. | |
Bild: Schilder fotografieren: „Streetspottr“ Michael Neundorf bei der Arbei… | |
MAGDEBURG/BERLIN taz | Michael Neundorf ist überrascht, dass er doch | |
erkannt wird. Neundorf, altersloses Gesicht, grauer Mantel, Jeans, grau | |
auch die Sneaker, selbst die Augen passen zum Farbschema, sieht so | |
unauffällig aus wie nötig für so einen Job. Neundorf ist 32 Jahre alt und | |
„Streetspotr“. Ein Kunstbegriff, hinter dem sich etwas so Banales verbirgt | |
wie Pappaufsteller und Auslagen in Supermärkten, in Drogeriemärkten, vor | |
Geschäften zu fotografieren. Neundorf soll kontrollieren, ob Werbung und | |
Produkte so präsentiert werden, wie sich die Hersteller das vorstellen. Sie | |
beauftragen ihn über eine App, die solche Kleinstaufträge vermittelt. | |
Seit etwa vier Jahren arbeitet Neundorf nun solche Aufträge ab, 1.000 hat | |
er erledigt. Oft muss Neundorf heimlich knipsen. Er spricht von | |
Nervenkitzel, wenn er über seine Arbeit spricht. Über Adrenalin, das ihn | |
motiviert. Wenn Neundorf loszieht, erledigt er meist mehrere Jobs am Stück. | |
Seine Routen plant er zu Hause, dann schwingt sich der schmächtige | |
Magdeburger auf sein Rad. Die Arbeits-Schnipsel erledigt Neundorf in seiner | |
Freizeit. | |
Warum eigentlich? | |
„Männer sind Jäger und Sammler!“, erklärt Neundorf seinen Antrieb. Das | |
glauben auch die Firmen hinter Apps wie Streetspotr zu wissen. Sie machen | |
die Arbeit zum Spiel. Digitale Schnitzeljagd klingt besser als Jobben unter | |
dem Mindestlohn. In der Arbeitsforschung heißt dieser Trick Gamification. | |
Michael Neundorf hat sich bei Streetspotr bunte Abzeichen verdient: Ein | |
giftgrün leuchtendes Bildchen in der App weist ihn als „Streetburner“ aus, | |
seitdem er zwanzig Orte in fünf Tagen abgearbeitet hat. Ein rotes Emblem | |
zeigt eine Figur mit Lorbeerkranz, Siegerpokal und Krone – die | |
„Veteran“-Auszeichnung wurde nach Neundorfs fünfhundertstem Auftrag | |
freigeschaltet. | |
## Die Arbeit wird in kleinste Splitter verteilt | |
Die Auftraggeber sind meist große Unternehmen wie Telekom, Honda, PayPal. | |
Die Crowdworking-Firmen sind ihre Zwischenhändler: Sie zerstückeln die | |
großen Aufgaben in Arbeitssplitter, sogenannte Micro-Tasks. Manchmal | |
versteht man als Crowdworker gar nicht, was hinter einem Arbeitsauftrag | |
eigentlich steckt. Wer scheinbar sinnlos Grimassen vor dem Handy schneiden | |
soll, bringt vielleicht einer automatischen Gesichtserkennung bei, wie | |
Emotionen aussehen. | |
Viele Aufgaben drehen sich um Texte: Produktbeschreibungen, Korrekturen, | |
Chat-Bots trainieren. Die Jobs versprechen leicht verdientes Geld, | |
Home-Office und flexible Arbeitszeiten. Gut bezahlt sind sie nicht. Die | |
Fluktuation ist dementsprechend hoch: „Es gibt kaum jemanden, der das auf | |
Dauer macht“, teilt die Firma Clickworker.de mit. Darüber, wie viele | |
solcher Crowdworker es gibt, existieren keine Zahlen, nur Hochrechnungen: | |
Mehr als 300.000 sollen es in Deutschland sein. Darunter: vorübergehend | |
Arbeitslose, Studierende, Menschen, die phasenweise viel Zeit haben. Die | |
Gewerkschaft Verdi nimmt an, dass die Branche wächst. | |
Heute muss Neundorf sich nicht verstecken. Seine Aufgabe: ein Schild an | |
einer Baustelle fotografieren, direkt am Magdeburger Dom. Hier entsteht ein | |
Plattenbau. Für so eine große Baustelle ist es ziemlich ruhig. Nur | |
vereinzelt blitzen orange Warnwesten aus dem Grau. Hammerschläge übertönen | |
