# taz.de -- Coronavirus in Belgien: Wenig Masken, viele Tote | |
> In keinem Land sterben, gemessen an der Bevölkerung, so viele Menschen an | |
> Covid-19 wie in Belgien. Jetzt kommen Lockerungen – und vielleicht | |
> Streiks. | |
Bild: Der leerste 1. Mai seit dem Zweiten Weltkrieg: Grand Place, Brüssel | |
BRÜSSEL/SCHAERBEEK taz | Seit dem Zweiten Weltkrieg hat Brüssel keinen so | |
traurigen 1. Mai erlebt. Die traditionellen Maiglöckchen-Verkäufer sind | |
fort – man hat ihnen Geldstrafen von 750 Euro angedroht, sollten sie wie | |
sonst ihre Blumensträuße anbieten. Der Große Platz von Brüssel ist am | |
Vormittag völlig leer, eine einzelne Joggerin ausgenommen. Nur die | |
„Fritkots“, die Frittenbuden, haben geöffnet. | |
Nirgends auf der Welt sind, gemessen an der Bevölkerungszahl, so viele | |
Menschen an Covid-19 gestorben wie in Belgien – 68 pro 100.000 Einwohner, | |
insgesamt bis Sonntag 7.844 Tote, mehr als im siebenmal größeren | |
Deutschland. [1][Die Behörden sagen], da seien anders als in anderen | |
Ländern auch bloße Verdachtsfälle aus Altenheimen mitgezählt – dennoch | |
liegt dieser Rekord wie eine Last auf dem Land. | |
Am 4. Mai sollen nun erste Lockerungsmaßnahmen in Kraft treten. Bislang | |
befand sich Belgien bei der Schärfe der Corona-Maßnahmen irgendwo zwischen | |
Deutschland und Frankreich. Anders als [2][in Frankreich] sind die Parks | |
nicht geschlossen, und wer vor die Tür will, muss keinen schriftlichen | |
Passierschein mit Datum und Uhrzeit, Ziel und Bewegungsgrund mitführen. | |
Doch sollen die Menschen ihre Gemeinde nicht verlassen – und Brüssel | |
besteht aus 19 separaten Gemeinden. Kontrolliert werden vor allem | |
Autofahrer. Neulich am Place Collignon in Schaerbeek erhielt ein Fahrer aus | |
einer anderen Gemeinde ein Bußgeld von 135 Euro. Eine Frau an einer | |
Straßenbahnhaltestelle wurde ebenfalls bestraft, weil die Polizei ihren | |
Reisegrund nicht für triftig hielt. Fußgänger und Radfahrer kommen meistens | |
davon. | |
In den Parks hingegen dürfen sich die Leute drängeln und manche | |
Spaziergänger haben nicht einmal ihre Hunde im Griff. Abstandsregeln? Na | |
ja. | |
## Höchste Zeit für Lockerung | |
Ähnlich verhält es sich im kongolesischen Stadtviertel Matonge. „Die | |
Polizei guckt nicht mal nach, man könnte meinen, dass es | |
Lockdown-Privilegien gibt“, mault eine Anwohnerin in Ixelles. Ein | |
US-Universitätsprofessor, der in Brüssel festsitzt, fühlt sich an den | |
letzten autofreien Tag im September erinnert, als Radfahrer und Fußgänger | |
sich ungehemmt den öffentlichen Raum wieder aneigneten. | |
Es ist höchste Zeit, dass sich die Lage wieder ändert, denn die Leute | |
halten die Regeln immer weniger aus. Schon am 11. April gab es [3][Unruhen | |
in Anderlecht] im Süden von Brüssel, wo Jugendliche die Polizei für den Tod | |
eines 19-jährigen Motorradfahrers auf der Flucht vor einer Polizeikontrolle | |
veranwortlich machten. Viele Jugendliche in ärmeren Vierteln leben mit | |
ihren Großfamilien in engen Sozialwohnungen ohne Internetanschluss – kein | |
Wunder, dass sie ständig draußen sind. | |
Der Beginn des islamischen Fastenmonats Ramadan am 24. April führte | |
allerdings zu keinerlei Zwischenfällen in den üblichen Brennpunkten | |
[4][Molenbeek] und Schaerbeek. | |
Die Stimmung ist schlecht, weil die Leute die Härte der Zwangsmaßnahmen auf | |
Fehlentscheidungen der Behörden zurückführen. Wieso ließ | |
Gesundheitsministerin Maggie De Block 6 Millionen teure FFP2-Schutzmasken | |
zerstören, weil ihr Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen war, ohne sie zu | |
ersetzen? Wieso hat die Regierung 284 Exportlizenzen für Masken erteilt, | |
unter anderem nach Monaco, während sie in Belgien selbst Mangelware sind? | |
Und dient die mögliche Einführung einer Tracing-App auf Smartphones nicht | |
eher der verstärkten staatlichen Kontrolle? In Schaerbeek tauchen erste | |
anonyme politische Plakate auf: „Big Corona Is Watching You“ steht auf | |
einem, auf einem anderen: „Ich kämpfe lieber für das Leben, als mich | |
einzuschließen“. In Saint-Gilles ist zu lesen: „Der Kapitalismus ist das | |
Virus“. | |
## Manneken Pis mal mit und mal ohne Maske | |
In diesem Kontext können die Belgier jetzt aufatmen, sofern sie dabei eine | |
Maske tragen: Ab Montag sind Straßenbahnen und U-Bahn wieder ohne | |
Einschränkung nutzbar, aber mit Maskenpflicht für alle über 12-Jährigen. | |
Auch einige Läden öffnen wieder, zum Beispiel für Masken – die meisten | |
Geschäfte öffnen erst ab 11. Mai. Sport zu zweit ohne Kontakt, wie | |
Kajakfahren oder Angeln oder auch Tennis, wird wieder erlaubt. | |
Ab dem 18. Mai kommen Friseure und private Versammlungen von bis zu zehn | |
Menschen dran. Schulen und Strände werden wieder geöffnet. Bars und | |
Restaurants allerdings müssen bis zum 8. Juni warten, dramatisch in einem | |
Land mit über 1.000 Biersorten. | |
Mangel an Masken ist das größte Hindernis. Die Regierung hat versprochen, | |
dass alle Bürger Masken bekommen, und manche Städte wie Lüttich setzen das | |
um, aber in anderen wie Brüssel ist es noch nicht so weit. Nur sechs von | |
zehn Belgiern sind mit Masken ausgestattet. Nicht einmal der berühmte | |
Manneken Pis, Symbol Brüssels in der Welt, trug am 1. Mai eine Maske. | |
Vermutlich ein Kommunikationsproblem. | |
Zum Glück füllen die türkischen Einzelhändler die Versorgungslücken, nicht | |
nur bei Masken, auch bei Gummihandschuhen und ähnlicher Schutzausrüstung. | |
Ein besonderes Problem wird sofort aktuell. Laut Verordnung dürfen ab jetzt | |
höchstens 25 Fahrgäste in einer Straßenbahn sitzen und höchstens 19 in | |
einem Bus. Die Gewerkschaft des Fahrpersonals in Wallonien findet diese | |
Obergrenzen zu hoch und fordert jeweils 20 und 12. Die Freigabe des | |
öffentlichen Nahverkehrs könnte mit einem Streik beginnen. | |
4 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
François Misser | |
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