# taz.de -- Charlotte Roches „Mädchen für alles“: Es muss bluten und ausa… | |
> In Charlotte Roches neuem Roman lässt eine junge Mutter Mann und Kind | |
> zurück – und brennt mit der Babysitterin durch. | |
Bild: Eine Frau und ganz viel Tristesse: so wie in Charlotte Roches neuem Roman. | |
Über eine Frau, die Christine Schneider heißt, kann ja erst mal gedacht | |
werden: Die hat Ordnung im Sinn. Die hat gebügelte Blusen im Schrank und | |
einen vollen Kühlschrank. „Die Chrissi, die hat sich im Griff“, könnte ü… | |
eine solche Frau gesagt werden. „Die macht ihre Sache gut.“ | |
Natürlich macht eine Chrissi, die Charlotte Roche entwirft, ihre Sache | |
nicht gut. Charlotte Roche entwirft keine Durchschnittscharaktere, sie | |
entwirft Kontraste, bei ihr muss es triefen und bluten, eitern und ausarten | |
– und das, am besten, auf dem Höhepunkt der Langeweile. Es muss um Sekrete | |
und Abgründe gehen, um Hass und Verletzlichkeit und um Sex und um Sex und | |
um Sex. | |
Die Chrissi in Roches neuem Roman führt also nur vordergründig ein | |
gewöhnliches Leben mit Baby, Mann und Haus. Ihr wahres Leben ist ihr | |
Innenleben, und aus dem erzählt sie, freimütig, wild und prollig: „Mädchen | |
für alles“ ist der 237-Seiten-Monolog einer Frau, die sich selbst zu viel | |
wird und in ihren Dreißigern nochmal pubertiert. Das Kind scheint ihr egal | |
zu sein und noch von ihrem Ex zu stammen; ihr Mann ist ein Loser, der im | |
Internet rumhängt und „mit Freunden twittert“ – da kommt die neue | |
Babysitterin gerade recht. Rosig und frisch steht sie in Chrissis Küche wie | |
eine Epiphanie. Chrissi schnappt sich die Babysitterin und stürzt sich in | |
eine lesbische Affäre, bevor ihr Mann sich die Babysitterin schnappen kann. | |
Zu zweit rennen sie aus dem Alltag: die Mittelalte und die Junge. Es hagelt | |
schmutzige Szenen in Zügen und Hotels. Es wird nach München und Madrid | |
gereist. Es werden Rachefeldzüge gegen die Eltern geplant, die schließlich | |
schuld sein müssen an der eigenen Verkorkstheit. Es werden Menschen benutzt | |
wie Geschirr. | |
## Eine Figur, mit der man lieber nichts zu tun haben will | |
„Mädchen für alles“ ist kein besonders lustiges Buch, und es ist schwer zu | |
sagen, ob es das überhaupt sein soll. Humor bedeutet hier Klamauk; | |
Situationskomik wird erdrückt von einer Sprache, die sich stellenweise | |
liest, als habe man sie zur Coolness gepeitscht. Bei aller Schwierigkeit, | |
eine Antiheldin zu erschaffen – und so gern man diese mögen würde: In ihrer | |
Tristesse bleibt Chrissi bis zum Ende eine Figur, mit der man lieber nichts | |
zu tun haben will. Sie ist süchtig nach Koks, Bier und Tavor, überprüft | |
mehrfach, dass alle Vorhänge fest zugezogen sind, bevor sie masturbiert; | |
sie weiß um ihre Neurosen und um ihre Depression und hält es trotzdem für | |
normal, tagelang in der Dunkelheit zu liegen und Serien zu inhalieren. Sie | |
zieht Wissen aus Serien, zieht Nähe aus Serien; Seriencharaktere sind ihre | |
Freunde, eigentlich sind sie ihr Familienersatz – ihre „Wahlverwandten“, | |
wie es direkt im ersten Absatz heißt. | |
Ein bisschen wehmütig denkt man da an die Leichtigkeit des Mädchens aus | |
„Feuchtgebiete“, Roches Skandaldebüt von 2008, aus dem so viel hängen | |
blieb: die Avocados und die Kakteen, der Tampontausch unter Freundinnen. | |
Man vermisst plötzlich die 18-Jährige von damals, hungert nach der | |
Fähigkeit einer Figur, die noch zur Schule ging: nach der Fähigkeit zur | |
Selbstreflexion. | |
Denn obwohl Chrissis Geschichte mit den Seiten Fahrt aufnimmt, sich spürbar | |
zum Exzess steigert und man diesen Roman auch nicht weglegen wird, bevor | |
der Exzess weggelesen ist: bietet das Innenleben der Christine Schneider | |
erschreckend wenig Stoff. Eine Frau kommt nicht mit sich klar, nicht mit | |
ihrem Alter klar, nicht mit ihrer Mutterrolle klar, nicht mit ihrer | |
Verantwortung klar – und betäubt sich mit Ablenkung. Sie entschuldigt sich | |
für nichts, sie lügt und kränkt, ist feige und einsam, sie übertrinkt ihre | |
Zweifel und überschnieft ihre Skrupel. „Der Kopf verzettelt sich in selbst | |
bestrafenden Gedanken. Na ja. Auch kein Grund aufzuhören, eigentlich.“ | |
Schade, eigentlich. Dass man versuchen kann Zerrissenheit zu therapieren | |
und nicht als gen-gegeben hinnehmen muss, ist ja bekannt. Und dass man | |
seine Zeit nicht mit Losern verschwenden sollte – das auch. | |
15 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Annabelle Seubert | |
## TAGS | |
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Charlotte Roche | |
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