den Verkehr der nahen Hauptstraße. Öffentlicher Raum. Alles entspannt also. | |
Hier darf jeder Fotos machen. Neundorf findet das Schild schnell, knipst | |
und lädt das Bild in seiner App hoch. Zack, 2,50 Euro verdient. | |
Insgesamt macht Neundorf 20 bis 50 Euro im Monat mit seinem Arbeitshobby. | |
Seiner Hobbyarbeit. Sein erstes Smartphone hat er sich extra für den Job | |
gekauft – und die Gewinne mittlerweile in ein neueres Modell investiert, | |
das den Anforderungen besser gewachsen ist: „Schnelles GPS, guter Akku, ’ne | |
sehr gute Kamera und vor allem geräuschlos beim Fotografieren“, sagt | |
Neundorf. Vor Jahren hatte er auch mal probiert, Textaufträge zu | |
übernehmen, merkte aber schnell: „Schreiben ist gar nicht mein Ding!“ | |
## Mit Phrasen Geld verdienen: der Werbetexter | |
Für Adrian P. ist das Schreiben dagegen eine Leidenschaft. „Man kann schon | |
sagen, ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht“, sagt der 53-Jährige. Zum | |
Crowdworking kam er im Jahr 2011 zufällig. Damals war er arbeitslos und | |
wollte etwas dazuverdienen. P. zeigt am Rechner, wie sich seine Einnahmen | |
entwickelt haben. Bunte Excel-Tabellen, in denen die Erträge stetig | |
steigen. Was als Nebenverdienst begann ist heute sein einziges Einkommen. | |
Am meisten verdient er mit Branchenverzeichnissen. P. schreibt kleine | |
Werbetexte für Firmen, die sich damit im Internet präsentieren können. | |
„Diese Texte kann ich superschnell schreiben“, sagt er und runzelt die | |
Stirn: „Im Grunde ist das echter Schrott, ziemliche B-Texte.“ | |
Den Kunden verspricht P. genau das Gegenteil: „Wenn ich Texte für Friseure | |
schreibe, nehmen die sich immer ,extra viel Zeit für dich' und achten auf | |
,deinen individuellen Stil'. Die bieten auch immer eine ,Auszeit vom | |
Alltag', das ist auch wichtig.“ Phrasen, die funktionieren. Dem | |
Auftraggeber ist der Anspruch der Texte egal, solange die Kunden zufrieden | |
sind. Für komplexere Aufgaben setze sich Qualität am Ende aber immer durch, | |
ist P. überzeugt. Trotzdem fragt er sich oft, ob geistige und kreative | |
Arbeit noch eine Zukunft haben: „Alles, was du digitalisieren kannst, ist | |
nur noch ein Zehntel wert.“ | |
Eigentlich wollte Adrian P. immer Popstar werden. Rampenlicht. Kreative | |
Explosionen. Anerkennung der Kritiker, vielleicht ein bisschen Ruhm. Das | |
hat nicht so gut geklappt. P. sitzt an diesem Mittwoch ganz in Schwarz an | |
seinem Schreibtisch in seiner Wohnung in Neumünster und korrigiert einen | |
Text einer Autorin, die er nicht kennt und auch nie kennenlernen wird. Im | |
Text geht es um Sicherheitsschuhe. Das Wort kommt gleich zehnmal vor, damit | |
Suchmaschinen den Artikel möglichst unter den ersten Suchergebnissen | |
anzeigen. Wer sich nicht unbedingt für die Geschichte und den Nutzen von | |
Arbeitsschuhen interessiert, fände den Text nicht sonderlich spannend. | |
P. hat sein Arbeitsleben lang danach gesucht, was wirklich seine Aufgabe | |
ist. Er war Sachbearbeiter im Arbeitsamt, Rechtsanwalt und Fahrradkurier. | |
Erst gute Noten im Jura-Studium, dann eine RX100-Gangschaltung am Rad. | |
Schlau und schnell. Erst der vernünftige Weg, dann die Erfüllung eines | |
Jugendtraums. Ein Loslassen nach einem Nervenzusammenbruch. „Ich habe dann | |
so ziemlich mein Leben geändert“, sagt P., und ein bisschen klingt es so, | |
als wäre er erstaunt, wie gut das geklappt hat. In seiner Zeit als | |
Fahrradkurier lernte P. seine Frau Maike kennen. Im Kieler Landesmuseum | |
leitet sie eine Abteilung, ist damit Hauptverdienerin im Haushalt. Adrian | |
P. arbeitet 30 Stunden und kümmert sich ansonsten um den Haushalt und den | |
gemeinsamen Sohn Tim. | |
Die Autorin des Textes über Sicherheitsschuhe bleibt für Adrian P. anonym, | |
obwohl sie gewissermaßen seine Arbeitskollegin ist. Die Aufträge bekommen | |
beide über das Internetportal Textbroker. Aus einer Liste können sich | |
angemeldete Nutzer Jobs aussuchen. Welche Firma dahintersteht, wird nicht | |
immer verraten. Oft nicht einmal, für welchen Zweck ein Beitrag geschrieben | |
werden soll. Will ein Unternehmen zum Beispiel einen Blog zu seinen | |
Produkten einrichten, wird jeder benötigte Text einzeln als Auftrag | |
ausgeschrieben. Ein paar Euro gibt es jeweils zu verdienen. Das | |
anschließende Lektorat der Artikel läuft genauso ab – Aufgaben, bis ins | |
Kleinste zerlegt, für Kleinsthonorare. | |
P. findet im Arbeitsschuh-Text keine Fehler. „Schöner Text“, schreibt er in | |
das Bewertungsfeld. Ein Klick, der Beitrag ist weggeschickt. 4,79 Euro | |
verdient. Die nächsten Micro-Tasks warten schon. Der Blick für das große | |
Ganze geht so verloren: Crowdworker arbeiten nicht, weil sie von einem | |
Produkt, einem Unternehmen, ihrem Arbeitgeber überzeugt sind. Sondern nur | |
für sich selbst. | |
Sie sind dabei so verschieden wie ihre Aufgaben: Selbstständige, | |
Angestellte, Arbeitslose. Viele wollen zwar über ihre Arbeit sprechen, aber | |
anonym bleiben. Da gibt es die 56-Jährige, die monatlich 100 Stunden in der | |
Pflege arbeitet und sich mit ihren Texten eine neue Waschmaschine | |
dazuverdient. Den Hausmann, der sieben Stunden am Tag für neun verschiedene | |
Plattformen aktiv ist, nicht mehr als 400 Euro im Monat bekommt und sich | |
darüber ziemlich ärgert. Oder den Studenten, dem finanzielle Nöte fremd | |
sind: „Da auf der einen Seite mein Studium überdurchschnittlich aufwendig | |
ist und andererseits meine ökonomische Realität es nicht erforderlich | |
macht, einen ,normalen' Studentenjob zu suchen, verdiene ich mein eigenes | |
Einkommen sozusagen primär mittels Crowdworkingplattformen“, schreibt er. | |
Er verdiene allerdings nur ein paar Euro im Monat damit. | |
Für Adrian P. wäre das nicht genug. Er versucht, seinen täglichen Schnitt | |
zu halten: „Wenn ich 50 Euro pro Tag erreiche, ist es okay“, sagt P.. Das | |
Abrechnen pro Tag ist für ihn angenehmer als das Monatsziel von 1.000 Euro: | |
„Dann müsste ich immer wieder diesen Berg erklimmen.“ Für heute ist sein | |
Soll erfüllt: Eine Crowdsourcing-Plattform hat ihm 50 Euro versprochen, | |
damit er für diesen Text einen Einblick in sein Leben als Klickarbeiter | |
gibt. „Eine übliche Praxis“, heißt es dazu aus der Firma Clickworker.de, | |
für die P. schreibt, „sonst hätte sich wohl keiner gemeldet“. | |
## Kein Mindestlohn, keine Sozialversicherung | |
Die Mitarbeiterin der Plattform gibt zu verstehen, sie wisse, dass Berichte | |
über Crowdworking häufig sehr kritisch seien: Mindestlohn, | |
Sozialversicherung und so weiter. So etwas gibt es nämlich nicht. Die | |
Gewerkschaften würden da immer Druck machen, hätten aber vielfach keine | |
Ahnung von der Materie. Man treffe sich regelmäßig zu Gesprächen und habe | |
Mindeststandards vereinbart, für die Praxis sei das aber nicht | |
entscheidend. Langfristig werde es ohnehin mehr Crowdworking geben, wenn | |
das Phänomen bekannter werde: „Auch nach negativer Berichterstattung merken | |
wir einen positiven Resteffekt.“ | |
Obwohl die Geister-Arbeiter aus allen Schichten der Gesellschaft kommen, | |
ist Crowdwork in Deutschland noch keine Massenbewegung. Die Arbeit läuft | |
still und leise ab, und die Debatten finden in verschlossenen Räumen statt: | |
Die Gewerkschaften verhandeln mit den Plattformen über Standards und | |
Regulierung. Unternehmen überlegen in internen Konferenzen, wie sie das | |
Geschäftsmodell für sich nutzen können. | |
Wer das Arbeitsmodell doch kennt, hat meist direkt ein Bild vor Augen: Ein | |
Männerrücken krümmt sich einem Bildschirm entgegen. Die digitalen | |
Tagelöhner kennen das Klischee: „Jeder Beitrag in den Medien beginnt ja | |
immer gleich“, sagt eine von ihnen am Telefon und spricht mit verstellter, | |
tiefer Stimme, wie in einem Trailer für einen Actionfilm: „Jürgen sitzt | |
alleine in einem dunklen Zimmer. Er ist Crowdworker.“ | |
Sophie Winter aus Halle ist ausgebildete Schauspielerin. In der Crowd | |
arbeitet die 28-Jährige nur nebenbei. Unter zehn Euro Stundenlohn fängt sie | |
gar nicht erst an. „Mehr als eine Ergänzung darf es nicht sein“, sagt | |
Winter. Sie wundert sich, warum sich gut ausgebildete Menschen wie Adrian | |
P. den Hungerlohn in Vollzeit antun, erst recht diejenigen, die immer | |
fleißig, immer akkurat, also gut in ihrem Jobs sind: „Wer bei den | |
Plattformen die höchste Einstufung schafft, muss schon wirklich schlau und | |
schnell sein. Wer das kann, kann auch andere Jobs machen.“ | |
Michael Neundorf, der Mann mit dem Smartphone aus Magdeburg, hat heute | |
keine Zeit mehr, um weitere Aufträge anzunehmen. Er muss nun arbeiten. | |
Eigentlich ist Neundorf Drucker, ganz klassisch. Crowdworker würde er sich | |
nie nennen. | |
Auch Adrian P. nennt sich lieber Texter. Aus dem angegrauten Mittfünfziger | |
wird wohl kein Popstar mehr werden, aber die Musik ist ihm geblieben: Im | |
Arbeitszimmer steht nicht nur der Computer, sondern auch der elektrische | |
Kontrabass. Zwischen Geschäftsbriefen stapeln sich Notenblätter auf seinem | |
Schreibtisch. Alltag und Arbeit vermischen sich bei P. überall und ständig. | |
Der Abend naht, P. bringt seinen Sohn zur Musikschule. Während der sich mit | |
dem Klavier abmüht, sitzt P. auf dem Flur, öffnet seinen Laptop und | |
beginnt, zu schreiben. Ein Saxofon quäkt, ein Flöte trillert, dazwischen | |
quietscht eine Geige. | |
P. sagt: „Am Ende geht es doch den meisten um Geld.“ Ihm nicht. Er ist mit | |
den 1.000 Euro netto zufrieden, die er jeden Monat mit seinen Mikro-Jobs | |
verdient. P. kann von seinen Einkünften bescheiden leben. Ausgebeutet fühlt | |
er sich nicht. Er sieht nicht die kleine Summe, sondern vor allem die | |
gewonnene Freiheit. | |
Er kann sich sogar vorstellen, noch im Rentenalter Texte im Internet zu | |
verkaufen. Vielleicht, weil er es muss: Mehr als 500 Euro wird seine Rente | |
wohl nicht betragen. Als das Gespräch auf den Vorsorgeplan für die Zukunft | |
kommt, muss er lachen: „Meine Frau ist meine Altersvorsorge“, sagt er. | |
„Maike ist 16 Jahre jünger als ich, wenn ich in Rente gehe, ist sie 51 und | |
arbeitet noch 16 Jahre. Und dann bin ich statistisch tot.“ | |
24 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Christoph Koitka | |
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